Ärztliche Heilkunst im Dienste der Person

Imago Hominis (2002); 9(4): 229-236
Alfred Sonnenfeld

Zusammenfassung

Wird bei der Sterilitätsbehandlung mittels Laborbefruchtung die Ganzheit der Person, die im Reagenzglas entsteht, geachtet? Mit der Technik der In-vitro-Fertilisation kam es zu einem Ortswechsel bei der Entstehung des Menschen, womit die Intimität durch die „black-box“ nicht mehr gewahrt ist; der intime Raum der Ehe wurde gesprengt und entpersönlicht. Gegenwärtig arbeiten Forscher an einer vollkommen künstlichen Gebärmutter, die es uns ermöglichen soll, Föten außerhalb des menschlichen Körpers im Labor unter Glas heranwachsen zu lassen. Heute wie damals vor etwa 24 Jahren, als das erste Retortenbaby das licht der Welt erblickte, stellt man die Frage: Was für ein Kind wird aus der Flüssigkeit in einem Plastiktank hervorkommen? Besteht die Gefahr, dass diese Menschen sich emotional nicht voll entwickeln können? Einige Forscher sehen darin einen Triumph der modernen Wissenschaft, andere dagegen den Gipfel des Wahnsinns. Eine erneute Reflexion über den ärztlichen Behandlungsauftrag, dem Menschen in seiner leib-seelischen Ganzheit zu dienen, tut not.

Schlüsselwörter: Personale Leib-Seele-Einheit, Ehrfurcht vor der Ganzheit der Person, Laborbefruchtung, Überschreitung des Rubikon, Intimitätsverlust, besitzergreifendes Kinder-haben-wollen, Kinder als Frucht personaler Selbsthingabe und ehelicher Liebe

Abstract

When using artificial fertilisation in a laboratory as therapy for sterility is the integral completeness of the person conceived in a test tube taken into consideration? In-vitro-fertilisation has caused a change in place where a human being originates whereby intimacy is replaced by a “black-box” and the very intimate marriage act is omitted and the process becomes impersonal. At the present time researchers are working on a completely artificial womb which would make the growth to maturity of an embryo under glass outside of the human body possible. Today, the same as twenty-four years ago when the first tube baby was born, we must ask the question: what sort of a child will this be being born out of a plastic tank full of liquid? Is there not a danger that these children will not be able to fully develop emotionally? Many researchers see this possible development as a triumph of modern science, whereas others see it as the height of insanity. It is time for a renewal of reflection on the mandate of the medical doctor to treat human being as a body and soul union.

Keywords: Personal Body and Soul Entity, respect for the integrity of the person, fertilization in the laboratory, crossing over the Rubicon, loss of intimacy, exaggerated right-to-have-children, children as the fruit of personal self-surrender and the marriage act


 

Es gehört zum traditionellen Behandlungsauftrag der ärztlichen Heilkunst, dem Menschen in seiner leib-seelischen Ganzheit zu dienen. Gerade weil der Arzt bei jedem Eingriff den Menschen stets in seiner umfassenden Wirklichkeit antrifft, kann er sich nicht ausschließlich auf seine medizinische Methode zurückziehen. Er muss sich auch die anthropologische Frage stellen, ob das Heilverfahren, das er anwendet, der personalen Würde des Patienten gerecht wird.

Doch was ist unter dieser „Ganzheit“ zu verstehen? Woran kann man sie festmachen? Ist sie eine Besonderheit, die sich unseren Augen entzieht? Nehmen unsere Augen nur Teile der Ganzheit war? Kann das menschliche Auge nur den Leib und seine Bestandteile erkennen, oder vermag es darüber hinaus etwas zu erfassen, das sich hinter der reinen Biologie verbirgt? Im alltäglichen Sprachgebrauch trennen wir nicht zwischen seelischer Wirklichkeit und Leiblichkeit des Menschen; vielmehr erfahren wir unmittelbar unsere Einheit. Wir sagen nicht: „Meine Seele oder meine Muskeln haben Angst“, sondern „Ich habe Angst“; und wir meinen mit diesem „Ich" ganz selbstverständlich uns selbst als Menschen, die leiblich da sind und existieren. Auch die anderen Menschen erleben wir als eine solche Einheit. Wir sagen nicht: „Deine Seele denkt nach“, sondern „Du denkst nach“. Oder wir fragen: „Wie geht es Dir?“ und nicht: „Wie geht es Deiner Leber?“ Bei all diesen Fragen und Aussagen ist der andere für uns selbstverständlich eine Ganzheit, zu der seine leibliche Existenz ebenso unmittelbar gehört wie die Tatsache, dass er etwas denkt und sich etwas vorstellt.

