In Österreich gilt seit 1.1.2022 das Sterbeverfügungsgesetz (StVfG). In den ersten drei Monaten haben sich mittels Sterbeverfügung und Kooperation Dritter zwei Menschen das Leben genommen. Das geht aus einer Anfrage der Neos an Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) hervor (vgl. Die Presse, 2.6.2022). Die mediale Reaktion darauf war irritierend: „Verdächtig wenige Menschen“ hätten bislang die Beihilfe zum Suizid in Anspruch genommen. Der Staat müsse daher eingreifen und „ein eigenes Angebot“ zur Verwirklichung von Selbsttötungen schaffen. Der Zugang zur Sterbehilfe dürfe „nicht von der Moral anderer abhängen“, hieß es etwa im Standard (1.6.2022). Einen Arzt als Helfershelfer zum Suizid zu finden, sei mit „zu hohen Hürden“ verbunden. Der vom Schweizer Verein Dignitas engagierte Wiener Anwalt will das Gesetz erneut vor den VfGH bringen (vgl. TT, 5.6.2022).
Ist die Organisation von Tötungsoptionen tatsächlich Aufgabe des Staates? „Es macht stutzig, mit welcher Selbstverständlichkeit argumentiert wird, dass nicht mehr Suizidprävention, sondern Suizidkooperation Aufgabe des Staates sein soll“, sagt die Wiener Ethikerin Susanne Kummer. Im Editorial der aktuellen Ausgabe der medizinethischen Fachzeitschrift Imago Hominis Assistierter Suizid (2/2022) geht sie einigen der Thesen im laufenden Diskurs kritisch nach.
Gibt es überhaupt ein Recht auf Euthanasie oder assistierten Suizid? Genau das hat der EGMR im April 2022 im Urteil Lings v. Denmark zurückgewiesen (vgl. Bioethik aktuell, 12.4.2022). „Es gibt keinen ‚Versorgungsauftrag‘ des Staates, Suizide zu ermöglichen, und daher auch keine positive Verpflichtung, tödliche Präparate oder Personal zur Verfügung zu stellen“, betont die IMABE-Geschäftsführerin. Der Gesetzgeber stellt mit dem StVfG die Mitwirkung an Selbsttötungen unter bestimmten Auflagen straffrei. Aus der Duldung straffreier Mitwirkung an Selbsttötungen könne weder aus moralischen noch aus juristischen Gründen eine Pflicht zum Angebot des Staates auf Tötungen abgeleitet werden.
Die Sterbehilfe-Debatte gäbe sich „einen liberalen Anschein, doch sie trägt den Keim des Totalitären in sich“, zitiert Kummer den deutschen Philosophen Thomas S. Hoffmann.
Irritiert zeigt sich Kummer über die Diktion, es seien „verdächtig wenige“ Suizide nach einer Sterbeverfügung begangen worden. Was heißt „wenig“? Ab wann wären es "genügende"?
In den vergangenen 20 Jahren seien im Schnitt 3,7 Österreicher jährlich in die Schweiz gefahren , um sich dort (mit Unterstützung des Vereins Dignitas) das Leben zu nehmen. Die Debatte, ab wann es „genug assistierte Suizide“ sind, mutet eigenartig an. Das zeigt ein Blick in die Niederlande: Als dort 2018 ‚nur‘ 17 Menschen täglich (!) durch Euthanasie starben, war das dortige Parlament besorgt über den ‚Rückgang‘ gegenüber den Jahren zuvor. Inzwischen sind es wieder 19 pro Tag. „Ist das die Zukunft: Dass ein Gesundheitsminister sich dafür rechtfertigen muss, warum es in Österreich ‚nicht genug assistierte Suizide‘ gibt?", fragt Kummer kritisch nach.
Zu verlangen, dass Ärzte" ihre Grundüberzeugungen in der Moral-Garderobe abgeben sollen" und endlich dem Töten „wertneutral“ gegenüberstehen, sei ein Angriff auf einen freien Beruf. Schmerzen nehmen, Leiden lindern, Sterben zulassen zählen zum ärztlichen und pflegerischen Ethos – nicht aber das Töten. „Bleiben wir präzise: Es gibt ein Recht auf Leben. Es gibt ein Recht darauf, dass Sterben nicht unnötig verlängert, sondern zugelassen wird. Aber es gibt kein Recht auf Tötung“, so die Ethikerin.
Die ethische Argumentation zugunsten von Euthanasie und assistiertem Suizid lebe von verdeckten anthropologischen Prämissen, die weder der realen Situation schwerkranker und sterbender Patienten gerecht werden noch dem Menschen überhaupt. Im ethischen Diskurs hat sich das Konzept der 'relationalen Autonomie' bereits durchgesetzt. "Das Ich gewinnt sich am Du", zitiert Kummer den jüdischen Denker Martin Buber, und fügt hinzu: „oder es zerbricht in einem gesellschaftlichen Klima, das die Beihilfe zum Suizid zu einem geglückten Fall von Autonomie hochstilisiert.“