Bioethik aktuell: Der 'Nicht-invasive Pränataltest' (NIPT) ist in Deutschland seit Juli 2022 kassenfinanziert. Fühlen sich Schwangere zu früh mit der Möglichkeit einer Chromosomenstörung ihres Kindes konfrontiert?
Schneider: Nur dann, wenn dem Test keine adäquate Beratung vorausgeht, die sie über die Aussagekraft der Testergebnisse genau aufklärt. Ich habe immer wieder mit Schwangeren zu tun, die sich vor und nach solchen Tests auf Chromosomenanomalien nicht gut beraten fühlten. Das ist wegen der rasanten Zunahme dieser Untersuchung auch nicht verwunderlich. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die vielen unklaren Testergebnisse – wir reden von etwa zwei Prozent aller nicht-invasiven Pränataltests – noch mehr zur Verunsicherung beitragen. Hinzu kommen falsch-positive Ergebnisse: Je jünger die Frau ist, desto häufiger sind diese. So wandelt sich die Zeit „guter Hoffnung“ zu oft in eine des Bangens von Test zu Test.
Bioethik aktuell: Wann ist das Testen sinnlos, wann könnte es dem Kind nützen?
Schneider: Alle Tests, die keine konkrete Frage beantworten helfen, halte ich für unnütz. Sinnvoll ist Pränataldiagnostik dann, wenn es um Entwicklungsstörungen des Kindes geht, auf die therapeutisch reagiert werden kann: mit vorzeitiger Entbindung, Behandlung schon im Mutterleib – durch Gabe von Medikamenten, Bluttransfusionen oder chirurgische Eingriffe –, Geburt in einer Spezialklinik, wenn man vorher von der Notwendigkeit weiß. Das gilt auch für Kinder mit Trisomie 21, deren Aussichten nach der Geburt sich enorm verbessert haben. Vor etwa 40 Jahren hat man zum Beispiel Herzfehler bei diesen Kindern noch nicht operiert. Seit man es tut, ist ihre Lebenserwartung von 9 Jahren auf über 60 Jahre gestiegen. Das liegt einfach daran, dass man sie medizinisch so versorgt wie alle anderen auch.
Bioethik aktuell: Welche Informationen sind in einer Beratungssituation von Bedeutung?
Schneider: Jedes Kind bringt Herausforderungen mit sich, auch ein kerngesundes. Die meisten Eltern wachsen daran. Und von vielen Familien, die ein Kind mit Handicap haben, höre ich, dass ihr Alltag sich kaum von dem anderer Familien unterscheidet. Trotzdem ist der zerplatzte Traum vom gesunden Kind ein Schock, der verarbeitet werden muss. Das braucht Zeit und Raum. Sich mit Eltern auszutauschen, die Ähnliches schon hinter sich haben, hilft, Schock und Trauer zu überwinden. Deshalb gebe ich gern Kontaktdaten von Familien weiter, in denen ein Kind oder ein junger Erwachsener mit Down-Syndrom lebt und die bereit sind, anderen Eltern unkompliziert Einblick in ihren Alltag zu gewähren. Ich berate ergebnisoffen, aber nicht neutral. Ich wüsste auch nicht, wie das gehen sollte, denn als Kinderarzt habe ich immer ein therapeutisches Konzept im Kopf, kann also gar nicht wertfrei beraten. Gerade weil ich jede Menge Kinder kenne, die trotz Handicap ein gutes Leben führen.
Bioethik aktuell: Sie betrachten also Schwangerschaftskonfliktberatungen als Ihre ärztliche Aufgabe?
Schneider: Ich habe jede Woche mit Schwangeren zu tun, die plötzlich – nach einem Test - vor der Entscheidung über Leben und Tod ihres Kindes stehen. Letzte Woche hatte ich fünf solcher Beratungsgespräche. Ein junger Assistenzarzt, der dabei war, hat mir hinterher gesagt, er staune, dass sich allein durch ein Gespräch Leben retten lässt – genauso wie durch Wiederbelebungsmaßnahmen bei einem Notfall.
Bioethik aktuell: Sie haben an anderer Stelle gesagt, Kinder mit Down-Syndrom seien nicht zwangsläufig krank – trotz mancher Einschränkungen. Worauf stützt sich diese Einschätzung?
Schneider: Kinder mit Trisomie 21 haben ein Chromosom mehr als andere, was zu Besonderheiten in ihrer Entwicklung und zum Teil auch zu Krankheitssymptomen führt, die unter dem Begriff Down-Syndrom zusammengefasst werden. Die genetische Normabweichung allein ist aber weder eine Krankheit noch eine Behinderung. Behindert ist man nicht, behindert wird man durch gesellschaftliche Hindernisse. Und krank sind Menschen mit Trisomie 21, wenn sie Husten und Schnupfen oder sich ein Bein gebrochen haben oder wenn zum Beispiel ein angeborener Herzfehler vorliegt. Dann brauchen sie medizinische Hilfe. Ansonsten sind sie zwar anders als die meisten, aber nicht zwangsläufig krank.
Das Gespräch führte Bioethik aktuell-Redakteur Rainer Klawki.