Schafft sich die Bioethik selbst ab?
Täglich hören wir in den Medien und im beruflichen Alltag das Wort (Bio-)Ethik. Jeder Betrieb hat seine eigenen ethischen Richtlinien, jedes Krankenhaus und jede Nation eine Ethikkommission.
Noch nie wurde das Wort „Ethik“ so oft in den Mund genommen. Proportional dazu sollte sich unsere Welt bald in einem nahezu paradiesisch (bio-)ethischen Zustand befinden. Die Frage ist nur, ob den Einzelmenschen diese ethische „Berieselung“ noch betroffen macht und zur fundamentalen Frage nach Gut und Böse herausfordert oder ob wir die (bio)-ethische Zukunft gleichgültig dem Zweckopportunismus und einer formalen Verfahrensethik ohne philosophische Grundsatzdiskussion überlassen.
Letztere Option wurde bevorzugt als die Zukunft der Bioethik beim 11. Weltkongress für Bioethik angesehen. Dieser von der International Association of Bioethics1 (IAB) organisierte Kongress fand unter dem Titel „Thinking Ahead. Bioethics for the Future. The Future of Bioethics. Challenges, Changes, Concepts” von 26. – 29. Juni 2012 in Rotterdam in den Niederlanden statt. Im Folgenden sollen in Grundzügen die wesentlichen Punkte zusammengefasst werden, wie sich die Veranstalter und Hauptvortragende des Kongresses die Zukunft der Bioethik vorstellen.
Eine Bioethik der rationalen Zweckmäßigkeit
Wozu noch weiter eine Grundsatzdiskussion um Grundwerte wie Menschenwürde oder Menschenrechte führen, die doch letztlich nichtssagend sind, meinten die Veranstalter. Selbst der Respekt als ethisches Soll gegenüber frühem menschlichen Leben sei nicht zielführend. Ganz auf dieser Linie bereute etwa die britische Philosophin Helen Mary Warnock den von ihr im Zusammenhang mit der In-vitro-Fertilisation in England eingeforderten Respekt gegenüber menschlichen Embryonen. Der soziale Nutzen der Forschung an menschlichen Embryonen sei doch weitaus größer als der den menschlichen Embryonen zugefügte Schaden. Da der abstrakte Wert menschlichen Lebens keinen Sinn ergebe, müsse viel mehr rational zwischen individuell lebenswertem menschlichen Leben und menschlichem Leben an sich unterschieden werden. Fortschrittliche Ethik bedeute nicht philosophische Reflexion, sondern rationales und geplantes Kalkül sowohl am Lebensanfang als auch am Lebensende. Konsequenterweise benötigen wir daher auch für unsere alternde Gesellschaft ein Konzept des geplanten vernunftgemäßen Sterbens mit Hilfe eines medizinischen Personals, dessen erste Aufgabe es in Zukunft sein soll, Leiden zu vermeiden auch mittels Euthanasie. Schließlich sei ja das Leben eines jeden demenzkranken Menschen aus gesellschaftlicher Sicht zweck- und lustlos und daher wertlos, so Warnocks Resümee. Bereits 2008 hatte sie ja eine Kontroverse zum Thema Euthanasie ausgelöst, als sie für ein Recht auf Sterbehilfe für die demente Menschen plädiert, die ihr Leben als Last für sich oder für andere empfinden.
Warnock widerspricht sich in ihren Überlegungen selbst, wenn sie demenzkranken Menschen nicht einmal ein individuell lebenswertes Leben zuerkennt. Wer von uns kann denn wirklich aus der Perspektive der 3. Person beurteilen, ob das Leben demenzkranker Menschen sinnlos ist? Kommt die Diagnose „Demenz“ in Zukunft einem vorauseilenden gesellschaftlichen Todesurteil gleich? Welche qualitativen Eigenschaften werden in Zukunft alternde Menschen haben müssen, um vor einer Ethik der rationalen Zweckmäßigkeit ohne verbindliche Menschenwürde bestehen zu können? Wird ein rationales auf Zweckmäßigkeit ausgerichtetes Denkvermögen denn überhaupt dem Anspruch eines ethischen Urteils gerecht?
