Das deutsche Unternehmen Biontech und der US-Pharmakonzern Pfizer haben bei der US-Arzneimittelbehörde FDA eine Notfallzulassung für ihren Coronavirus-Impfstoff beantragt. Das teilten die Firmen in einer gemeinsamen Presseaussendung (20.11.2020) mit. Laut der Unternehmen biete die von ihnen entwickelte Impfung einen 95-prozentigen Schutz vor Covid-19. Neun von zehn Menschen könnten demnach durch die Impfung vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 geschützt sein. Der Impfstoff BNT162b2 habe in einer Phase-3-Studie über alle Altersgruppen hinweg ähnlich gut funktioniert und zeige praktisch keine ernsten Nebenwirkungen (vgl. Biontech/Pfizer, 18.11.2020). Die EU-Kommission signalisierte, dass eine bedingte Marktzulassung durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) schon ab Mitte Dezember 2020 möglich sein könnte. Die Schutzwirkung gilt als bestätigt und aussagekräftig, wenn es innerhalb der Probandengruppe von rund 44.000 Menschen 164 bestätigte Fälle gegeben habe. Die vorläufige Analyse wurde nach 170 Fällen durchgeführt.
Allerdings: Die Zwischenergebnisse des neuartigen mRNA-Impfstoffs liegen bislang nur als Pressemitteilung vor, die Studiendaten wurden noch nicht publiziert. Vorsicht ist sicherlich geboten, da es sich um einen mRNA-Impfstoff handelt, einer völlig neuen Gruppe von Impfstoffen, die bisher klinisch nicht im Einsatz waren. Noch kein mRNA-Impfstoff ist bislang zugelassen worden.
Experten warnen im aktuellen Arzneimittelbrief (Jg 54 Nr. 11, November 2020) vor klinischen Risiken als Folge verkürzter Prüfphasen. Unter dem Zeitdruck der Pandemie würden die laufenden klinischen Phasen I und II zur Prüfung der Sicherheit durch Zusammenschieben und Zusammenlegen deutlich verkürzt („Teleskopierung“). Durch die Verkürzung üblicher Beobachtungszeiträume erhöhe sich das Risiko, dass Nebenwirkungen während der klinischen Prüfung unerkannt bleiben. Somit würden die beschleunigten Testphasen auch die gesundheitspolitische Verantwortung bei der staatlichen Vorsorge tangieren. Nur wenn eine Impfung sicher ist, kann man auch eine hohe Akzeptanz in jenen Bevölkerungsgruppen erwarten, für die ein schwerer Verlauf der Erkrankung kaum zu erwarten ist.
Die WHO fordert von einem Impfstoff, dass er mindestens sechs Monate, optimal ein Jahr und länger vor Covid-19 schützt. Dieser Nachweis ist noch offen. Leif-Erik Sander, Leiter der Forschungsgruppe Infektionsimmunologie und Impfstoffforschung an der Berliner Charité, betont, auch zu möglichen Nebenwirkungen lasse sich noch nicht allzu viel sagen. Zwar hätten sich nach Angaben der Unternehmen keine sicherheitsrelevanten Nebenwirkungen gezeigt. Sander verweist aber darauf, „dass der Beobachtungszeitraum für relevante Impfnebenwirkungen noch zu kurz ist“ (vgl. ORF, online 10.11.2020).
