Anlass der Stellungnahme Pandemie und psychische Gesundheit. Aufmerksamkeit, Beistand und Unterstützung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in und nach gesellschaftlichen Krisen (28.11.2022) „aus eigenem Antrieb“ waren inzwischen bekanntgewordene medizinische Daten über die Gesundheit von Kinder und Jugendlichen. Deren Leben und Gesundheit war durch das Virus SARS-COV-2 am wenigsten gefährdet. Diese Altersgruppe hat aber unter der Pandemie und den angeordneten Infektionsschutzmaßnahmen am meisten gelitten. Den Ad-hoc-Empfehlung vorangestellt ist eine allgemeine Bestandsaufnahme, die einräumt, dass die psychischen Belastungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie übersehen worden sind. „Viele dieser Erkrankungen sind zwar nicht altersuntypisch (z.B. Essstörungen, Süchte, Angsterkrankungen und Depressionen), sie treten aber pandemiebedingt verstärkt auf.“
Vor allem psychische Erkrankungen wurden bei Kindern und Jugendlichen gehäuft diagnostiziert
So hat gemäß dem DAK Kinder- und Jugendreport 2022 die Häufigkeit psychischer Erkrankungen zugenommen, war die Häufigkeit der Arztkontakte von Kinder und Jugendlichen im Jahr 2021 rückläufig, und es ergaben sich weitere Konsequenzen:
+54% mehr neu diagnostizierte Essstörungen bei Mädchen (15-17 Jahre)
+23% mehr neu diagnostizierte Depressionen bei Mädchen (10-14 Jahre)
+24% mehr neu diagnostizierte Angststörungen bei Mädchen (15-17 Jahre)
+15% mehr neu diagnostizierte Adipositas-Fälle bei Jungen (15-17 Jahre)
+19 % erhöhtes Risiko einer Depressions-Neuerkrankung bei Mädchen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status im Vergleich zu Mädchen aus Familien mit hohem Sozialstatus (15-17 Jahre)
+62% erhöhtes Risiko für Adipositas bei Jungen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status im Vergleich zu Jungen aus Familien mit hohem Sozialstatus (15-17 Jahre).
Die Familie hat alles gerichtet, was staatliche Maßnahmen zum Erliegen brachte
Analysiert werden diverse Phänomene, die dazu beigetragen haben, wie etwa „die Verlagerung des Lernens in den digitalen Raum“, der „Wegfall vieler Angebote der Freizeitgestaltung, die Trennung von Freundinnen und Freunden“. Zwischen den Zeilen ist das Familien-Lob zu lesen, dass Familienmitglieder mit Fantasie dafür gesorgt hätten, dass Defizite überraschend gut bewältigt wurden. „Familie und Nahbeziehungen boten einerseits Halt und Sicherheit“, was nur möglich war, „weil Sorgeberechtigte in den Familien erheblich mehr Care-Arbeit übernahmen“. Oder: „ein stabiler familiärer Kontext konnte die konstruktive persönliche Verarbeitung der Krise erleichtern.“
Gewalterfahrungen machten oft sozial benachteiligte Jugendliche aufgrund überforderter Erwachsener
Trotzdem bleibe die katastrophische Erfahrung der Pandemie eine existenzielle Herausforderung, die gekennzeichnet war durch Vereinsamung, Isolation und Angst, sowie übermäßigen Medienkonsum. Am härtesten getroffen wurden die sozial Benachteiligten. Konflikte in den Familien führten zu Gewalterfahrungen. „Die jüngere Generation erlebte Erwachsene und Ältere zum Teil als ängstlich, gestresst und überfordert oder gar selbstbezogen.“
Ethikrat übt Selbstkritik und warnt vor einer Wiederholung dieser katastrophischen Erfahrung
Zu spät seien die Hinweise auf die besondere Vulnerabilität der jungen Menschen auch vom Ethikrat selbst gekommen, fährt dieser selbstkritisch fort – gerade im Hinblick auf entstandene Schäden der psychischen Gesundheit. Mit Blick nach vorn hält die Empfehlung fest: „In Zukunft ist umso mehr darauf zu achten, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nicht noch einmal derart einseitig in ihrer Lebensentfaltung beschränkt werden. Das gilt aktuell für die Energieversorgungskrise in der Folge des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und in besonderer Weise mittel- und langfristig für die Bewältigung der globalen Klimakrise.“
Kritik: Gesundheit ist mehr als Virologie, Kinder und Jugendliche wurden als "Krisenbewältiger" addressiert
Als eigentlicher Fehler der Pandemiebewältigung wird die Vereinseitigung auf virologische Aspekte von Gesundheit angedeutet: „Andere Dimensionen eines umfassenden Gesundheitsverständnisses, insbesondere die psychische und psychosoziale Integrität, blieben zu lange im toten Winkel der öffentlichen Aufmerksamkeit“. Resümee sind 11 Empfehlungen, die seitens der Politik und Verwaltung zu ergreifen seien, wie Schulsozialarbeit, Hilfen für Eltern, Informationskampagnen, Freizeitangebote, Alltagskontakte, Versorgung bei psychischen Leiden, Beratungsleistungen für Familien, Forschung, Kinder- und Jugendliche nicht als "Krisenbewältiger" zu adressieren.
Pandemie: Besorgniserregender Anstieg psychischer Probleme auch bei Jugendlichen in Österreich
Im Zeitraum Oktober bis November 2021 wurden rund 1.500 Schülerinnen und Schüler im Alter von 14 bis 20 Jahren österreichweit im Rahmen einer Studie der Donau-Universität Krems (Sage, reprint 20.12.2021) untersucht. Die Häufigkeit depressiver Symptome, Angstsymptome aber auch Schlafstörungen hat sich laut Studienautor Christoph Pieh (Institut für Psychosomatische Medizin und Gesundheitsforschung an der Donau-Uni Krems) "verfünf- bis verzehnfacht“. Die Zahl der Mädchen mit Suizid- oder Selbstverletzungsgedanken ist von 20 auf 47 Prozent und der Burschen von 10 auf 32 Prozent gestiegen. Die Zunahme hat sich auch stationär niedergeschlagen: So hatte sich am Universitätsklinikum AKH-Wien die Spitalsaufnahmen von Kindern und Jugendlichen wegen Suizidversuchen in der Pandemie verdoppelt. (vgl. Standard, 24.7.2022).