Onkologen bringen nach Auskunft zweier aktueller Studien zu spät eine palliative Therapie und Pflege ins Spiel. Als Ursache für diese Form der Unterversorgung wird gelegentlich ein zu großes Vertrauen in neue Chemotherapien und vor allem zu viele falsche Vorstellungen über die Schwere der Erkrankung auf Patientenseite angesehen. Darauf weist das Informationsportal der American Society of Clinical Oncology (The Asco Post, online, 25.5.2022) hin. Eine Umfrage aus dem Jahr 2021 in den Vereinigten Staaten habe ergeben, dass nur wenige Onkologen gemäß den geltenden Leitlinien bei metastasiertem Krebs eine palliative Therapie anordnen. Grund dafür sind oft Widerstände auf Seiten der Patienten, Mangel an Zeit des Arztes, aber auch fehlende Mittel, um die Patienten umfassend über ihre Krankheit aufzuklären.
Mehr Lebensqualität wäre möglich, wenn nicht Vorurteile im Wege stehen
Palliation wird demnach zu selten und zu spät eingesetzt – anders als die Leitlinien der American Society of Clinical Oncology (ASCO) dies vorsehen. Dabei könnten die Patienten an Lebensqualität gewinnen – einschließlich der Verminderung von depressiven Symptomen. Befragt wurden 240 Onkologen in den Vereinigten Staaten, von denen 85 Prozent in einer lokalen Einrichtung/Praxis arbeiteten. Die Fragen bezogen sich auf Hinderungsgründe, die Ärzte abhielten, rechtzeitig eine Palliation einzuleiten. Palliation ist bei entsprechender Erkrankung indiziert und konnte auch in Studien eine lebensverlängernde Wirkung erzielen. Nur 17 Prozent der Ärzte antworteten, dass sie eine Palliation immer dann starten, wenn ein metastasierter Zustand der Erkrankung eingetreten ist. Etwa 5 Prozent antworteten, sie starteten Palliation erst am Lebensende, obwohl 68 Prozent der Aussage zustimmten, dass einer frühe Palliation zur Verbesserung der Situation der Patienten insgesamt beitrage. Palliation wurde als multimodale Maßnahmen (Hilfsmittel, Pflege, Medikation, evtl. Bestrahlung oder Operation) verstanden.
Das Potential einer palliativen Behandlung ist vielen Angehörigen nicht bekannt
Als größtes Hindernis wurde von 38 Prozent der Befragten Widerstand seitens der Patienten und ihrer Angehörigen gegen eine palliative Behandlung genannt. 28 Prozent der Ärzte erklärten, sie hätten kein Personal für Palliation in ihrer Praxis. 43 Prozent stimmten zu, dass sie mehr Training für ein Patienten-Gespräch über Palliation benötigten, um Patienten in fortgeschrittenen Krebsstadien die Situation einleuchtend erklären zu können.
Viele Onkologen sind zu beschäftigt, um eine Palliation anbieten zu können
Der frühe Beginn einer Palliation von Patienten mit Lungenkrebs verbessert nicht nur die Lebensqualität, sondern wirkt sich auch insgesamt auf die Überlebenszeit günstig aus, schreibt ASCO-Autor Jo Cavallo und bezieht sich dabei auf eine im Journal of Clinical Oncology publizierte Studie (2016: 35:834-841). Und: Viele Onkologen seien mit den Therapien zu beschäftigt, um eine Palliation anbieten zu können.
Wie groß die Missverständnisse zwischen Arzt und Patient in Wirklichkeit sind
Schlechte Kommunikation über die Prognose einer fortgeschrittenen Krebserkrankung führt zu Diskrepanzen im Verständnis zwischen Arzt und Patient – mit Konsequenzen für die Art der Versorgung in der Klinik oder einem Hospiz. Dies zeigt eine weitere im Journal of Clinical Oncology publizierte Studie (39, no. 15_suppl (May 20, 2021) 12037-12037 DOI: 10.1200/JCO.2021.39.15_suppl.12037).
Die Onkologin Kah Poh Loh und ihre Kollegen vom Rochester Medical Center im US-Bundesstaat New York hatten dazu 541 Krebspatienten (Durchschnittsalter: 76,6 Jahre) befragt. Die Antworten der Patienten wichen hinsichtlich Lebenserwartung und Heilungsrate in 72 bzw. 60 Prozent ab von der vom Arzt mitgeteilten Prognose. Gefragt wurde, wie die Ärzte und Patienten ihre Heilungsaussichten beurteilen (100%, 50%, weniger als 50 % oder 0%), ferner nach der Lebenserwartung (weniger als 6 Monate, 7-12 Monate, 1-2 Jahre, 2-5 Jahre, mehr als 5 Jahre). Unterschiede in den Antworten von Arzt und Patient wurden als diskrepant gezählt.
Die Ergebnisse werden für die einzelnen Patienten als bedeutsam eingeschätzt: Eine zutreffende Einsicht in die Prognose hat einen Einfluss auf Therapieentscheidungen, auf die Planung von Pflege sowie auf das Ausmaß der psychologischen Unterstützung. Wenn die Patienten ihre Lebenserwartung falsch einschätzen, neigen sie eher zu vermeintlich lebensverlängernden Chemotherapien, Krankenhauseinweisungen waren wahrscheinlicher und der Wunsch nach einem Hospiz geringer. Auch die Erstellung von Patientenverfügungen mit der Vorgabe, im Notfall nicht wiederzubeleben, werden davon beeinflusst.