Eine Bioethik der Technik und Methode
Auch darauf gab es eine Antwort: „Moral enhancement by cognitive enhancement“. John Harris, Professor für Bioethik und Direktor des Institute for Science, Ethics and Innovation an der Universität Manchester sieht im Cognitive Enhancement, d. h. in pharmakologischen und technischen Eingriffen, die unser Denkvermögen über das Natürliche hinaus steigern, die große Chance, unser menschliches Denkvermögen so zu verbessern, dass eine vorausschauende rationale Ethik in Zukunft für alle Menschen möglich sein wird. Dank neuer Technologien wie Nano- und Robotertechnologie werde dem Menschen zu neuer Urteils- und Sinnesschärfe und damit zu einer globalen Vernunftethik verholfen. Mit diesen neuen Technologien wird sich die Ethik jede Grundlagenfrage über den Menschen als Wesen an sich ersparen, so Harris. Der Mensch wird dann frei von jedem gefühlsmäßigen ethischen Urteil sein. Tatsächlich übernimmt die Technik bereits am Lebensbeginn substantielle Aufgaben der Ethik: In England werden nach In-vitro-Fertilisation durch klinische Graduierung (Einteilung der Embryonen nach Zellzahl, zellulärer Regelmäßigkeit, Fragmentierung…) menschliche Embryonen entweder zur Implantation in den Mutterleib oder zur Forschung freigegeben.
Auch hier ein kritischer Einspruch: Werden Menschen, deren Denkvermögen pharmakologisch verbessert wird, wirklich autonome Menschen sein, die verantwortlich ethische Entscheidungen treffen können? Sind sie nicht vielmehr passive Produkte/Werkzeuge einer zweckorientierten Gesellschaft, deren Ziel es ist, sich der ethischen Verantwortung durch Anwendung von geeigneten Techniken und Methoden zu entziehen, um mit den Menschen am Anfang und Ende des Lebens beliebig umzugehen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich diese technischen Methoden gemäß einiger Vortragender des Kongresses hervorragend zur Anpassung anderer Kulturen an die so genannten westlich ethischen Errungenschaften eignen.
Eine Bioethik der kulturellen und geistigen „Harmonisierung“
Als eine dieser Errungenschaften stellte Els Borst-Eilers, ehemalige Gesundheitsministerin der Niederlande (1994 – 2002), die Einführung der Euthanasie in den Niederlanden vor. Die Vorreiterrolle der Niederlande in der Legalisierung der Sterbehilfe sei auf die komplette Trennung von Kirche und Staat und auf eine Regierung ohne Beteiligung einer christlichen Partei zurückzuführen. Derzeit gebe es in den Niederlanden eine Diskussion um sogenannte „unwilling doctors“, die wegen ihres Glaubens die Durchführung der Euthanasie verweigern und über die Zulassung der Euthanasie für Menschen, die ihr Leben als „erfüllt“ ansehen. Geht es nach den Zukunftsvisionen des Arztes und Medizinethikers Hans van Delden, Universität Utrecht, soll die Euthanasie in Zukunft als normaler medizinischer Eingriff betrachtet und so wie in der Schweiz auch außerhalb der medizinischen Praxis durchgeführt werden können.
Euthanasie sollte jedoch nicht nur als Privileg gelebter Autonomie für die reichen westlichen Industrienationen angesehen werden. Die „Sterbehilfe“ wäre ein ideales Mittel, um das Leid von Menschen in armen Entwicklungsländern zu stoppen, die keinen ausreichenden Zugang zu Analgetika haben, so die These von Margaret Pabst Battins, Professorin für Philosophie und Medizinethik an der University of Utah. Entsprechend der Forderung einer globalen utilitaristischen Ethik dürfen sich also die unterentwickelten Länder über diese einfache, billige Lösung freuen.