Subjekt in der Medizin

Die „anthropologische Medizin“, die namentlich durch Wissenschaftler wie Ludolf von Krehl, Viktor von Weizsäcker und Richard Siebeck konzipiert wurde, gründet in ihrem Anliegen auf der Entdeckung des Subjekts, der Subjektivität und ihrer Bedeutung für das Krankheitsgeschehen, d.h. sie bemüht sich im von uns beschriebenen Sinn um den ganzen Menschen.

Im Vorwort zur 13. Auflage seiner „Pathologischen Physiologie“ sagt Ludolf von Krehl vom kranken Menschen: „Er ist nicht nur Objekt, sondern stets zugleich Subjekt.“1 Seine ärztlichen Beobachtungen richten sich somit auf den Menschen als Person, nicht bloß auf einen technisch zu behandelnden „Körper“. Die unabdingbare Dimension des naturwissenschaftlichen Objektivismus wird dabei durch die Subjekt-Analyse Krehls nicht vernachlässigt, wohl aber wesentlich ergänzt.

Einige Jahre später nimmt sich auch der Neurologe V. v. Weizsäcker vor, das Subjekt in die Biologie einzuführen. Diese erklärte Absicht bekundet er im Vorwort seines „Gestaltkreises“.2 Zu Beginn der 4. Auflage dieses Buches hebt er hervor, dass „die Einführung des Subjekts etwas anderes als die Einführung von psychischen Erlebnissen wie Empfindungen und Wahrnehmungen“3 ist. Das Subjekt ist somit für v. Weizsäcker nicht identisch mit der Psyche. Vielmehr verwirklicht es sich sowohl durch die Psyche als auch durch den Körper. Seele und Leib sind demnach zwei Konstitutivelemente der einen Person.

Leiblichkeit ist in dieser Hinsicht nicht identisch mit der objektivierbaren und ausmessbaren physiologischen Wirklichkeit. Sie ist etwas Umfassenderes, das notwendig auf das seelische Sein verweist. Wir haben nicht nur einen Leib, sondern wir sind auch unser Leib.4 Menschliche Identität ist stets die des ganzen und gänzlich individuellen Organismus. Wie sonst könnte ein Mann eine Frau lieben und nicht nur ihren Leib? Wie sonst könnten wir uns vom Zauber eines Lächelns angerührt wissen? Als Menschen dürfen wir nie bei der puren Anatomie oder der reinen Empirie stehen bleiben. Hinter einem Auge oder einem Lächeln verbirgt sich weit mehr als das bloß Augenfällige.

Andererseits ist die Seele Gestaltprinzip des Leibes. Sie ist dies nicht im Sinne des Platonismus, in dem man die These kennt, dass die Seele sich des Leibes bediene ähnlich wie der Steuermann des Schiffes. Weder der Steuermann, der das Boot steuert, noch der Gefangene, der im Kerker sitzt, taugen als Bilder für die Seele des Menschen, die mit ihrem Leib vereint ist. Sie sind viel zu stark der Ansicht verhaftet: „Die Seele, das ist der Mensch.“5 Bereits im 13. Jahrhundert, der Blütezeit des mittelalterlichen Denkens, hat der Theologe und Philosoph Thomas von Aquin ein derartiges dualistisches Menschenbild zurückgewiesen. Der Mensch, so sagt er, ist nicht „anima utens corpore“, eine Seele, die sich ihres Leibes wie eines bloßen Werkzeugs bediene.6 Damit meint er, dass der Körper nicht etwas lebloses sei, das von außen her zu verlebendigen sei. Vielmehr ist die Einheit zwischen Seele und Leib eine natürliche und wesenhafte.7 Die Seele ist Form ihres (und nur ihres) Leibes bis in die letzten Fasern und Regungen hinein. Das Leibliche andererseits ist so innerlich mit der geistigen Seele verbunden, dass es zu ihrer Vollkommenheit gehört. Diese Beziehung entsteht nicht etwa zwischen zwei in ihrer Wesenskonstitution schon zuvor vollendeten Seienden, vielmehr sind sie Prinzipien, die in ihrer Eigenheit erst im konkreten Ganzen des Menschen ins Dasein treten. Beide sind darum aufeinander angewiesen, nicht nur der Leib auf die Seele, sondern auch die Seele auf den Leib. Nur als Ganzer ist der Mensch Person. Weder Materialität noch Geistigkeit des Menschen, weder Körper noch Seele sind je für sich geschaffen denkbar. Der Mensch ist weder ein bloß biologischer Organismus noch lediglich Seele. Leib und Seele bilden eine substantielle Einheit: die Einheit der Person.8

