Die Diskussion, ob ein Lockdown der Gesundheit auch schaden könne, wird bereits seit Beginn der Corona-Pandemie geführt. Unabhängig davon, dass ein Lockdown in den meisten Ländern den Anstieg an Neuinfektionen mit dem Coronavirus und damit auch Todesfälle verhindert hat, geraten nun die negativen Effekte der Lockdown-Maßnahmen stärker in den Blickpunkt der Wissenschaft.
Die COVID-19-Krankheitslast lässt sich durch den Verlust an Lebensjahren durch Krankheit oder Tod ausdrücken. Verlust nach Lebensjahren, Years of Life Lost (YLL), heißt ein Konzept, das Fachleute für erste Bilanzierungen der Pandemie verwenden. Die Grundidee: Anstatt Todesfälle bloß aufzusummieren, sollte man auch das Alter von Covid-19-Patienten berücksichtigen. Dabei gehen beispielsweise durch Versterben im Alter von 40 Jahren deutlich mehr Lebensjahre verloren als bei Tod mit 80 Jahren.
Ein mit Corona verstorbener Mensch verlor (in Deutschland) im Mittel 9,6 Jahre seines Lebens, bei Menschen unter 70 Jahren waren es sogar 25,2 Jahre. Das geht aus einer aktuell im Deutschen Ärzteblatt publizierten Studie hervor (vgl. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 145-51; DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0147; ONLINE first). Weitere Ergebnisse der Analyse der Epidemiologen des Robert-Koch-Instituts (RKI): Die verlorene Lebenszeit durch eine Corona-Erkrankung fällt nach den Berechnungen 2020 insgesamt geringer aus als jene, die üblicherweise andere wichtige Todesursachen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebsleiden bewirken. Überraschend die Erkenntnis, wonach die Übersterblichkeit der COVID-19-Pandemie am Ende von 2020 (nur) so hoch war wie bei schweren Influenzawellen.
In der Studie hatten die Forscher die durchschnittliche Lebenserwartung in einem bestimmten Alter angenommen, Vorerkrankungen wurden allerdings nicht berücksichtigt. Sie stützten sich bei seinen Berechnungen auf Meldungen laborbestätigter Corona-Fälle an das RKI für 2020. Aus ihnen lässt sich neben Alter und Geschlecht auch entnehmen, ob Covid-19 im Fall eines Todes maßgeblich zum Tod beigetragen hat oder ob andere Todesursachen vorlagen. Kritisch merken die Studienautoren allerdings an, dass hierfür weiterführende Analysen nötig seien, denn: Bei Covid-19 müsse man von einem „multikausalen Sterbegeschehen ausgehen“. Sie kritisieren die „unikausale Erfassung“ der Todesursachen in Deutschland. Diese sei in dieser Hinsicht „problematisch“.
Und wie viele Lebensjahre haben die negativen Effekte der Lockdown-Maßnahmen gekostet?
Diese Frage hat sich etwa der britische Onkologe Karol Sikora gestellt. Durch versäumte Krebsvorsorge und unzureichende Krebsbehandlungen gingen der britischen Bevölkerung 26.000 Lebensjahre pro Monat Lockdown verloren, was mehr sein könnte als durch Covid-19-Schutzmaßnahmen gewonnen wurde, so die Autoren um Karol Sikora im European Journal of Clinical Oncology (Vol. 3, Issue 1, 001-003, Published date: January 29, 2021). Das hieße im Klartext: Man wäre in Summe ohne Lockdown sogar besser gefahren.
Im und nach dem Lockdown im Frühjahr 2020 hat es in Österreich wie in Deutschland weniger Krebsbehandlungen gegeben als in der gleichen Zeit 2019. Der Rückgang der stationären Aufnahmen für Diagnostik und/oder Therapien lag in Deutschland im Schnitt bei 10 bis 20 Prozent, legt eine im Oncology Research and Treatment (2021; 44: 71–74) publizierte Studie nahe. Laut Studienleiter Peter Reichardt, Onkologe und Palliativmediziner am Helios-Klinikum Berlin-Buch, waren Patienten über 75 Jahre besonders betroffen. Bei ihnen seien im Schnitt 20 Prozent weniger Behandlungen durchgeführt worden. Besonders bedenklich sei, dass es 2020 nicht deutlich weniger Krebserkrankungen gab, „sondern die Erkrankungen wahrscheinlich erst später festgestellt wurden“, erklärte Studienautor Reichardt. Gerade bei Krebs sei ein früher Therapiestart aber wichtig für die Überlebenschancen. Für die Studie wurden rund 69.000 Fälle von 75 Helios-Kliniken in 13 deutschen Bundesländern analysiert.
Inwiefern sich die beobachteten Veränderungen in der reduzierten Versorgung langfristig nachteilig auf die Behandlungsergebnisse im Sinne von Überlebensprognosen auswirken, werde sich in den kommenden Jahren weisen. Eine im Lancet veröffentlichte Studie (21:8, P1023-1034, August 01, 2020) stellte schon erste Berechnungen an, wonach durch die Verzögerung bei Frühdiagnosen und Therapien mehr Krebs-Todesfälle in Zukunft zu erwarten seien: In den kommenden fünf Jahren werde das die Sterblichkeit bei Brustkrebs um an die neun Prozent, bei Darmkrebs um etwa 15 Prozent, bei Lungenkrebs um fünf Prozent und bei Speiseröhrenkrebs ums sechs Prozent erhöhen. Unter dem Titel "The hidden costs of national lockdowns" bringt Lancet in einer aktuellen Zusammenschau die negativen Auswirkungen des Lockdowns zum Thema Herzgesundheit ( Volume 2, 100035, March 01, 2021) Demnach wurden in Europa und den USA deutlich weniger Herzinfarkte und andere akute Kreislauferkrankungen diagnostiziert.
Nicht nur der Körper, auch die Psyche hat gelitten: Eine Schweizer Untersuchung (European Psychiatry, 63:1, 2020, e58) kommt zu dem Schluss: Depressionen, soziale Isolation, Alkoholmissbrauch und andere mit den Restriktionen verbundene Nebeneffekte schlagen sich in der Gesundheitsbilanz messbar nieder und dürfen nicht außer Acht gelassen werden.