Über die Zumutbarkeit des Lebens: Aus religionsphilosophischem Blick
Zusammenfassung
Die klassische Theodizee ist in jüngster Zeit durch eine Biodizee variiert worden: durch die Anklage des Lebens als unerwünschter Zumutung. Damit gehen Sexualhedonismus ohne Fortpflanzung, Lebensfeindlichkeit und Anklage des eigenen „erzwungenen“ Geborenseins einher. Um die latente Zumutung des Lebens einigermaßen zu kontrollieren, werden Kinder „gemacht“, pränatal diagnostiziert, möglicherweise bei Krankheit oder Abänderung des Kinderwunsches selektiert. Darunter verbergen sich zwei anthropologische Konflikte: der Vorrang des eigenen rationalen Planens gegenüber einem Zulassen und die Scheu vor dem „Leidwesen Mensch“. Stattdessen wird radikal anders geantwortet, wenn Dasein nicht als Habe, sondern als Gabe gelebt wird. Die Zumutung des eigenen ungefragten Gegebenseins verweist letztlich auf einen unvordenklichen Ursprung, der nicht mit den Eltern identisch ist.
Schlüsselwörter: Biodizee, Kinderplanung, Leidwesen Mensch, Dasein als Gabe, Ursprung
Abstract
In recent times the classical theodicy has been variated by biodicy: by the accuse of life as an unwanted reasonableness. In consequence there follows sexual hedonism excluding reproduction, animosity against life und accuse of one’s own birth as a forced act. To control the latent demand as far as possible children are „made“, screened by PND, and maybe aborted if sick or if the wish for children changed. In these consequences there are to read two anthropological conflicts: the primordial rank of rational planning against admitting and the shyness in front of the „suffering character of human being“ in general. But the answer can be radically different if existence is not seen as self controlled „possession“, but as a gift. The demand of me being given to myself (without being asked) shows in the long run the way to an immemorial origin which is not identical with parents.
Keywords: Biodicee, Planning of Children, Suffering Character of Human Being, Existence as Gift, Origin
1. Anklage des eigenen Geborenseins
„Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‚Gesetz’ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein“, so Hannah Arendt.1 Damit ist aber auch der Urkeim von Zumutung getroffen: von den Eltern ohne eigene Zustimmung ins Leben befördert zu werden.
Das zeigt ein jüngst begründetes Verwerfen des eigenen Geborenseins als der fraglos verhängten Zumutung schlechthin. Für Ludger Lütkehaus kommt bei Arendt die lastende, unfreiwillig zu tragende Seite des Daseins zu kurz. Zwar zählt er sie nicht zu den „Halleluja-Positivisten des gebürtigen Lebens“, aber für ihn führen die Leitmetaphern vom „Geschenk des Lebens“ und vom „Licht der Welt“ gleichsam in undurchschautes Dickicht: Arendt trägt dem Dunkel des Daseins seiner Meinung nach nicht genügend Rechnung. Darum bemüht Lütkehaus die „Kronzeugen des Negativen“, die Pessimisten und Leidenden von Hiob über Platon, Shakespeares Hamlet, Schopenhauer bis zu Nietzsche gegen eine abendländische „Konversionsontologie“: „Ens et bonum convertuntur“, „Seiendes und Gutes verwinden sich“. Letztlich geht es Lütkehaus um eine Transformation der Theodizee zur Biodizee: Nicht mehr Gott, sondern das Leben selbst hat sich – erfolglos – zu verteidigen, ist es doch identisch mit ungewollter, unbestellter Existenz. Es sei nämlich besser, nicht geboren (nicht gezeugt) zu sein, denn „Zeugung und Geburt setzen die Unheilsgeschichte einer Schöpfung fort, deren Verursacher der erste war, der nicht an sich halten konnte“. Zustimmend wird Émile Cioran zitiert: „Die kriminelle Aufforderung der Genesis: ‚Wachset und mehret euch’, konnte nicht aus dem Munde eines guten Gottes gekommen sein“ – vielmehr aus dem Mund eines bösen, „dessen hemmungsloser Narzissmus seine Geschöpfe zum folgenreichsten aller Nachahmungsakte angestiftet hat“.2 Mit Cioran empfiehlt Lütkehaus „die Fortpflanzung zu entmutigen“, zumal die Enthaltsamkeit vom Zeugen heute kein Opfer mehr sei: „Ja, muss man denn noch überhaupt von ‚Opfer’ sprechen, wenn heute, im Zeitalter einer sanften Geburtenkontrolle, ganz ohne Verzicht, ganz ohne die Strapazen der Enthaltsamkeit der bequeme Heilsweg ins Paradies der Ungeborenen eröffnet ist?“3 Cioran wird der Satz unterstellt, er habe alle Verbrechen begangen, nur das eine nicht: Vater zu werden.
In solcher Biodizee gehen Sexualhedonismus, Lebensfeindlichkeit und Anklage der Eltern Hand in Hand. In dieser Ablehnung wirkt das mythische Grundgefühl nach, das Leben werde gewoben von blinden, mehr noch bösen Mächten, denen gegenüber es kein Entkommen gebe. Ob die unerbittliche Göttin griechisch ananke heißt, ob sie in der dreifachen Gestalt der nordischen Nornen auftritt: Sie fängt auch die Götter im unzerreißbaren Gespinst eines ungewählten Schicksals.
