Eine international besetzte Lancet-Kommission fordert eine Neuausrichtung der gesellschaftlichen Einstellung zu Tod und Sterben. Der Tod und das Sterben seien an Professionisten delegiert, medikalisiert und verdrängt worden. Damit sei auch eine gesellschaftliche Grundkompetenz im Umgang mit Sterbenden verloren gegangen, die dringend wiedergewonnen werden müsse. Zu diesem Befund kommt der 48-seitige Report der Kommission The Value of Death: bringing death back into life (online, 31. Januar, 2022 https://doi.org/10.1016/ S0140-6736(21)02314-X).
Konkret kritisieren die Experten eine Überbetonung von aggressiven Behandlungen zur Lebensverlängerung, enorme globale Ungleichheiten beim Zugang zu Palliativversorgung sowie hohe medizinische Kosten am Lebensende. Dies würde dazu führen, dass weltweit Millionen von Menschen am Lebensende immer noch unnötig leiden. Die Lancet-Kommission setzt sich aus Gesundheits- und Sozialwissenschaftlern, Wirtschaftswissenschaftlern, Philosophen, Theologen, Politikwissenschaftlern und Patientenvertretern zusammen (EurekAlert, 31.1.2022).
Die Art und Weise, wie Menschen sterben, habe sich in den letzten 60 Jahren dramatisch verändert: von einem familiären Ereignis mit gelegentlicher medizinischer Unterstützung zu einem medizinischen Ereignis mit begrenzter familiärer Unterstützung, sagt Libby Sallnow, Palliativmedizinerin und Dozentin am St. Christopher's Hospiz und am Marie Curie Palliative Care Department, University College London (UCL), sowie Co-Vorsitzende der Kommission. Doch der Tod sei nicht bloß ein medizinisches, sondern immer ein soziales, physisches, psychologisches und spirituelles Ereignis.
Dem existenziellen Leiden werde in diesem Setting nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Angst vor Rechtsstreitigkeiten (Stichwort: Defensivmedizin) und finanzielle Anreize (Stichwort: Ökonomisierung) würden zu einer Überbehandlung am Lebensende beitragen. Damit würde das Bild eines institutionellen Todes geschürt und das Gefühl vermittelt, nur Fachleute könnten mit Sterbenden umgehen.
Familien und Gemeinschaften würden sich zunehmend von der Begleitung Sterbender entfremden. Doch auch Ärzte scheuen sich, Gespräche über den Tod und das Sterben zu führen. Sie fühlen sich überfordert und sehen diese Gespräche nicht unbedingt als Teil ihrer beruflichen Verantwortung. Stattdessen würden Behandlungen fortgesetzt, was mitunter zu einer unangemessenen Versorgung am Lebensende führe, analysiert die Kommission. Dank Palliative Care könnte sich die Lebensqualität für Patienten und Betreuende verbessern und unnötige Kosten reduziert werden. Gesundheitssysteme, die dies beeinflussen sollten, hätten damit nur begrenzten Erfolg.
Weltweit ist die Lebenserwartung stetig gestiegen: von 66,8 Jahren im Jahr 2000 auf 73,4 Jahre im Jahr 2019. Da die Menschen länger leben, erleben sie aber auch zusätzliche Jahre in einem schlechteren Gesundheitszustand. Die Anzahl der Jahre mit erheblichen chronischen Einschränkungen ist von 8,6 Jahren im Jahr 2000 auf 10 Jahre im Jahr 2019 gestiegen. Beklemmend ist in diesem Zusammenhang eines der Zukunftsszenarien der Kommission in Hinblick auf das umstrittene Thema „Sterbehilfe“ („Assisted Dying“): In manchen Industrienationen könnten in Zukunft ein Viertel aller Todesfälle auf Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid zurückzuführen sein. Nicht nur Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, würden durch assistierte Tötung sterben, sondern auch jene mit „unerträglichem Leiden“, Demenzkranke sowie Gesunde, aber „Lebensmüde“, so die Psychologin Celia Kitzinger von der Universität Cardiff. Der Report fordert zugleich eine klare Unterscheidung von Sterben Zulassen durch Behandlungsverzicht und Therapiezieländerung sowie Assistierter Tötung.
„Die Art und Weise, wie wir uns um Sterbende kümmern, unsere Erwartungen an den Tod und die Veränderungen, die in der Gesellschaft erforderlich sind, um unser Verhältnis zum Tod wieder ins Gleichgewicht zu bringen, müssen grundlegend neu überdacht werden“, betont die britische Palliativmedizinerin Snallow.
Die Lancet-Kommission legt folgende Empfehlungen für eine Humanisierung der Sterbekultur vor:
- Die Aufklärung über Tod, Sterben und Sterbebegleitung sollte für Menschen am Lebensende, ihre Familien und für Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen von grundlegender Bedeutung sein;
- Die Verbesserung des Zugangs zur Schmerzlinderung am Lebensende;
- Gespräche und Geschichten über den Tod, das Sterben und die Trauer müssen gefördert werden;
- Pflegenetze müssen die Unterstützung für Sterbende, Pflegende und Trauernde koordinieren;
- Patienten und ihre Familien sollten klare Informationen über den Nutzen und Risiken von Interventionen bei potenziell lebensbegrenzenden Krankheiten erhalten, um fundierte Entscheidungen treffen zu können;
- Regierungen sollten in allen Ländern Maßnahmen zur Unterstützung informell Pflegender und bezahlten Urlaub für Trauerarbeit schaffen und fördern.