Für einen Arzt geht es letztlich darum, seinen Patienten ganzheitlich als Person in den Blick zu bekommen und sein medizinisches Handeln auf die Person des Patienten und nicht nur auf seine Funktionsabläufe auszurichten.9 Auch das Erfassen von Psychopathologien10, die sich im Leib ausdrücken, kann sich lediglich auf Teilaspekte des Menschen beziehen. Erst die ontologische Frage nach dem Menschen wird dem Patienten in seiner Ganzheit gerecht. Dies wurde neben anderen von V. E. v. Gebsattel erkannt, der sich im Sinne des Philosophen Max Scheler um die Rehabilitierung der Ganzheit des Personalen bemüht hat. Von Gebsattel sah die konkrete Gefahr der Verengung des ärztlichen Blickfeldes gegeben, sobald die Autonomie des Personalen auf die apersonalen Mechanismen des Trieb- und Affektlebens reduziert wird.11 Als anthropologischer Psychotherapeut, der den Menschen nicht bloß aus der „Froschperspektive der autonomen Psychoanalyse" sieht, empfiehlt v. Gebsattel stattdessen, „den Menschen aus der Vogelperspektive zu sehen, d.h. aus einer Schau, welche die Ebene der menschlichen Freiheit und seine personale Würde mit berücksichtigt, ja diese als Ziel der Heilung den Störungsfeldern der Tiefenmechanismen überordnet.“12

Die ärztliche Auseinandersetzung mit der Not des Mitmenschen, wie sie Sören Kierkegaard als das Leiden an der „Krankheit zum Tode“ beschrieben hat, führt in die Mitte der personalen Existenz. Die personale Existenz aber kann letztlich nur aus einem Du-Verhältnis zum Transzendenten in personaler Wirklichkeit entspringen. Damit stoßen wir in die Mitte von Schelers Person-Phänomenologie: „Wie aber die Einheit und Einzigkeit der Welt...im Wesen eines konkreten persönlichen Gottes“ gegründet ist, „so ist auch alle Wesensgemeinschaft von individuellen Personen (...) allein in der möglichen Gemeinschaft dieser Personen zur Person der Personen, d.h. in der Gemeinschaft mit Gott“13 gegründet. Daraus schließt V. E. v. Gebsattel, „Personsein ist vom Mensch her gesehen ein Wagnis des Glaubens und von Gott her gesehen ein Akt der Liebe“. Dies würde auch für die Partnerschaft von Arzt und Krankem gelten.14

Kurt Hübner hat vorgeschlagen, als „personale Medizin“15  diejenige Seite der Heilkunst zu bezeichnen, die im Gegensatz zu der rein naturwissenschaftlichen steht. Doch handelt es sich hier keineswegs um Gegensätze, die sich ausschließen. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen verhalten sich vielmehr zueinander in der Weise der Komplementarität. Das zeigt sich schon darin, dass sich auch die personale Medizin in Diagnose und Therapie zugleich naturwissenschaftlicher Mittel bedient, auch medikamentös, apparativ usw. vorgeht. Aber sie belässt es eben nicht dabei.

Konsequenzen für das ärztliche Handeln: Beispiel Reagenzbefruchtung

Für das ärztliche Handeln hat das Gesagte gewichtige Konsequenzen. Die personale Leib-Seele-Einheit des Menschen impliziert, dass wir immer, wenn wir einen lebenden menschlichen Leib berühren, gleichzeitig einer menschlichen Person begegnen, auch wenn sie z. B. bewusstlos, gehirngeschädigt oder im Embryonalstadium16 ist.