Nicht larmoyant wie Lütkehaus, sondern in der Sache bedenkenswert ist der bekannte Satz Theodor W. Adornos, es gebe „kein richtiges Leben im falschen“.4 Das Leben sei „so entstellt und verzerrt“, dass „im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben“ vermöge; Welt müsse „eigentlich fast bei einem jeden Menschen überhaupt notwendig zu Protest führen“.5
Ist das Leben also eine unzumutbare Zumutung? Und sollte man sie heute mit technischen Mitteln nicht eindämmen können?
2. Kontrollierte Zumutung: Das Kind nach Plan
Im geburtenarmen Europa „gibt es“ Kinder nicht einfach mehr. „Es gibt“ drückt ja eine Gabe und einen Geber, auch die Überraschung des Beschenkten aus. Stattdessen sind Kinder geplant und mit großer Selbstverständlichkeit „gemacht“: so selbstverständlich, dass die norwegische Stadt Otta Ende März 1999 eine „erotische Woche“ mit Sonderkonditionen anbot, um ein Kind mit dem Geburtsdatum 1.1.2000 zu zeugen. 2% der Kinder werden im Labor extrakorporal hergestellt, jedes dritte bis vierte Kind wird in den Industriestaaten abgetrieben. Aber auch, worauf Botho Strauß aufmerksam gemacht hat: Die gar nicht gezeugten, verhüteten Kinder lagern „wie eine Wolke“ über dem Land.
Viele von den verbleibenden werden frühzeitig „gescreent“, auf Mängel untersucht, die Eltern werden – aus ärztlicher Vorsicht – über prozentual mögliche Missbildungen des Fetus aufgeklärt, so dass sich die gute Hoffnung schon in den ersten Wochen nachhaltig trübt und jeder Arzttermin als neue Drohung anstelle von Erwartung steht.6 Elternschaft wird nach biologischer und sozialer Elternschaft getrennt (was möglich ist); Kinder können zwei Väter (einen biologischen, einen sozialen) und keine Mutter (oder auch mehrere) erleben etc. Oder die Frau „braucht“ mit ihrer Freundin ein Kind, um ihre Instinkte auszuleben, aber keinen Mann und bedient sich einer anonymen Samenbank.
In dieser Dichte sind die Konstatierungen erschreckend. Dem stehen natürlich Eltern gegenüber, die ihre Kinder immer noch als Gabe begreifen und als lebendige Überraschung annehmen.
Denken wir zunächst über die Hindernisse nach, die sich diesem Normalfall entgegenstellen, bewusst oder unbewusst, und zwar zunächst am schwierigsten Fall, dem nicht gesunden Kind und seinem verletzlichen Anfang, dem nicht gesunden Embryo. Hier fällt häufig das Stichwort, ein behindertes Kind sei der Mutter nicht zuzumuten. An zweiter Stelle kommt nicht selten die Wendung, auch dem Kind selbst sei seine Behinderung nicht zuzumuten. In Erinnerung ist der Fall eines jungen schwerbehinderten Franzosen, der seine Mutter verklagte (allerdings vom Gericht nicht Recht bekam), weil sie ihn nicht abgetrieben habe.
Worin besteht die Zumutung des Lebens?
2.1. Zumutung des nicht Selbst-Gemachten
Unterschwellig schwingt in der Erwartung der Eltern, an der „Zumutbarkeit“ des gewünschten Kindes technisch mitarbeiten zu können, meist etwas Unausgesprochenes mit. Vorgeburtliche Diagnostik ist Ausdruck einer Unruhe, die in Gewissheit übergehen will, und von dort in eine Reaktion: bei negativem Ergebnis nämlich in eine instinktmäßige Gegenwehr – eine Mentalität, die der Neuzeit grundsätzlich eignet. Sie entdeckt die einleuchtende Wahrheit, dass der Mensch nicht „fertig“ sei, sondern wesentlich von anderen mitbestimmt und erzogen werde, wie es zeitgleich auch Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) einprägt: „Bäume entstehen vielleicht (…), Pferde werden geboren (…); doch Menschen, glaube mir, werden nicht geboren, sondern gemacht.“7 Wenn sich diese Einsicht aber verselbständigt, das meint, aus dem Zusammenhang notwendiger Erziehung löst und den Menschen nur noch als rudis massa,8 als Rohstoff eigener Zwecke sieht, wird sie tatsächlich zu einer selbstsüchtigen Mentalität. Das „von mir nicht Gemachte“ löst dann eine Interessenabwägung bei den Beteiligten aus (allerdings nicht beim Kind). Abwägung überhaupt spiegelt einen inneren Vorbehalt wider (die klassische restrictio mentalis), was im Zweifelsfall dem Kind das Leben kostet. Es handelt sich im – meist durchaus unklaren – Empfinden der Betroffenen um ein ganzes Konfliktfeld, um mehrere „Schichten“ in den vorbewussten Denkvorgaben der gegenwärtigen Lebenswelt. Zwei Konflikte lassen sich unschwer ausmachen, doch liegt wohl noch eine tiefere und mühsamer herauszuarbeitende Vorentscheidung zugrunde, die einen unausgestandenen menschlichen Konflikt durch vorgeburtliche Diagnostik lösen will.