Unklar sei auch, ob der Impfstoff in verschiedenen Gruppen – insbesondere Risikogruppen wie älteren Menschen – gleichermaßen effizient wirkt. Ebenso fehlten Angaben dazu, wie sehr die Impfung vor schweren Verläufen von Covid-19 schütze. Sollte sich die hohe Wirksamkeit von mehr als 90 Prozent bestätigen, „wäre dies eine unerwartet hohe Impfeffizienz“, so Sander. Viele routinemäßig eingesetzte Impfstoffe wie etwa gegen Influenza erreichten keine so hohen Werte. „Dies ist umso erstaunlicher, als mit der mRNA-Technologie noch nie ein Impfstoff zugelassen wurde.“
Der von Pfizer und Biontech entwickelte Impfstoff wirft auch logistische Fragen auf: Er muss bei minus 70 Grad gelagert werden, bei Kühlschranktemperatur bleibt er nach Firmenangaben voraussichtlich nur etwa fünf Tage stabil. Der SARS-CoV-2-Impfstoffkandidat des Pharmakonzerns Sanofi soll nach Angaben des Unternehmens bei normaler Kühlschranktemperatur gelagert werden können (vgl. Deutsches Ärzteblatt, 16.11.2020).
Anfangs wird es jedenfalls viel zu wenige Impfdosen geben, um die gesamte Weltbevölkerung durchzuimpfen. Pfizer sieht sich in der Lage, bis Ende des Jahres bis zu 50 Millionen Impfstoffdosen zu liefern. Im nächsten Jahr könnten bis zu 1,3 Milliarden Dosen hergestellt werden. Die meisten derzeitigen Impfstoffkandidaten werden in zwei Dosen im Abstand von ca. vier Wochen verabreicht. Wenn etwa für Europa 300 Millionen Impfdosen eines Herstellers vorliegen, können damit höchstens 150 Millionen Menschen geimpft werden. Dies wirft ethische Fragen auf: Wer soll den Impfstoff zuerst bekommen? Hier würden grundrechtlich relevante Werte berührt, weshalb es eine klare gesetzliche Regelung braucht, betonte der Deutsche Ethikrat in einer kürzlich gemeinsam mit dem RKI und der Leopoldina veröffentlichten Ad hoc-Stellungnahme (vgl. Pressemitteilung, 9.11.2020). Priorisierungskriterien müssten der Bevölkerung verständlich und nachvollziehbar dargelegt werden. Eine undifferenzierte, allgemeine Impfpflicht lehnt der Deutsche Ethikrat ab: Impfungen würden prinzipiell eine aufgeklärte, freiwillige Zustimmung voraussetzen.
Derzeit laufen 136 klinischen Studien von 57 verschiedenen Impfstoffen gegen Sars-COVID-19 in 37 Ländern weltweit (vgl. https://covid19.trackvaccines.org/). Ein weiterer Kandidat könnte ein vom US-Biotechkonzern Moderna entwickelter Impfstoff sein (vgl. British Medical Journal 2020;371:m4347. doi:10.1136/bmj.m4347 pmid:33168562). Demnach soll der Impfstoff einen Schutz von 94,5 Prozent vor Covid-19 bieten. Auch eine Entwicklung von AstranZeneca/Universität Oxford scheint vielversprechend: Der britische Impfstoffkandidat gegen Corona zeigt in Phase-2-Tests weniger Nebenwirkungen bei Senioren als bei jungen Menschen (MDR-Wissen, 19.11.2020) und bietet nach eigenen Angaben einen Schutz von 70 Prozent. Wie lange der Schutz anhält, ist allerdings noch bei keinem der Produkte geklärt.
Erst mit einem Impfstoff könne die Welt wieder dauerhaft zu einer Form der Normalität zurückkehren, heißt es. Kritische Beobachter sehen die Lage nüchterner: „Da momentan niemand weiß, wie lange eine Impfung gegen Sars-CoV-2 tatsächlich schützt und jeder Geimpfte das Virus trotzdem verbreiten kann, gilt bisher, dass die Impfung kein Allheilmittel ist und die Pandemie auch 2021 noch nicht beendet sein wird“, schreibt etwa der Wissenschaftsjournalist Mathias Terltilt in Quarks (29.9.2020). Die bisherigen Hygiene-, Abstands- und Maskenmaßnahmen werden also auch weiterhin ein wichtiger Teil einer Gesamtstrategie sein, um die Ausbreitung einzudämmen.