Bioethik Aktuell

EGMR-Urteil bestätigt: Staaten dürfen Bürger vor einer vorzeitigen Lebensbeendigung schützen

Palliative Care gewährleistet Sterben in Würde – „Sterbehilfe“ gefährdet Patienten, Gesundheitsberufe und Gesellschaft

Lesezeit: 04:23 Minuten

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Juni 2024 den Fall eines ungarischen Staatsbürgers entschieden, der sich unter ärztlicher Mitwirkung das Leben nehmen wollte. Er hatte gegen Ungarn und dessen Verbot von Suizidbeihilfe geklagt. Der EGMR lehnte die Klage ab. Die Richter bekräftigten in ihrem Urteil das Recht der Mitgliedstaaten des Europarates, ihre Bürger, die Ärzteschaft und die Gesellschaft vor „Sterbehilfe“ und deren Auswirkungen zu schützen - auch durch das Strafrecht.

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Der Entscheidung des Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (Daniel Karsai vs Ungarn - 32312/23) vom 13. Juni 2024 lag der Antrag eines an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankten Mannes zu Grunde. Dieser argumentierte, dass das in Ungarn geltende strafrechtliche Verbot des assistierten Suizids und der Tötung auf Verlangen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) - insbesondere gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8) - verstoße. Zudem machte er eine Diskriminierung gegenüber Patienten, die auf lebenserhaltende Maßnahmen angewiesen sind und diese ablehnen können, geltend. Schließlich behauptete der Antragsteller durch das Verbot der „Sterbehilfe“ eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Artikels 3 EMRK zu erleiden und in seinem Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit (Artikel 9 EMRK) verletzt zu sein. Mit der Klage sollte die Aufhebung des Verbots in Ungarn erzwungen werden.

Die Menschenrechtskonvention kennt kein Recht aus Suizidassistenz oder Tötung auf Verlangen

Die letzten beiden Anträge (Verstoß gegen Artikel 3 und 9 EMRK) wies der EGMR als unbegründet ab. Zum Recht auf Achtung des Privatlebens führte das Gericht erneut aus, dass sich daraus kein Recht auf Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen ableiten lässt. Vielmehr hoben die Straßburger Richter die weitreichenden gesellschaftlichen Implikationen einer Legalisierung von „Sterbehilfe“ sowie die Gefahr von Missbrauch und Fehleinschätzungen hervor. Zwei vom EGMR gehörte Experten wiesen zudem auf kaum lösbare Probleme im Zusammenhang mit der Suizidassistenz oder Tötung auf Verlangen hin: Dazu zähle die Schwierigkeit eine Entscheidung, frei von äußeren Einflüssen wie Druck, Angst, Depressionen u.a. auf Seiten des Suizidenten zu gewährleisten. Zudem müsse die Ambivalenz des Suizidwunsches, der kommt und geht und sich mit fortschreitender Krankheit sogar auflösen kann, berücksichtigt werden.

Mitgefühl und professionelle Palliative Care sichern würdevolles Lebensende

Anders als der österreichische Verfassungsgerichtshof, für den ein „Sterben in Würde“ die Möglichkeit der Suizidassistenz voraussetzt (VfGH G 139/2019-71, S. 80, RZ 74), sieht der EGMR in einer qualitativen Palliativversorgung ein würdevolles Lebensende garantiert. Nicht assistierter Suizid oder Tötung auf Verlangen, sondern eine von Mitgefühl und hohen medizinischen Standards geleitete Palliativ Care sei die angemessene Antwort auf eine schwere Erkrankung und die damit verbundene erhöhte Vulnerabilität eines Menschen. Auch dem Kläger und anderen ALS-Patienten würden die heute vorhandenen Optionen der Palliativmedizin einschließlich der palliativen Sedierung neben einer Linderung der Beschwerden ein friedliches Sterben ermöglichen.