Am klarsten auf der Hand liegt zum ersten der Konflikt zwischen dem Lebensrecht des Kindes und dem verständlichen Wunsch der Mutter nach einem gesunden Kind. Es ist, abstrakter betrachtet, der Konflikt zwischen dem Defensivrecht des gezeugten Kindes auf Leben und dem ganz anders ansetzenden Anspruch der Mutter auf ihre eigene „Lebensqualität“ und zumutbare Mühe beim Aufziehen des Kindes. Ist dies aber nur ein Konflikt zwischen Mutter und (krankem) Kind?
Zum zweiten lässt sich nämlich vermuten, dass der mütterliche Konflikt selbst die Ausprägung eines tieferen gesellschaftlichen Zwiespalts ist, ja dadurch verdichtet und für ein ichschwaches oder wehrloses elterliches Bewusstsein gleichsam unentrinnbar wird. Was „alle“ denken, überrollt sozusagen mentalitätsmäßig das Individuum, sofern es sich nicht ausdrücklich dagegen wappnet. Was aber heute „alle“ zeitgeistig empfinden, ist der Konflikt zwischen einer unbearbeitbaren, sich allen Fortschritten der Medizin verschließenden Krankheit und der von technischen Meisterleistungen verwöhnten Welt. Es ist der Konflikt von gegensätzlichen menschlichen Haltungen: der Zwiespalt zwischen Annehmen und Verweigern des Ungeplanten, zwischen Austragen und Verändern des Unerträglichen, zwischen Erleiden und Abschaffen. In den chassidischen Gleichnissen steht auch die Erinnerung an die Fronarbeit des Volkes Israel in Ägypten: Dort hätten die schwangeren Frauen bis zur Stunde der Geburt auf den Feldern der Fronherren arbeiten müssen und das neugeborene Kind dann gleich zur Weiterverwendung (recycling) mit in den Lehm eingestampft. Aus solchen Lehmziegeln hätten nämlich die Ägypter besonders feste Häuser gebaut. Fronarbeit heißt hier, dass sich das unerwartet Neue, das Kind, in die verplante, aktive Arbeitswelt „einbauen“ lassen müsse.
2.2. Zumutung des „Leidwesens Mensch“
So betrachtet handelt es sich unausgesprochen um das Aufbrechen des alten Konfliktes zwischen passivem Zulassen des Unveränderlichen und aktiver Abwehr. Und wahrhaftig, es ist ein ernstzunehmender Konflikt, denn warum sollte nicht verändert, besser gemacht werden? Wer hätte nicht den Wunsch, bei einer festgestellten Schädigung des Kindes diesen Schaden aktiv beheben zu können? Wer würde schon leichter Hand oder auch heuchlerischen Sinnes zum Leiden raten wollen? Bedrängend wird die Frage aber dann, wenn im Zuge solchen Mitleids, ja unter Berufung auf das Mitleid nicht das Leiden, sondern der Leidende abgeschafft wird. Und eben dies bahnt sich heute ausgesprochen an, unter der Frage nämlich: Darf man einem kranken Kind sein eingeschränktes Leben zumuten? Muss man nicht aus Humanität einem Behinderten seine Behinderung ersparen? Übrigens auch einem Sterbenden sein Sterben? Einem Trauernden seine Tränen, einem Dürstenden seinen Durst, so könnte man fortfahren… Sind Trauer, Durst, Leiden nicht sinnlos?
Hier tut sich eine verwickelte psychische Lage auf, die nicht uneigennützig das Argument des Mitleids nutzt. Es tut sich sogar ein versteckter narzisstischer Boden auf. „Mitleid, das nicht zum wirklichen Mitsein mit dem Leidenden ethisch kultiviert wird, kann zu einer Reaktion der Abwehr und Projektion der eigenen Leidens- und Todesangst auf den leidenden Menschen werden. Dieser ist dann doppelt beladen mit seiner eigenen Not und den verworrenen Gefühlen der Abwehr durch den anderen. Mitleid und Brutalität liegen nur zu oft nahe beisammen. Im Extremfall kann dieser Abwehrmechanismus, der hinter dem Mitleid steckt, sich zum Wunsch auswachsen, die eigene unerträgliche Konfrontation mit dem Leiden und Sterben dadurch zu beenden, dass das Leben des Leidenden beendet wird.“9
Schließlich lässt sich unter einer solchen zeitgeistigen Mitleidsargumentation eine weitere gleichsam anthropologisch-archäologische Schicht freilegen. Bei tieferem Schürfen tritt zutage die Furcht vor der Endlichkeit und ihren hässlichen, kleinmachenden Eigenschaften. „Mängelwesen Mensch“ heißt es nüchtern bei Arnold Gehlen. Die Anthropologie trifft auf den eingewurzelten menschlichen Konflikt zwischen dem krummen und dem geraden Wuchs, wie Nietzsche es nennen würde, der einer der Verkünder des „prachtvollen Tieres“ als Material des Menschen war. „Adler und Panther“ stehen bei ihm als Vorbild des gelungenen Menschen, und die Schwächlichen und Verletzten, dem Leben nicht Gewachsenen seien dessen Beleidigung. „Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf“10 – das ist einer der markigen Sätze jener Lebensphilosophie Nietzsches, die einen geradezu archetypischen Instinkt anrühren und ohne Zweifel auch nicht einfach Unrecht haben, sondern