Die Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP) zeigt sich "sehr besorgt" über "aktuelle Tendenzen zur Legalisierung des assistierten Suizids" in Österreich. Eine Kooperation bei der Umsetzung von Sterbewünschen kann aus Sicht der ÖGPP "grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe" sein. "Die ÖGPP lehnt daher eine Änderung der gesetzlichen Situation in Österreich zum Thema Sterbe- und Suizidhilfe ab und vermisst in der Diskussion ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Verständnis für Menschen in Krisensituationen", so die Fachgesellschaft in einer aktuellen Aussendung aus Anlass des Welt-Suizid-Präventionstags am 10. September. Ab 21. September wird der Verfassungsgerichtshof sich mit der Frage einer möglichen Legalisierung von Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid in Österreich befassen.
Im gesellschaftlichen Diskurs werde häufig ausgeblendet, dass der Wunsch zu sterben "üblicherweise keine endgültige Entscheidung" sei, sondern als "Ausdruck von Angst und Ambivalenz" in hohem Maße fluktuiere, wie die Fälle aus der Praxis zeigen, betont die ÖGPP. Todeswünsche seien häufig Ausdruck behandelbarer seelischer Erkrankungen wie Depressionen (vgl. Bioethik aktuell, 6.9.2020). Es sei eine zentrale Aufgabe ärztlichen Handelns, Menschen bei der Überwindung von Lebenskrisen zu unterstützen. "Suizidprävention ist daher ein ganz wesentliches Anliegen". Die ÖGPP hatte sich bereits 2017 in einem Positionspapier klar gegen Sterbe- und Suizidhilfe in Österreich positioniert.
Suizid ist die weltweit zehnthäufigste Todesursache, jährlich nehmen sich rund eine Million Menschen das Leben. Laut WHO zählt der Suizid damit zu den größten Gesundheitsproblemen der Welt. Österreich liegt immer noch über dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2018 wurden mit 1.209 Suiziden fast dreimal so viele Suizide wie Verkehrstote (409) in Österreich verzeichnet. Ursachen für den Wunsch, eigenhändig und verfrüht aus dem Leben zu scheiden, sind laut WHO häufig schwere mentale Probleme wie Depressionen. Weitere individuelle Risikofaktoren sind Job- und Finanzprobleme. Aber auch ein allgemeines Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das Vorhandsein chronischer Schmerzen oder Krankheiten können den Anstoß zu der Entscheidung geben, sich das Leben zu nehmen. So beklagen in Italien Psychiater eine Suizidwelle im Zuge der Corona-Krise (vgl. ORF, online, 7.9.2020). Die Experten bemängeln, dass wegen des Lockdowns die Betreuung von psychisch kranken Menschen in vielen Fällen eingestellt worden sei, was erhebliche Probleme verursacht habe.
Laut Österreichischem Suizidbericht 2019 steigt die die Suizidrate in Österreich mit dem Alter an. Sie ist in der Altersgruppe der 75- bis 79-Jährigen fast zweieinhalbmal, in der Altersgruppe der 85- bis 89-Jährigen beinahe fünfmal so hoch wie jene der Durchschnittsbevölkerung. "Einer der Gründe liegt sicher auch darin, dass Psychotherapie immer noch hauptsächlich als ein Angebot für jüngere Menschen angesehen wird, auf die Älteren wird vergessen. Viele Altersdepressionen bleiben daher unentdeckt und unbehandelt. Psychische Erkrankungen werden tendenziell weniger ernst genommen als sie sind", kritisiert Peter Stippl, Präsident des Berufsverbands der Österreichischen Psychotherapeuten in einem Kommentar in den Salzburger Nachrichten (online, 10.9.2020). Sorge bereitet dem Psychotherapeuten Stippl daher die „Sterbehilfe-Debatte“, in der der Suizid als „selbstbestimmte Tat am Lebensende heroisiert“ werde.
Eine präzise Unterscheidung zwischen dem Wunsch zu sterben und der Aufforderung "Töte mich!" hat die Wiener Bioethikerin Susanne Kummer eingemahnt. Es sei gut nachzufühlen, wenn bei "hochbetagten, multimorbiden Menschen" immer wieder der Satz "Ich will nicht mehr" auftauche, doch: "Sterben zu wollen ist nicht dasselbe wie: Töte mich! Töten ist keine Therapieoption", mahnte die Geschäftsführerin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) in einem Interview mit Der Sonntag (3.9.2020).
Zwar gebe es ein "Recht auf Leben" und auch ein Recht darauf, "dass Sterben nicht unnötig verlängert, sondern zugelassen wird", stellte Kummer klar. "Aber es gibt kein Recht auf Tötung. Aus dem Recht auf Selbstbestimmung kann daher weder ein Recht noch die Pflicht des Arztes oder anderer Personen zur Mithilfe beim Suizid oder zur Tötung seiner Patienten auf Wunsch abgeleitet werden. Vielleicht sollten wir aber auch das Wort Sterbehilfe rehabilitieren und ihm seinen ursprünglichen Sinn wiedergeben."