Wunsch nach Tötung und Behandlungsablehnung sind zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte

Erfreulich an der aktuellen EGMR-Entscheidung ist auch die Klarheit mit der das Gericht im Gegensatz zum VfGH (S. 83.84, Rz 92) zwischen der Möglichkeit, eine Behandlung oder lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen, und der Suizidassistenz unterscheidet. Die Option eine Behandlung abzulehnen, entspringe dem Recht auf freie und informierte Zustimmung und nicht einem vermeintlichen Recht auf „Sterbehilfe“. Die Behandlungsablehnung sei in weiten Kreisen der Ärzteschaft sowie vom Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates anerkannt.

EGMR: Verbot von assistiertem Suizid schützt das Leben vulnerabler Personen

Folglich sieht der EGMR in der unterschiedlichen rechtlichen Behandlung beider auch keine Diskriminierung. Strafrechtliche Verbot der Beihilfe zum Suizid und der Tötung auf Verlangen sind deshalb rechtmäßig und stehen nicht im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Sie schützen das Leben vulnerabler und durch Missbrauch gefährdeter Personen, bewahren die ethische Integrität der Ärzteschaft und halten den Sinn und Wert des menschlichen Lebens in der Gesellschaft hoch.

Menschenrechtskonvention ist im Lichte aktueller Entwicklungen auszulegen

Der EGMR erinnert in seinem Urteil allerdings auch daran, dass er die Europäische Menschenrechtskonvention als ein lebendiges Instrument betrachtet, das unter Berücksichtigung der heutigen Gegebenheiten auszulegen sei. Bei entsprechenden Entwicklungen innerhalb der europäischen Gesellschaften und der internationalen Standards der Medizinethik sei daher auch eine von der bisherigen Rechtsprechung abweichende Interpretation der Konvention denkbar.

IMABE-Rechtsexpertin: EGMR-Urteil schafft Klarheit und bindet nationale Gerichte

Antonia Busch-Holewik begrüßt das aktuelle EGMR-Urteil, das angesichts der Legalisierungsbestrebungen von assistiertem Suizid und/oder Tötung auf Verlangen in etlichen westlichen Ländern von „großer Bedeutung ist“, so die Referentin für Recht und Bioethik am IMABE (Wien). Der oberste Menschengerichtshof bekräftige, dass es „kein Menschenrecht auf assistierten Suizid und Tötung auf Verlangen gibt und strafrechtliche Verbote vor lebensgefährdenden Handlungen schützen“, betont die Juristin. Ein würdiges Lebensende werde durch qualitative Palliativversorgung gewährleistet, Behandlungsablehnung und palliative Sedierung sind anerkannte Formen der Patientenautonomie und seien klar von sogenannter „Sterbehilfe“ zu unterscheiden. Zahlreiche Argumente der „Sterbehilfe“-Verfechter, die eine Legalisierung auf dem Gerichtsweg erwirken wollen, würden durch das Urteil der Straßburger Richter entkräftet.

Busch-Holewik erinnert in dem Zusammenhang daran, dass das aktuelle Urteil rechtliche Wirkung in allen Mitgliedstaaten des Europarates entfaltet. Damit sei zu hoffen, dass auch der österreichische Verfassungsgerichthof dieses Urteil bei seiner anstehenden Entscheidung zum Sterbeverfügungsgesetz (StVfG) und dem eingeklagten Verbot der Tötung auf Verlangen berücksichtigen wird.

VfGH berät noch im Juni über Aufhebung des Verbots der Tötung auf Verlangen

Laut dem VfGH (Pressemeldung, 07.06.2024) wird noch während der Juni-Session über mehrere Anträge beraten, die die Aufhebung des Verbots der Tötung auf Verlangen sowie die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der neu gefassten Bestimmung zur Mitwirkung an der Selbsttötung und die Aufhebung einer Reihe von Bestimmungen des StVfG fordern. (Bioethik aktuell, 06.07.2023)

 

Institut für Medizinische
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