etwas „Normales“ ausdrücken: dass es besser ist, gesund als krank zu sein, oder um es mit dem gängigen Slogan auszudrücken: besser reich und schön als arm und hässlich.Hinter dem Konflikt also die ewig wurmende Frage: Warum ist das menschliche Leben so defizitär angelegt? Und wenn es schon so ist, sollte man ihm nicht entrinnen dürfen? „Leidwesen Mensch“ nannte der Biochemiker Herbert Schriefers diese Befindlichkeit, unter streng naturwissenschaftlicher Betrachtung der Endlichkeit. Schwer wird es, darauf die gemäße Antwort zu geben, und sie leitet sich nicht aus der „Herstellung und Selektion gesunden Lebens“ ab. Wie weit ist es möglich, eine Kultur zu entwickeln aus dem „halb zögernden, halb beschwörenden Gedanken, dass wir vielleicht in Zusammenhängen leben, wo die erlittene Sinnlosigkeit mehr Sinn hat als alle rundum anerkannten Ziele und Zwecke“?11
3. Suche nach dem „festen Grund“ der Zumutung
3.1. Zwecklos, aber sinnvoll: das Leben
Denn: Ist das Kind nur eine Funktion seiner Eltern, zweckhaft an ihre Interessen gebunden, und sei es als „Wunschkind“? Natürlich ist ein solches interessegeleitetes Denken und Wünschen nicht illegitim, und natürlich ist jedes Lebewesen, auch der Mensch, nicht einfachhin außerhalb der Interessen anderer zu sehen. Relation gehört überhaupt zum Leben, und damit ist der Blick auf ein anderes Leben immer auch selbstbezogen gerichtet, oder eben zweckhaft. Im Blick auf ein Kind lauten die zweckbestimmten Fragen: Kann man oder frau es jetzt oder erst später oder gar nicht brauchen, wie weit passt es in den Rahmen des eigenen Lebensentwurfs? Nochmals: „Brauche“ ich ein Kind, um meine Instinkte auszuleben – wie es in der Diskussion um das „Recht auf ein Kind“ bei Homosexuellen oder auch im Namen geistig Behinderter zu hören ist?
Das zweckliche Fragen ist jedoch zu vordergründig, ja vielleicht ist nichts so gefährdet wie ein „Wunschkind“, denn der Wünschende „fällt unerbittlich in eine Haltung der Anmaßung gegenüber dem Kind und beginnt zweifellos unter dem Anschein von Sorge einen wahren Kampf mit dem Kind, um aus ihm das zu machen, was er sich selbst als Modell und Ideal gedacht hat. (…) da behandelt der Mächtige den schwachen Menschen als ein Wesen ohne Recht, weil er dort selbst der Gesetzgeber ist und das Schicksal der Untergebenen bestimmt.“12
Von daher ist schon die Zeugung eines Kindes in vitro als technische Planung anzufragen. Bereits die alteuropäische philosophische Ethik hat zur Klärung eine nicht von außen festlegbare Sinnhaftigkeit gegenüber dem Zweck entwickelt: Zwecklos, aber sinnvoll sind die Grundvollzüge menschlichen Daseins. Zwecklos: weil nicht einzig, ja im Entscheidenden nicht von der Zielbestimmung anderer abhängig; sinnvoll, weil in sich selbst stimmig, auch wenn niemand anderem mit diesem Leben „genutzt“ ist. Dies ist ein Boden, den die Zweckrationalität vermeidet, da sie hier an ein plus ultra des Daseins rührt.
Dieses plus ultra lässt sich zumindest durch eine Frage aufhellen: Sind es denn die Eltern, die Kette unbekannter Vorväter und Vormütter, die das Kind gewollt und ihrem Willen entsprechend „gemacht“ haben? Tatsächlich ist es so, dass die Eltern selbst dem Kind zwar die leiblichen und seelischen Vorgaben, den Genotyp, mitgeben, aber keineswegs im Sinne bewusster Formung. Weder kennen sie das Kind im Vorhinein, noch bestimmen sie (bisher) sein Geschlecht oder seine Anlagen; ihre Aufgabe ist viel mehr es kennenzulernen, als es zu erschaffen. Bestimmt sich aber das Kind selbst später, wenn es sein mitgegebenes Potential gestaltet, sich die eigene Form erarbeitet? So gefragt, lässt sich der Satz bejahen, allerdings bleibt nach wie vor jede Mitgift als datum bestehen. Daher müssen auch Eltern das Kind erst als Unbekanntes annehmen, ja, das Kind selbst muss sich später im Reifungsvorgang annehmen, seine Grenze und sein Nichtvermögen ebenso wie seine Mitte und sein Können. Es ist sich ja auch selbst durch seine Geburt „voraus“, und nicht nur ist das Leben mit Heidegger als ein „Vorlaufen in den Tod“ zu kennzeichnen, sondern umgekehrt: ist Geburt ein „Vorlaufen in das Leben“.
3.2. Über den Mut zur Wahrheit
Zumutung enthält wie viele deutsche Wörter das Wort „Mut“. Das verweist auf einen nicht selbstverständlichen Einsatz, sondern auf ein Geschehen oder auf ein Ziel, das Entschluss und Überwindung erfordert. Also auf etwas, das nur mit Ethos, dem Bewusstsein einer Pflicht, zu lösen ist. Vor jedem Ethos aber steht ein Logos, nämlich die Klärung, ob ein solcher Einsatz sinnvoll ist, wohin er führt und ob er damit der Ordnung des Wirklichen entspricht.