Die Frage, ob ein Arzt diese personale Dimension des Patienten bei seinen Handlungen ausklammern darf, muss aus der Sicht der „personalen Medizin“ verneint werden: Denn die ärztlichen Heilverfahren, die der Arzt anwendet, sollen dem Patienten ja als Leib-Seele-Einheit dienen. Handlungen, welche diese leib-seelische Ganzheit in Frage stellen oder sie in irgendeiner Form instrumentalisieren würden, müssten als unerlaubt gelten.

Wie aber steht es mit der Sterilitätsbehandlung mittels Laborbefruchtung? Wird bei diesem ärztlichen Eingriff die Ganzheit der Person geachtet? Wie soll man die immer häufiger vorkommenden Äußerungen von Frauen verstehen, die „die reproduktionsmedizinischen Vorgehensweisen als im höchsten Maße degradierend erleben?“17

Anlässlich der intensiven biopolitischen Debatten der Gegenwart haben verschiedene Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft an das Ereignis vom 26. Juli 1978 erinnert, das mit Recht als eine Art „Überschreitung des Rubikon“ angesehen werden kann.18 Damals wurde das erste Retortenbaby geboren. Die Neuheit des Vorgangs bestand darin, dass der übliche Ort des Zusammentreffens von Samenzelle und Eizelle, nämlich der Eileiter, durch ein Reagenzglas ersetzt worden war. Was man scheinbar als einfachen Ortswechsel beschreiben kann, birgt in Wahrheit gefährliche Sprengkraft in sich, weil es den Lebensanfang des Menschen in etwas künstlich Machbares verwandelt.

Mit der extrakorporalen Befruchtung wird der Beginn des Lebens aus seinen natürlichen Zusammenhängen von liebender Vereinigung und Fortpflanzung gelöst und ins Labor verlegt. Damit widerspricht die künstliche Befruchtung der Natur des ehelichen Aktes, der personal, das heißt, ein Akt menschlicher Liebe ist. Es wäre falsch, wenn wir die menschliche Sexualität mit der Atmungs- oder Verdauungsfunktion gleichstellen wollten. Denn bei diesen Vorgängen handelt es sich nicht um personale Güter, sondern lediglich um physiologische Prozesse, die nur indirekt Träger personaler Güter sind. Sie unterliegen auch nicht unmittelbar der Herrschaft des menschlichen Willens. Sie können nicht unmittelbar durch Tugenden vervollkommnet oder durch Laster verwundet werden.

Dagegen weist der sexuelle Akt des Menschen weit über den physiologischen Kontext hinaus. Er bildet die unmittelbare anthropologische Grundlage fundamentaler menschlicher Güter. Der eheliche Akt ist der vollendete personale Akt einer Liebe, die von ihrem Ursprung her auf eine willentliche und verantwortliche Weitergabe des Lebens zielt.19

Durch die natürliche Zusammengehörigkeit von liebender Vereinigung und Fortpflanzung wird die Größe und Würde der ehelichen Vereinigung von Mann und Frau gewahrt. In ihrer personalen Dimension ist sie ein Akt freier, willentlicher, liebender Hingabe zweier Personen im Dienst an der Weitergabe menschlichen Lebens. Dieser Akt ist durch die künstliche Befruchtung empfindlich gestört, weil das Band zwischen Vereinigung, Fortpflanzung und personaler Liebe zerschnitten wird. Durch die künstliche Befruchtung ist die Technik in den bis dahin unverletzbar intimen Raum der Ehe eingedrungen und hat ihn entpersönlicht. 

Dass ihre Liebe zwei Eheleute dazu bewegen mag, nach einer Befruchtung im Reagenzglas zu suchen, wird damit nicht in Frage gestellt. Das Problem ist jedoch ein anderes: Die extrakorporale Befruchtung, die die eheliche Liebe verkörpern und ihr sichtbaren Ausdruck geben soll, insofern sie Quelle des Lebens sein will, ist objektiv kein Vollzug ihrer persönlichen Liebe, sondern eine technische Handlung, die ein Ärzteteam vornimmt, also kein direkter Akt ihres Zeugungswillens. Anders gewendet: Weil der eheliche Akt in seiner sexuellen und prokreativen Dimension durch den technischen Akt der künstlichen Befruchtung ersetzt wird, der nicht mehr unmittelbar Träger personaler Güter ist, wird er auf eine biologistische Funktion reduziert. Die „Herstellung“ eines Kindes im Labor ist von der intimen, persönlichen Dimension des ehelichen Zusammenkommens entkoppelt, und damit wird der Zeugungsakt seiner personalen Würde beraubt. Dies kann leicht zum Intimitätsverlust in der ehelichen Beziehung führen.

