98 Prozent der 228.627 im Jahr 2021 in Großbritannien gemeldeten Abtreibungen wurden mit der Indikation ‚Gefahr für die psychische Gesundheit‘ der Frau durchgeführt. In Österreich, Deutschland und der Schweiz ist ein Schwangerschaftsabbruch im Fall einer „ernsten Gefahr“ für die psychische Gesundheit der Frau auch nach der 12. Schwangerschaftswoche erlaubt.
„Um Frauen vor negativen psychischen Folgen bei einer ungewollten Schwangerschaft zu bewahren, gilt nach dem gängigen Narrativ, das in zahlreichen Gesetzgebungen Niederschlag gefunden hat, eine Abtreibung als probates Mittel“, erklärt Ethikerin und Co-Autorin Susanne Kummer. „Allerdings ist die wissenschaftliche Datenlage keineswegs so eindeutig“, so die Direktorin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) in Wien. Mit der nun vorliegenden 96-seitigen Studie Schwangerschaftsabbruch und psychische Folgen: Eine qualitative Studienanalyse (IMABE-Studienreihe Juni 2023) wolle man zur „Versachlichung des Diskurses in diesem hochsensiblen Thema des Schwangerschaftsabbruchs beitragen“, so die Wissenschaftler.
Stärken und Schwächen der Publikationen werden analysiert
Das interdisziplinäre Forscherteam hat 14 relevante Übersichtsarbeiten und Einzelstudien, die zwischen 2008 und 2018 erschienen sind und sich mit Schwangerschaftsabbruch und psychischen Gesundheitsfolgen befassen, untersucht. Im Fokus der nun vorliegenden Analyse steht zunächst die Frage, welche Kriterien die Qualität und Evidenz der Studien ausmachen. Dabei werden Stärken und Schwächen der einzelnen Publikationen aufgezeigt.
Aufgrund methodischer Limitierungen könne die Wissenschaft in der Abtreibungsfrage keine Ursache-Wirkung-Relation aufzeigen, sondern nur Korrelationen, wobei die bisherigen Ergebnisse laut der IMABE-Studie „uneinheitlich“ sind: Manche Forschungen deuteten auf keine, andere hingegen auf erhöhte Risiken für psychische Gesundheitsprobleme nach einem Schwangerschaftsabbruch.
Die gängige These lautet, dass der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft für die Psyche der Frau besser oder zumindest neutral sei im Vergleich zu einem Austragen des Kindes bis zur Geburt. „In der Wissenschaft ist allerdings umstritten, ob ein solcher Effekt hypothetisch ist oder tatsächlich existiert und inwiefern er überhaupt wissenschaftlich nachweisbar ist“, sagt Co-Autor Johannes Bonelli. „Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass die unterschiedlichen Ergebnisse auf methodische Mängel und eine intransparente Auswahl von Daten zurückgeht“, erklärt Bonelli. Damit sinke die Aussagekraft, so der Internist und Pharmakologe.
„Turnaway-Studie“: Eklatante methodische Mängel und politischer Aktivismus statt wissenschaftlicher Objektivität
Ein Beispiel einer in der Öffentlichkeit häufig zitierten Studie zu Schwangerschaftsabbruch und Psyche ist die „Turnaway-Studie“ und deren mehr als 50 Nachfolge-Arbeiten. Die IMABE-Studienautoren legen ausführlich dar, dass die zwischen 2008 und 2010 durchgeführte US-Studie schwere methodische Mängel und eine intransparente Auswahl von Daten aufweist. Die „Grenze zwischen wissenschaftlicher Objektivität und ideologischem Aktivismus“ sei hier überschritten worden.
Die Kernaussage der Studie lautet: Ein Schwangerschaftsabbruch schadet der psychischen Gesundheit von Frauen nicht und kann sie im Gegenteil verbessern. Hingegen sei die Verweigerung eines Schwangerschaftsabbruchs – auch in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft – mit einem erhöhten Maß an Angst, Stress und geringerem Selbstwertgefühl unmittelbar nach Abweisung sowie mit psychischen und sozialen Problemen verbunden.
Laut der IMABE-Analyse sind die methodischen Mängel und damit die fehlende Evidenz jedoch eklatant: a) Intransparenz bei der Rekrutierung (von 7.486 für die Studie angesprochenen Frauen wurden nur 3.016 zugelassen, ohne Angaben der Kriterien); b) Stichprobenverzerrung, hohe Drop-Out-Rate und damit nicht repräsentativ (nur 18 Prozent bzw. 558 Frauen haben die Studie abgeschlossen); c) inadäquate Vergleichsgruppe; d) mediale Verzerrung: in praktisch allen Medienberichten über die Turnaway-Studie wird die Zahl „1.000 Frauen“ genannt; e) ‚gewünschte‘ Ergebnisse wurden ‚unerwünschten‘ vorgezogen.