Im antiken philosophischen Verständnis ebenso wie im christlichen Denken bis zur Schwelle der Neuzeit wird Wirklichkeit vom Wahren her erfasst und gestaltet, noch vor dem Guten, vor aller Sittlichkeit, vor allem Handeln, sogar vor der Liebe und wesentlich vor dem Mitleid. Die klassische These lautet: Alles Sollen gründet im Sein.13 Entscheidend ist diese in der Moderne angefochtene These deshalb, weil damit der neuzeitliche Subjektivismus, der vom Betroffensein des Ego ausgeht, nachrangig wird. Anders formuliert: Logos meint jenen letzten Grund, der weder einer Entscheidung noch einer weiteren Begründung noch einer Anerkennung bedarf, um wahr zu sein; der weder aus dem Willen des Subjektes noch aus der Tathandlung des Menschen noch aus dem Streben des Lebens abgeleitet werden kann, vielmehr unbedingt in sich ruht. Logos steht für die sich selbst ausweisende Wahrheit.
„Die Wahrheit ist Wahrheit, weil sie Wahrheit ist. Es ist an und für sich für sie völlig gleichgültig, was der Wille zu ihr sagt und ob er mit ihr etwas anfangen kann.“14
Das sind bisher starke Sätze, die einer Hinführung bedürfen. Auf welchem „wahren“ Grund steht die Zumutung, so dass sie den festigt, der sie auf sich nimmt, aber auch den, der die Zumutung stellt, sogar die Zumutung „ist“? Und wie wird dabei das subjektive Leiden, das ja gleichfalls wirklich ist, aufgefangen?
3.3. Die Weisheit des Mythos: Untergang des eigenen Wollens und Aufstieg ins Neue
In einem ersten Zugang zu verschiedenerlei Zumutungen ist es hilfreich, die Bildwelt der Mythen aufzurufen. Der Mythos, die Saga, das Märchen verdichten – je auf andere Art – Grunderfahrungen der Kulturen, wie Leben gelingt und misslingt, welche Ordnungen des Daseins zu wahren sind, wie das Künftige (aventure), nämlich das Abenteuer der Auseinandersetzung mit Welt und ihrem Widerstand zu bestehen ist. Abgekürzt lässt sich sagen: Mythen befassen sich mit der einen großen Zumutung des Lebens selbst.
Denn unter den Grundfiguren vieler Lebensreisen schält sich eine bestimmende heraus: das Bild vom erzwungenen Abstieg ins Ungewollte, Dunkle, (fast) Unbestehbare. In dessen Mitte vollzieht sich, wenn der Kampf aufgenommen wird, im Untergang des eigenen Wollens ein geheimnisvoller Umschwung. So muss die Schöne einem Tier als Braut folgen, die Königstochter mit dem Frosch ein Bett teilen, ein indischer König muss mit dem Schleppen von Leichen – der tiefsten Stufe der Unreinheit – seine unreife Regierung büßen,15 zu schweigen von den Helden, die durch Wasser und Feuer, über den Glasberg und durch den Drachenwald halbtot das nackte Leben retten. Und doch: Sie gehen ins Ziel als Sieger, während die Vorsichtigen und Listigen, die das Abenteuer des Lebens billiger haben wollen, leer ausgehen, weder die Braut noch das Königreich erben, oder – von der Heldin her gesprochen – nicht die Verwandlung des Bären in den Mann und König bewirken.
Solche mythische Weisheit steht in Verbündung mit einem Geheimnis. Weisheit ist vom Wortsinn her verwandt mit Wissen und videre = Sehen, aber auch mit Witz = Scharfsinn, der sich noch im Unwegsamen zurechtfindet. Dieses alte Bedeutungsfeld kreist um ein Wissen, das dem verstandesmäßig-zergliedernden „Bescheidwissen“ vorgängig ist: als Frucht überlieferter lebensweltlicher Erfahrung.
Weisheit gibt Weisung im Geheimnis des menschlichen Daseins, verflochten in die Welt der unsichtbaren hellen oder dunklen Mächte. Es ist verflochten in Zumutungen, die offenbar den tief-sten Kern der Person anzielen, ihn verletzen und aufbrechen, möglicherweise aber ebenso heilen, sichern und beglücken – wenn, ja wenn bestimmte Wahrheiten beachtet werden.
Deren grundlegendste heißt: das Dasein als Gabe leben, das Zugemutete als Gabe lieben – sogar noch ohne namentlich nach dem Geber zu fragen. Der „feste Grund“ der Zumutung besteht genau darin: Die Gabe verbirgt offenbar noch den Geber, aber sie verheißt, ihn im „Kampf“ mit dem Leben aufzudecken: „sich an dem Starken stärker aufzulehnen“, meint Rilke. Leben kommt in Gestalt des Widerstandes gegen den eigenen Willen, der Probe am Ungewünschten, der Härte – aber auch der Umwandlung, des Gelingens, des Gewinns.
Die eingangs geschilderte bedrängende Erfahrung, ungefragt in ein „unbestehbares“ Leben geworfen zu sein, steht in krassem Gegensatz zu dieser radikal anderen Sicht, in der das Leben als datum aufscheint. Die größte aller Gaben zeigt sich dabei nicht als Verhängnis, sondern als Urgabe: ins Dasein geschickt zu sein und, wenn die Sprache recht behalten soll: für das Dasein geschickt zu sein.