Gesunder Kinderwunsch versus besitzergreifendes „Haben-wollen“ eines Kindes

Doch nicht nur aus der Sicht des Zeugungsaktes selbst kann der Kinderwunsch eines Elternpaares noch nicht ein Beweggrund sein, der zur Vornahme der künstlichen Befruchtung berechtigt. Denn was bedeutet es eigentlich, „Kinder haben zu wollen“? Fortpflanzungsmediziner, die einem Ehepaar mittels Laborbefruchtung helfen wollen, legitimieren diesen Eingriff mit der inzwischen standardisierten Antwort, es gehe um die Heilung einer „Kinderwunschkrankheit“. Sind Frauen und Männer, die den legitimen Wunsch nach einem Kind verspüren, im üblichen Sinne des Wortes Patienten? Behandelt der Arzt eine Krankheit, oder erfüllt er einen Wunsch? Wenn der Arzt den Laserstrahl bei blockierten Eileitern benutzt, so behandelt er zweifellos einen krankhaften Zustand mit dem Ziel, dessen normale Funktion wiederherzustellen. Wenn er jedoch bei der gleichen Frau eine extrakorporale Befruchtung vornimmt, stellt er, auch wenn er erfolgreich ist, den Gesundheitszustand nicht wieder her. In diesem Falle behandelt der Arzt nicht die Ursache ihres Problems, die blockierten Leiter, sondern die Wirkung: ihre Kinderlosigkeit. Mehr noch, er benutzt ein Kind als Mittel, um den Wunsch eines Menschen zu befriedigen.

Problematisch wird diese natürliche Kinder-wunschsituation, wenn sie zu einer „forcierten Fruchtbarmachung“ wird. Wie die eindrucksvollen Berichte von betroffenen Frauen zeigen20, gerät die Argumentation der Reproduktionsmediziner leicht in eine Schieflage. Wenn Sätze zu hören sind wie: „Leben geben und zeugen ist nach allen religiösen und säkularen Positionen ein hohes Privileg und eine in moralischer Verantwortung wahrzunehmende Pflicht“21, dann wird die Gefahr erkennbar, dass unter dem Motto „Reproduktion ist Pflicht“ Druck ausgeübt wird. Auf jeden Fall wird in diesem gesamten Kontext der Kinderwunsch als besitzergreifende Geste gedeutet und fällt ganz in die von Erich Fromm definierte anthropologische Kategorie des „Habens“. Das Kind wird zum Objekt, das die Wunsch-Vorstellungen der Eltern erfüllen soll. Nicht das Kind als selbst eigenes Wesen mit einer eigenen zukünftigen Biographie ist Gegenstand des Kinderwunsches, vielmehr wird es zum Mittel der Durchsetzung fremder Absichten und Zwecke. Das Produkt des positiven Wunsches ist das „gemachte“, das des negativen das „weggemachte“ Kind. Damit sind die Maßstäbe verkehrt. Denn Kinderlosigkeit ist kein gebrochenes Bein, das man schienen könnte, und Abtreibung nicht die Entfernung eines entzündeten Blinddarms.

Was aber geschieht, wenn Frauen sich in die Falle des „Kinder-haben-Wollens“ hineinmanövriert haben, die In-vitro-Fertilisation aber nicht funktioniert? Der Arzt Peter Petersen hat viele Jahre an der Frauenklinik in Hannover als Psychotherapeut gearbeitet und war ständig mit Frauen und ihren Partnern konfrontiert, die sich sehnlichst ein Kind wünschten und keines bekommen konnten. Wenn bei diesen Frauen die In-vitro-Fertilisation fehlschlug, reagierten sie mit seelischen Zusammenbrüchen, depressiven Reaktionen und psychosomatischen Beschwerden. Angst, Erfolgsdruck und Scham begleiten die oft Wochen und Monate andauernde Behandlungsprozedur. Das Fazit Petersens lautet: „Der Mythos der Machbarkeit fordert seinen seelischen und psychosomatischen Preis. Diese biopsychosoziale Technologie bringt die Frau auf den Weg zur Fruchtbarkeitsmaschine und denaturiert den Mann zum reinen Samenzuträger – so wie diese Fruchtbarkeitstechnik ihr anthropologisches Modell auf die Idee des L’homme machine gründet, der Idee des hochkomplizierten psycho-chemischen Maschinenmenschen mit neuerdings psychosozialem Zusatz.“22