Allerdings: Diese Länder mögen zwar arm an medizinischen Ressourcen sein, den Reichtum kultureller Grundwerte haben sie im Gegensatz zur reduktionistischen Sichtweise des Westens nicht vergessen. Teilnehmer aus Indien, Pakistan, Singapur und Afrika zeigten sich empört über das westliche „Euthanasie-Angebot“. Für diese Länder ist einzig und allein gute palliative Versorgung die Lösung. Sie erwarten sich nicht mechanische Prinzipien mit einseitiger Betonung der Autonomie des einzelnen als Importware von den reichen westlichen Industrienationen, sondern leistbare Analgetika und Respekt gegenüber Werten wie Familie und Religion. Eine Bioethik ohne kulturellen und religiösen Kontext sowie ohne Solidarität sei überhaupt keine Ethik, klärte Aamir Jafarey, Chirurg und Professor am Centre of Biomedical Ethics and Culture in Karachi, Pakistan, seine westlichen Kollegen auf.
Zu einer auf Technik und Methode verkürzten Ethik mit dem Ziel zwingender Globalisierung ohne Berücksichtigung von Kultur und Glaube, die das Ethische von selbst verständlich sein lassen, hier ein Gedanke Dietrich Bonhoeffers: „…eine Ethik kann nicht eine Retorte zur Herstellung des ethischen oder christlichen Menschen sein…“ „Das Ethische hört (sonst) auf als ‚letztes’ Wort verstanden zu werden…, es kommt … zu einer erzwungenen geistigen und gesellschaftlichen Nivellierung.“2
Da nun nach Ansicht des IAB die Bioethik der Zukunft sich auf technische Lösungen und Zweckmäßigkeit konzentrieren soll, ist es wohl fraglich, ob in Zukunft noch Ethiker oder gar Philosophen benötigt werden oder ob es nicht besser wäre, alle ethischen Fragen von Naturwissenschaftlern und Technikern lösen zu lassen.
Über die Phänomenologie und E. Levinas zurück zu den anthropologischen Grundfragen
Eine kleine Gruppe von Philosophen des mehrheitlich von Philosophen und Ethikern besuchten Kongresses erkannte allerdings die Gefahr ihrer eigenen „Wegrationalisierung“ aus der Ethik. Für die Philosophen Catherine Mills, Diane Perpich, Stuart J. Murray und Dave Holmes liegt die Zukunft der Bioethik sehr wohl in der kontinentalen europäischen Philosophie, insbesondere in der Phänomenologie und Emmanuel Levinas’ Ethik. Die Phänomenologie fokussiert unseren Blick wieder auf das, was wir als Menschen selbst sind. Ethik kann sich nicht in allgemeinen Vorschriften und Prinzipien erschöpfen. Bioethikkommissionen sollen daher nicht – wie derzeit in den USA durch Präsident Obamas Initiative – zu technologischen Lösungskomitees ohne philosophische Hinterfragung degradiert werden. Diese Kommissionen seien vielmehr sinn- und bedeutungsgebende Organisationen, die mit Hilfe philosophischer Reflexion eine Lösung in Wahrheit „ertasten“. Gemäß Levinas müssen wir mittels gesellschaftlicher Erziehung unsere Verantwortung übernehmen. Sowohl die Freiheit als auch die Anerkennung der Menschenwürde eines jeden seien für Levinas ein sozial errungenes Produkt. Da wir den Sinn für das Geschenk des Lebens verloren haben, müssten wir aktiv für die Würde des Menschen eintreten. Eine technologische Verbesserung des Menschen (Human Enhancement) berge die Gefahr einer Aufteilung der Menschen in verschiedene Kategorien. Aus phänomenologischer Perspektive könnte eine technische Verbesserung des Menschen zu einer Änderung der „Verletzlichkeit“ des Menschen führen und somit das Band der Empathie zwischen den Mitmenschen schwächen. Der Mensch würde dann in seinem menschlichen Gegenüber die Spezies Mensch nur mehr eingeschränkt erkennen.
Abschließende Gedanken
Letztere Überlegungen zum Human Enhancement verdeutlichen, worum es in einer reflektierten Ethik basierend auf kontinental-europäischer Philosophie geht: nämlich um den je konkreten Menschen. Im Gegensatz dazu wird der Mensch in der utilitaristischen Ethik ausgeklammert. Die Betonung liegt auf der Suche nach einer formalen prozeduralen Methode, um die Ethik effizienter zu gestalten. Eine Ethik, die den einzelnen Menschen nur an seiner allgemeinen Zweckmäßigkeit misst und die Verbesserung ihrer Verfahrensmethode als höchstes Ziel sieht, macht sich zum Selbstzweck und schafft sich schließlich selbst ab.