3.4. Dasein als Habe oder Gabe?
Die tiefste Bestimmung des Menschen heißt Sich-Gegeben-Sein. In diesem Dasein ist niemand Kopie, Sklave, ersetzbar von Tausenden, sondern selbst in seiner Grenze frei und einzig, wesentlich sogar sich selber „freigegeben“. Dieses Urgeschenk, da zu sein, verbindet sofort das Glück des Daseins mit der Grenze des Soseins. Sich in dieser Endlichkeit, in bestimmter und damit begrenzter Gestalt vorzufinden, fordert gute wie selbstzerstörerische Versuche heraus, sich selbst anders und gegen die Grenze zu gestalten. Wird diese „Autonomie“ als Macht verstanden, Endlichkeit und datum/Gabe überhaupt nicht anzuerkennen, wird die Freiheit des Geschenktseins aufgehoben, in ein Verschlossensein gegenüber sich selbst umgewandelt.
Niemand hat sich selbst ins Leben gesetzt; wir stammen aus unvordenklichem Ursprung. Genitum non factum, „gezeugt, nicht geschaffen“ heißt es im Credo vom Sohn. Darin steckt übertragen ein tiefes Geheimnis: Wir sind nicht von den Eltern nur blindlings „gemacht“. Dass es mich gibt, auch wenn ich „geplant“ war, hängt nicht von ihrem Wollen ab; im Gegenteil, Eltern müssen das Kind ja erst kennenlernen. „Der Sohn ist nicht einfach hin mein Werk, wie ein Gedicht oder wie ein fabrizierter Gegenstand; er ist auch nicht mein Eigentum. Weder die Kategorien des Könnens noch die des Habens können das Verhältnis zum Kind anzeigen. Weder der Begriff der Ursache noch der Begriff des Eigentums erlauben es, die Tatsache der Fruchtbarkeit zu erfassen.“16
„Bei unserer Geburt sind wir, ohne darum zu wissen und ungefragt, bei der Verbindung der Eltern aus feuchtem Samen geboren worden. Doch wir sollten nicht Kinder der Notwendigkeit und der Unwissenheit bleiben, vielmehr Kinder der Erwählung und der Erkenntnis werden“:17 Justinus Martyr (+165) meint damit die Erkenntnis, aus einem unverfügbaren Ursprung zu stammen.
Kindsein zeigt daher nicht nur beispielhaft die unleugbare menschliche Bedürftigkeit einer Annahme durch andere an, die sich in Geburt und später wieder bei Krankheit und Sterben meldet. Kindsein zeigt nach Augustinus auch einen Urwillen an: „Ich will, dass du seist.“ Das ist das unabänderliche Glück jedes menschlichen Anfangs; von daher verbietet sich seine Zerstörung. Die „Seligkeit, gewollt zu sein“, und zwar unabhängig vom Wunsch der Eltern, macht die Zumutung des Lebens erträglich.
Das „Voraus“ unserer Geburt, das Geschenk, das wir sind, lässt sich dadurch einholen, dass wir anderen dieselbe Geburt gönnen, die eigene Erwählung ins Leben einräumen. Das ist vorbehaltloser Umgang mit dem Urgeschenk: dazusein.
Selbstverständlich ist zu fragen, ob mit dem vorgeburtlichen Leben behebbare oder linderbare Schäden verbunden sind, die behandelt werden sollen. Aber nicht ist das Kind selbst ein Schaden – dass andere es als solches betrachten, berührt das Datum seines Daseins nicht. Wo Zukunft nur durch Machen oder Abschaffen festgelegt wird, ist sie nicht mehr zukünftig. Weit entfernt ist solches Denken einer leeren Zukunft, die nur durch willentliche Planarbeit aufgefüllt werden könne, vom Denken ungeschuldeter, außerhalb aller Planung liegender Fruchtbarkeit. „Freiheit, Gnade und Leben sind tief miteinander verwandt. Sie haben den gemeinsamen Nenner: ‘zwecklos, unverdient, unentgeltlich geschenkt zu sein’. (…) Deshalb schläft die Hoffnung, schläft das Kind, ohne den Schlaf als Brücke zwischen Arbeit und Arbeit einzuplanen.“18
Arbeit heißt Labor im Lateinischen. Das Kind lebt jenseits der Arbeit und stammt nicht aus dem Labor; es ist aus seinem Dasein heraus gerechtfertigt, unbeschadet seiner möglichen Versehrtheit. Diese ist unschuldiger Spiegel eigener, unangenehmer, unangenommener Versehrtheit, die wir scheuen, obwohl sie durchgängiges Kennzeichen der jetzigen Existenz ist. So wird gerade der Umgang mit dem Kind zum Maßstab einer Kultur: Kennt sie, übernimmt sie dessen „allgerechtfertigtes“ Dasein? „(…) unbekümmert landest du durch den Schleier ihrer Schmerzen“19 – ja, (kindliches) Leben hat ein Recht darauf, unbekümmert zu sein.
4. Geheimnis der Zumutung: theologisch
„Zumutung“ ist ein zu dunkler Name für die Gabe des Daseins und die unablässigen Herausforderungen, an den Gaben zu arbeiten. Vielmehr öffnet sich in der Zumutung ein zutiefst personaler Wille: nicht allein die eigene Selbstannahme oder Selbstverweigerung, sondern auch ein vorgängiger Wille, der wollte, dass ich sei und dass ich so sei.