Nicht zuletzt sollten Frauen, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen, gründlich über weitere Risiken aufgeklärt werden. Die Philosophin Magda Telus, die auf ihre eigene Erfahrung zurückgreifen kann, listet folgende mögliche Nebenwirkungen auf: Ovarielles Überstimulationssyndrom durch die mehrfach erfolgenden Östrogen-Spritzen; Verletzungen und Entzündungen durch die Follikelpunktion; die Gefahr karzinogener Wirkungen der stimulierenden Substanzen; eine erhöhte Rate an Extrauteringraviditäten und Mehrlingsschwangerschaften sowie eine erhöhte Abortrate. Es kann auch zu einer Erkrankung der Brustdrüsen und zu Thrombosen kommen.23

Rechte der ungeborenen Kinder

Alle bisherigen Überlegungen zur Bedeutung der leib-seelischen Ganzheit des Menschen und zu einem daraus folgenden, ethisch verantworteten Umgang mit dem Zeugungsakt finden ihr Richtmaß an Wesen und Würde der menschlichen Person. Diese personale Würde dürfen wir nicht vergessen, wenn wir über das ungeborene Kind und seine Rechte nachdenken. Ein Kind ist ein Mensch, und kein Mensch hat ein Recht auf einen anderen Menschen. Kinder sind weder Objekte, Eigentum noch Fortführung ihrer Eltern. Sie sind Gaben, die empfangen werden als unmittelbare Folge der intimen Hingabe von Mann und Frau. Sie sind Personen, und deswegen haben sie Rechte, die niemand verletzen darf. Dazu gehört das Recht, nicht in flüssigem Stickstoff tiefgefroren zu werden und nicht als Experimentierobjekt vernichtet zu werden, ebenso wie das Recht, ins Leben gerufen zu werden als Frucht personaler Selbsthingabe und ehelicher Liebe.

Mit jedem Kind kommt etwas einmalig, unverwechselbar und unwiederholbar Neues in die Welt, das kraft seiner Selbstgegebenheit und Ursprünglichkeit bei aller Prägung durch natürliche und geschichtliche Vorgegebenheiten diese dennoch transzendiert. Die menschliche Zeugung ist mehr als ein rein physiologisches Geschehen. Jedes Kind ist mehr als das Produkt eines neu entstandenen Genoms: jedes Menschen-Entstehen ist Schöpfung. Deshalb sagen ja auch Eltern zu Recht, ihr Kind sei ihnen geschenkt worden und dies trotz der Tatsache, dass das Kind nicht gekommen wäre, hätten sie es nicht gewollt. Aber ihr Kind wurde von ihnen nicht hergestellt. Die ontologische Abhängigkeit des Kindes von der elterlichen Zeugung begründet kein Besitzverhältnis.

Wer sich weigert mit seinem Denken über das Labor hinauszugehen, wird irgendwann, wie es Goethe vorausgesagt hat, an der Wirklichkeit zerschellen. Der Gebrauch der Natur wird zu ihrem Verbrauch. Die Vorstellung, dass erst die Reproduktionsmedizin die Einrenkung der unvernünftigen Wirklichkeit herbeiführe, hat sich als abenteuerlicher Mythos entlarvt. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass die innere Vernunft der Schöpfung größer ist als die Vernunft des machenden Menschen, den es noch dazu als reine Vernunft gar nicht gibt, sondern nur als Interessengruppe mit der ganzen Kurzsichtigkeit vorweggenommener, eigenmächtig festgelegter Zwecke, die die Zeche von heute mit dem Leben von morgen bezahlt.24

In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass ein Embryo aufgrund seiner Entstehungsform „in vitro“ ohne den Schutz der so genannten „blackbox“ der Gebärmutter wie eine verfügbare Datenbank in den Händen der Wissenschaftler liegt. Im Prinzip ist er damit offen für jede Manipulation und sieht sich dem Druck der Erwartung ausgesetzt, dass seine Entwicklung als Folge des geschickten Wirkens der Ärzte auch tatsächlich gelingt.

