Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat das Verbot der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ für verfassungswidrig erklärt. Das bisherige gesetzliche Verbot der Hilfeleistung zum Suizid in §78 des Österreichischen Strafgesetzbuchs verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung, urteilte der VfGH (Urt. v. 11.12.2020, Az. G 139/2019). Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasse „sowohl das Recht auf die Gestaltung des Lebens als auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“. Es sei verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten, befanden die Richter. Die Tötung auf Verlangen sowie das Verleiten eines anderen zur Selbsttötung bleiben weiterhin strafbar.
Die neue Regelung ist mit 1.1.2022 wirksam. Bis dahin wird dem Gesetzgeber empfohlen, Maßnahmen zu treffen, um Missbrauch zu verhindern. Anlass für die Befassung des Verfassungsgerichtshofes mit dem Thema waren vier Anträge gegen die §77 und §78 StGB, die ein Wiener Anwalt mit Unterstützung des international agierenden Schweizer Sterbehilfevereins Dignitas eingebracht hatte.
Die Reaktionen auf die VfGH-Entscheidung waren bestürzt bis verhalten. Ein erster möglicher Sterbehilfe-Verein Österreichs sondiert schon: Die Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende (ÖGHL) zieht bereits in Erwägung, künftig die Möglichkeit der Mitwirkung am Suizid anzubieten.
Die Österreichische Ärztekammer bezeichnete die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs als „bedauerlich“. Es drohe die Gefahr, „dass ältere und kranke Menschen vermehrt unter Druck geraten, ihre Daseinsberechtigung und ihren Lebenswillen zu rechtfertigen“, warnte Präsident Thomas Szekeres. Kategorisch abzulehnen sei geschäftsorientierte Sterbehilfe durch private Unternehmen wie in Deutschland oder der Schweiz. Kein Arzt dürfe gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln und zur Tötung eines Menschen beizutragen.
Die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) forderte ein striktes Verbot kommerzieller Anbieter. Im Ö1 Journal Panorama (14.12.2020) wurde Herbert Watzke, Leiter der Palliativmedizinischen Abteilung an der MedUni Wien, noch konkreter: Ärzte und Gesundheitspersonal dürfe in keiner Weise in Selbsttötungen mitinvolviert werden, Beihilfe zum Suizid sei „keine ärztliche Tätigkeit“. Die Juristin Stephanie Merckens, Mitglied der Bioethikkommission, betont, dass angesichts des VfGH-Urteils der Gewissensvorbehalt für Individuen und Institutionen sichergestellt werden müsse.
Susanne Kummer, Geschäftsführerin von IMABE, sieht einen Erwartungsdruck auf Menschen in Krisensituationen zukommen, die körperlich oder seelisch, hochaltrig oder durch eine Behinderung beeinträchtigt sind. Mit der Option der Beihilfe zum Suizid gäbe man Menschen eine Botschaft: ‚Du kannst wählen, dass du anderen nicht zur Last fällst‘“, so die Ethikerin gegenüber der Wiener Zeitung (11.12.2020). Statt Tötungswünsche zu regulieren sollte der Staat sich um den Ausbau der Palliativversorgung und psychiatrischen Betreuung kümmern.
Die Vorsitzende des Dachverbandes Hospiz Österreich, Waltraut Klasnic, reagierte auf die Entscheidung der Richter mit Bestürzung. Die Entscheidung sei „schmerzlich“, erklärte Klasnic in einer ersten Reaktion. Umso wichtiger erachtete sie es nun, die Hospiz- und Palliativversorgung auszubauen und die Regelfinanzierung für die Palliativ- und Hospizbetreuung für Kinder und Erwachsene sicherzustellen.
Die katholischen Bischöfe sprachen von einem Kulturbruch. „Jeder Mensch in Österreich konnte bislang davon ausgehen, dass sein Leben als bedingungslos wertvoll erachtet wird - bis zu seinem natürlichen Tod“, erklärte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Salzburger Erzbischof Franz Lackner. Dieser gemeinsamen Auffassung habe das Gericht mit seiner Entscheidung eine wesentliche Grundlage entzogen. Vor dem Hintergrund der Entscheidung werde sich die Kirche sowohl in Hospizarbeit und Schmerzbehandlung, aber auch in der Begleitung von Menschen in Lebenskrisen nun noch intensiver engagieren, kündigte der Salzburger Erzbischof an. Das gelte auch mit Blick auf die Vorbeugung von Selbsttötungen.
Die Regierungsspitze zeigt sich seit dem VfGH-Erkenntnis vom 11. Dezember schweigsam. Laut ÖVP-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler müsse man jetzt prüfen, „welche gesetzlichen Schutzmaßnahmen notwendig sind“ (vgl. Standard, 12.12.2020). Sie zeigte sich überrascht, dass der VfGH von seiner eigenen Rechtsprechung abgewichen sei und betonte: „Das Leben ist das höchste Gut und genießt aus gutem Grund verfassungsrechtlich höchsten Schutz.“ Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer forderte eine umfassende Diskussion unter Einbindung von Experten und Zivilgesellschaft. Zudem müssten Palliativversorgung und Hospizbetreuung sowie die psychologische Betreuung ausgebaut werden.
Wie die Praxis der Beihilfe zum Suizid aussehen könnte, ist also noch lange nicht geklärt. Eine der drängenden, offenen Fragen ist, wer die Beihilfe zum Suizid künftig leisten darf - und hier preschen nun die Befürworter des Urteils vor, berichtet die Wiener Zeitung (online 17.12.2020). Die Antwort darauf könnte das Etablieren eines Sterbehilfe-Vereins nach dem Vorbild Deutschlands oder der Schweiz sein. In Österreich würde sich die ÖGHL dafür anbieten. Mitglied des Beirats der ÖGHL ist Dignitas-Gründer Ludwig Minelli und auch Anwalt Wolfram Proksch, der die Beschwerdeführer vor dem VfGH vertrat. Laut Proksch zieht die ÖGHL bereits in Erwägung, die Möglichkeit der Mitwirkung am Suizid in Form eines ersten Sterbehilfe-Vereins in Österreich anzubieten.