Zum Charakter des Geheimnisses gehört im Unterschied zum Rätsel, dass es nicht aufgelöst wird und mit der Lösung verschwindet. Vielmehr wird es erhellt und bleibt gerade in seiner Mischung von Klärung und unerschöpfter Tiefe von großer Wirkung. „Geheimnis aber ist Übermaß von Wahrheit; Wahrheit, die größer ist als unsere Kraft.“20 Alles Grundlose ist Geheimnis. Zu diesem Grundlosen gehört bereits unser Anfang.
Was ist Anfang? Es ist mehr als ein Startpunkt, der sofort verlassen wird. Schon das ist dem Alltagsdenken nicht selbstverständlich. Freilich gibt es einen Anfang, der sofort versinkt, wenn er getan ist: initium, der zeitliche Start. Aber der zweite, wichtigere Anfang heißt principium, der gegen alle Veränderung standhält und das Kommende beherrscht. Dieser prinzipielle Anfang stammt aus einem Bereich, in dem die Existenz an ihr schicksalhaftes Geheimnis stößt. Wo liegt der eigene Ursprung? Im Grimmschen Märchen vom Fundevogel wird das hoch oben im Adlernest ausgesetzte Kind durch ein Gewand und eine Goldkette als von königlicher Herkunft markiert. Kinder sind Findlinge aus hohem Hause. Die Mythen wissen vom Paradies als dem wahren Ursprungsort des Menschen. Die elterliche Aufgabe, jedenfalls im Märchen, ist eher, dies auf Umwegen der Schuld, eigensinniger Verblendung mühselig zu erkennen, das Kind endlich als „Lehen“ gnadenhaft anzunehmen. Nicht selten wird das unbegabte oder ungewollte oder früh hinausgeworfene Kind Träger des großen Glücks.
Biblisch gedeutet ist der Anfang des Menschen ein wundervoller Anruf, der nicht von den Eltern kommt – ein unverfügbarer Ruf. Von diesem sieghaften Gewolltsein gegen alle menschlichen Widerstände weiß die religiöse Überlieferung, wissen auch die Mythen. Übersetzt man sie in Reflexion, so heißt dies: Es ruft ein Wille, nicht einfach eine gestaltlose Urmacht oder eine dumpfe, unbewusste Allnatur. Ein ungeheurer Wille – so Augustinus – schafft mich rufend, wie ich bin, selig, dass ich bin. Dieser Wille ist Glück, unerhörte Seligkeit. Dasein lebt daraus, gewollt zu sein – als Geschenk, grundlos, „umsonst“, gratis e con amore. Solches Glück ist unerschöpflich, endlos kraftvoll. Daraus beziehen Frauen, Männer, Kinder im Märchen, ob niedrig oder hochgeboren, ob arm, töricht, gescheit oder reich, ihre Kraft – vom Glück des Anfangs her wittern sie das Glück des Ausgangs, das unzerstörbare Gelingen. Daraus hebt immer wieder alles neue Beginnen an, das nicht zu Entmutigende trotz aller Rückschläge, der Verkennungen, der Arbeiten in Küche und Stall, unter den Schlägen der Stiefmutter und des bösen Vaters. Sogar die selbstverschuldeten Fehler sind Anlass, sich weiter ins Bestehen des Abenteuers hineinzuwerfen. Alle wüsten Pelzhüllen löschen das Sternen-, Mond- und Sonnenkleid Allerleihrauhs nicht aus; die Existenz des Menschen wahrt bleibend ihren königlichen Anfang.
Kinder sind – gerade an Neugeborenen erfahrbar – Träger dieses „währenden Anfangs“,21 Kinder der Gnade. Aus ihrer Grundlosigkeit stammt alles neue Beginnen, eine unvergängliche Kraft macht das Leben möglich. Überhaupt wo Neuheit ist, Überraschendes, Einbruch, Aufwecken, lebt es aus dem ersten, unvergänglichen Anfang.
Umgekehrt: Wo immer Zukunft als das Neue und Überraschende, nicht zu Berechnende verplant wird, wo Kinder als Symbol der Zukunft verstoßen, ausgesetzt, gar ermordet werden, ist die Gnade dieses Anfangs für die Erwachsenen unwirksam, sie wird als erste, alles tragende, alles wollende Kraft ausgeschlossen. Und Verschließung ist möglich. Niemand kann sich gegen die Urtatsache wehren, sich geschenkt zu sein – und doch wird eben das versucht, von jeder Person seit Adam. Warum das so ist, wie das sein kann, gehört in den unentschlüsselbaren Bereich des Bösen. Es ist in seinem Urbestand „empörte Endlichkeit“.22 Empörung gegen das Geschenktsein nämlich, Empörung gegen den Dank – man denke nur an die Anklage gegen das Geborensein zurück. Daraus stammt aber die Preisgabe, das Verworfensein, die Angst. Guardini hat immer der Angst als „Existential“ des Menschen widersprochen, wie es der Existentialismus in der Nachfolge Heideggers als Urangst des Geworfenseins behauptete. Angst ist vielmehr ein Zweites, nach der Verweigerung des Geliebtseins nämlich, nach dem Misstrauen dagegen; das Erste ist Geliebtsein und Wiederlieben. „(Liebe) ist die Macht des Anfangs schlechthin“,23 heißt es wörtlich.