Die Aktualität Emmanuel Levinas` eigenwilliger Philosophie und Ethik überrascht nicht, ist sie doch eine wichtige Antwort auf diese Verzweckung des Menschen im Dienste einer abstrakten Allgemeinheit und bloß allgemeiner Prinzipien. Levinas wendet sich in seiner Ethik gegen die Gleichgültigkeit eines allgemeinen Urteils, das den einzelnen Menschen zum Objekt degradieren kann. Der Andere und nicht ein allgemeines Prinzip sind Ausgangspunkt seiner Ethik. Der Blick in das Gesicht eines anderen Menschen zeigt den Anderen als schutzlos und erinnert den Menschen an das Gebot „Du sollst nicht töten“.3 Gemäß Levinas sind es die „schutzlosen Augen des Anderen“, des Embryos, des alten und dementen Patienten und des Leidenden der unterentwickelten Länder, die jedem einzelnen von uns nicht gleichgültig sein dürfen. Allgemeine utilitaristische Prinzipien hingegen übersehen den einzelnen Menschen. Die Eigenverantwortung für das menschliche Leben wird gering und die Hemmschwelle für Euthanasie und Vernichtung menschlicher Embryonen ebenfalls.
Bei Levinas wird der Andere als ganz Anderer geachtet, daher auch seine Kultur und sein Glaube. Denn der Mensch lebt nicht nur, um krampfhaft ethische Normen einzuhalten, sondern um das Leben zu genießen. Und das heißt ganz einfach täglich aus der Kultur und Kunst, der Freude des familiären Zusammenseins und der Religion zu leben. Oder haben wir in unserem Streben nach säkularer Einheitsethik das vergessen und müssen uns dies die sogenannten Entwicklungsländer wieder lehren? Levinas Philosophie macht deutlich, dass die Bioethik am Scheideweg steht: Entweder verstecken wir uns weiter hinter Mehrheitsvoten der Bioethikkommissionen, wo es nur um Verwirklichung von Zwecken und Wünschen der Allgemeinheit geht oder wir versetzen uns in den Anderen und beachten in Eigenverantwortung das Wohl des Anderen.
Die Entscheidung muss zugunsten der letztgenannten Option fallen, wenn es zuerst um die unverletzliche Würde des Embryos geht und nicht um die Forschung an embryonalen Stammzellen. Dann hat das Wohl des Kindes Vorrang vor der Erfüllung des Kinderwunsches um jeden Preis – auch für alleinstehende und lesbische Paare. Dann hat auch das Leben eines alten und dementen Menschen noch Sinn und Würde. Der Staat wird nur weiter Garant des Grundrechtes der unverletzlichen Menschenwürde sein, wenn wir aus der (politischen) Gleichgültigkeit zu einer Verantwortung für jeden Anderen erwachen.
Levinas hat einst der europäischen Philosophie vorgeworfen, auf der Suche nach der Erkenntnis der Wahrheit, den Logos, des Gesicht des Anderen ausgeblendet zu haben. So paradox es klingen mag: Gerade seine Philosophie könnte die säkulare westliche Bioethik wieder an die alten Grundfragen und -werte europäischer und griechischer Philosophie heranführen und sie an ihre eigentliche Aufgabe erinnern.
Referenzen
- Thinking Ahead, 11th World Congress of Bioethics, Rotterdam, 26-29 June 2012, International Association of Bioethics organised by ErasmusMC, Department of Medical Ethics and Philosophy of Medicine, www.erasmusmc.nl/ethiek_filosofie_geneeskunde/; bioethicsrotterdam.com (letzter Zugriff am 19. November 2012)
- Bonhoeffer D., Ethik, Tödt I., Tödt H. E., Feil E., Green C. (Hrsg.), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh (2006), S. 370-372
- vgl. Stegmaier W., Emmanuel Levinas. zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg (2009)
Dr. Margit Spatzenegger, Lic. bioethics
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Margit.Spatzenegger(at)gmx.net