‚Unerwünschtes‘ Ergebnis der Turnaway-Studie: Frauen, die doch nicht abtrieben, war nach fünf Jahren froh darüber
Bemerkenswert ist ein offenbar wenig erwünschtes Ergebnis der Turnaway-Studie, das in keiner der zahlreichen Pressemitteilungen zitiert wird: 96 Prozent jener Frauen, die aufgrund der Überschreitung der Schwangerschaftswochenfrist von den Kliniken abgewiesen wurden („turnaway“) und ihr Kind letztlich zur Welt brachten, waren nach fünf Jahren froh darüber und bedauerten nicht, dass das Kind lebt und nicht abgetrieben wurde.
Es gibt keinen Beweis, dass Abtreibung einen Schutzfaktor für die seelische Gesundheit bietet
Es ist auffallend, dass sich praktisch alle Studien zum Thema Schwangerschaftsabbruch und psychische Folgen nur mit der Frage beschäftigen, ob eine Abtreibung negative Folgen für die Psyche der Frau hat – statt nachzuweisen, dass sie die Psyche der Frau verbessert. „Ob ein Schwangerschaftsabbruch gegenüber der Geburt des Kindes aber überhaupt den hypothetisch therapeutischen Nutzen bringt, ist ein blinder Fleck in der Studienlandschaft. Als Kliniker überrascht einen das“, sagt Bonelli, selbst Internist und Pharmakologe und ergänzt: „Die Hypothese, wonach eine Abtreibung einen positiven Effekt auf die Psyche der Frau habe, lässt sich jedenfalls durch keine einzigen wissenschaftlichen Beweise stützen.“
Einigkeit: Abtreibung geht mit einem erhöhten Risiko für psychische Probleme einher
Eine Abtreibung verringert auch nicht die psychischen Risiken im Vergleich zu Frauen, die ein Kind nach unerwünschter oder ungeplanter Schwangerschaft zur Welt bringen. Im Gegenteil: Ein erheblicher Teil der methodisch gut gemachten internationalen Studien ist sich einig, dass die Beendigung einer unerwünschten Schwangerschaft durch Abtreibung das Risiko für psychische Probleme nicht reduziert, sondern erhöht oder bereits bestehende psychische Probleme verstärkt. Uneinig ist man sich in der Frage der Begründung, warum dies so ist.
So ist eine Abtreibung statistisch gesehen mit einem erhöhten Risiko für Alkohol- und Drogenmissbrauch, Suizide und Suizidversuche, Sucht, Depression und Angstzustände verbunden. Mehrfach-Abtreibungen und bereits bestehende psychische Vorerkrankungen erhöhen die Risiken statistisch signifikant.
Ein Kausalzusammenhang für positive oder negative Folgen ist prinzipiell nicht nachweisbar
Konsens herrscht auch unter den Studien – ob von Pro Choice- oder Pro Life-Seite –, dass es keine wissenschaftlich valide Methode gibt, um einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen einer Abtreibung und späteren psychische Folgen sicher nachzuweisen oder auszuschließen. Das sonst etwa bei Medikamentenprüfungen übliche Design einer experimentellen Studie ist in diesem Fall praktisch undurchführbar. „Wir haben da ein methodisches Problem: Man müsste eine Gruppe von Frauen mit völlig gleichen Voraussetzungen und nach dem Zufallsprinzip entweder einer ‚Abtreibungsgruppe‘ oder einer ‚Geburtsgruppe‘ nach ungeplanter/ungewollter Schwangerschaft zuweisen, ohne dass die Frau oder der Arzt wissen, wer welcher Gruppe zugeordnet wurde. Das Design dieser randomisiert kontrollierten Doppelblindstudie ist in diesem Fall völlig unbrauchbar und auch aus ethischen Gründen abzulehnen“, erklärt Kummer.
Frauen haben ein Recht auf Aufklärung über möglich psychische Folgen
Frauen hätten ein Recht auf Aufklärung über mögliche psychische Folgen, einen sicheren Zugang zu Alternativen und eine psychologische Nachbetreuung, schlussfolgern die Forscher. Aus Public-Health-Perspektive sollten sich die Bemühungen darauf konzentrieren, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren. Politische Entscheidungsträger sollten den Rechtfertigungsgrund ‚Schwangerschaftsabbruch zum Schutz der psychischen Gesundheit der Frau‘ überdenken, da er sich auf keine wissenschaftliche Evidenz stützen kann.