Alle Angst, alle Trauer über die Endlichkeit sind Ausdruck des verlorenen Ersten, das wir mit dem Wort „Paradies“ eher zudecken als erhellen. Dem Verlust der ersten Liebe entspricht das Grundgefühl der Schwermut. „In gewissem Sinn kann man sagen, dass das Paradies in unserem Leben mitgegeben ist, aber als verlorenes. Daraus entspringt der tiefe Strom der Schwermut, der durch die Geschichte fließt: dass an ihrem Anfang kein nur natürlicher Beginn steht, der sich dann entfaltete; keine einfache Kindheit, die zur Reife heranwüchse, sondern eine verlorene, göttlich-große Möglichkeit. Hier liegt die Wurzel der Tragik unseres Daseins.“24
Hier liegt die Tragik auch der Kindheit, aller frühen Jahre; sie sind noch Nähe zum Ursprung. Kindheit ist nicht einfachhin Glück. Es scheint Kindheiten zu geben, in denen der noch unbewusste Schmerz über ein unbekanntes Verlorenes stärker wirkt als die ebenso unbewusste Freude am Geliebtsein, oder wo sich zumindest beides untrennbar durchdringt – Zeichen einer Nähe und Ferne zum Göttlichen. Darin hat auch der alte Vers seine Richtigkeit:
„Wissend diz leben ein ellend si
nit ein seligkeit –
Herr, brich ùf unser gefängnuß
als wie die bäch in föhnen.“25
All das meint „Geheimnis des Lebens“: Seligkeit, Verlorenheit, Neubeginn, Voll-Endung aus währender, unversieglicher göttlicher Anfangskraft. Heimisch werden im Geheimnis dieser Zumutung und nicht in Ort und Zeit – das ist die lebenslange Aufgabe.
Referenzen
- Arendt H., Vita activa oder Vom tätigen Leben, Piper Verlag, München (1981), S. 243
- Lütkehaus L., Natalität. Philosophie der Geburt, Die graue Edition, Kusterdingen (2006), S. 102 f.
- ebd., S. 106
- Adorno Th. W., Minima moralia, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (1951), S. 59
- Adorno Th. W., Probleme der Moralphilosophie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (1996), S. 248
- vgl. Nicklas-Faust J., Pränataldiagnostik – Segen oder Fluch?, Imago Hominis (2012); 19(4): 249-259
- Erasmus, De pueris statim ac liberaliter instituendis (1529), in: Opera omnia, Lugduni Batavorum 1703, I, p. 493 B: „Arbores fortasse nascuntur (…), equi nascuntur (…); at homines mihi crede, non nascuntur, sed finguntur.“
- ebd., p. 493 E
- Virt G., unveröfftl. Ms. des Vortrags vom 4.11.1994 in Salzburg
- Nietzsche F., Also sprach Zarathustra. Kap. Von Kind und Ehe, Kröner Verlag, Stuttgart (1933), S. 86
- von Matt P., in: FAZ vom 17.5.1997
- Montessori M., Gott und das Kind, Verlag Herder, Freiburg (1995), S. 28
- Pieper J., Die Wirklichkeit und das Gute, Kösel Verlag, München (1949), S. 11: „Alles Sollen gründet im Sein (…) Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße. Wer das Gute wissen und tun will, der muß seinen Blick richten auf die gegenständliche Seinswelt. Nicht auf die eigene ‚Gesinnung’, nicht auf das ‚Gewissen’, nicht auf die ‚Werte’, nicht auf eigenmächtig gesetzte ‚Ideale’ und ‚Vorbilder’. Er muß absehen von seinem eigenen Akt und hinblicken auf die Wirklichkeit.“
- Guardini R., Vom Geist der Liturgie (1918), Verlag Herder, Freiburg (1983), S. 138
- Zimmer H., Abenteuer und Fahrten der Seele, Diederichs Verlag, Köln (1977), S. 210-245
- Levinas E., Die Zeit und der Andere, übers. v. L. Wenzler, Meiner Verlag, Hamburg (1989), S. 62
- Iustini Martyris Apologiae pro Christianis. Apologia 61, Verlag de Gruyter, Berlin (2005), S. 213
- Ulrich F., Der Mensch als Anfang. Zur philosophischen Anthropologie des Kindes, Johannes Verlag Einsiedeln (1970), S. 146
- Eschbach M., Kindlich kleiner Kosmonaut, in: dies., Das weiße Kleid. Gedichte, Johannes Verlag, Einsiedeln (1986), S. 60
- Guardini R., Der Anfang aller Dinge. Meditationen über Genesis. Kapitel I – III, Werkbund Verlag, Würzburg (1962), S. 17
- ebd., S. 16
- Guardini R., Die Annahme seiner selbst, Werkbund Verlag, Würzburg (1953), S. 19
- Guardini R., „Anfang“. Eine Meditation, Privatdruck, München (1962), S. 9
- Guardini R., Der Anfang aller Dinge, S. 121
- Inschrift in der Kirche von Greifensee bei Zürich
em. Univ.-Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Hochschule Heiligenkreuz/Wienerwald
Privat: Fichtestr. 5, D-91054 Erlangen
hanna-barbara.gerl-falkovitz(at)tu-dresden.de