Wenn der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft einerseits behauptet, dass der Dammbruch in der Frage des Lebensschutzes bereits mit der Einführung der künstlichen Befruchtung eingetreten sei, was ihn zu einem früheren Zeitpunkt dazu bewogen habe, sich für das strenge Embryonenschutzgesetz stark zu machen, andererseits aber dafür plädiert, an übrig gebliebenen Embryonen zu forschen, weil es keine Mutter für sie gibt, so muss hier darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Kompromiss mit Scheinschlüssen gesucht wird.

So plausibel die Argumentation auf den ersten Blick scheinen mag, sie erweist sich bei näherer Überlegung doch als nicht überzeugend. Denn die Embryonen sind nicht naturnotwendig übrig geblieben, sie werden vielmehr von Reproduktionsmedizinern in diese Risikosituation gebracht. Das so entstandene Problem ist hausgemacht; der Handelnde ist dafür verantwortlich. Wenn der Arzt mehrere Embryonen in die Welt setzt, dann muss er die Folgen voraussehen. Der gute Arzt dagegen verzichtet von Anfang an auf Handlungen, von denen er weiß, dass er damit Embryonen in akute Lebensgefahr bringt. Der alte ärztliche Grundsatz „nil nocere“ (nicht schaden) bekommt ein neues Gewicht. Als Ärzte müssen wir aus eigenem Wissen und Gewissen entscheiden, wie wir unseren uns anvertrauten Patienten am besten raten und helfen können. Der Arzt kann aber nicht behaupten, er habe nicht die Absicht gehabt, überzählige Embryonen zu erzeugen, wenn er eine Technik anwendet, bei der die Erzeugung von Mehrlingen planvoll geschieht. Wenn aber ein Embryo übrig bleibt, dann hat der Arzt aufgrund seiner maßgebenden Mitwirkung eine Garantenstellung25 eingenommen, die ihn dazu verpflichtet, Möglichkeiten zu suchen, das Leben des Embryos zu erhalten – etwa in Form einer pränatalen Adoption durch eine andere Frau, die sich ein Kind wünscht. Solange sich aber keine Abnehmerin für den Embryo findet, bleibt nur noch der Ausweg der Kryokonservierung.

Das Einfrieren von Embryonen stellt aber keine Lösung des Problems dar, es wird allenfalls verschoben. Darum sollte die Kryokonservierung von Embryonen nur als „ultima ratio“ in Kauf genommen werden, denn durch diese Technik wird das Lebensrecht eines Menschen verletzt, weil das Recht auf lebendige Entwicklung zunächst einmal vereitelt wird.

Ausblick

Das Recht auf Leben, die Rechte der Ehe und der Familie stellen grundlegende moralische Werte dar, weil sie den Menschen in seiner leib-seelischen Ganzheit betreffen. Die Humanisierung der Medizin, die heute von allen so nachdrücklich gewünscht wird, verlangt die Ehrfurcht vor der Ganzheit der Person. Die Reflexion über das, was der Mensch seinem ganzen komplexen Wesen nach ist, wird somit zu einem dringlichen Anliegen der Gegenwart. Erst dann werden wir in der Lage sein, angemessene ethische Richtlinien für den Umgang mit menschlichem Leben zu formulieren. Erst der Blick auf die ganze Realität der medizinischen Forschung und zugleich auf die unverkürzte ontologische und axiologische Dimension des betrachteten Gegenstandes führt uns zu richtigen Urteilen.

Referenzen

  1. Krehl, L. v., Pathologische Physiologie, 13. Auflage, Leipzig (1930), S. VIII
  2. Weizsäcker, V. v., Der Gestaltkreis, Stuttgart (1940), S. V
  3. Weizsäcker, V. v., Der Gestaltkreis, 4. Auflage, Stuttgart (1950), S. IX
  4. Vgl. Uslar, D. v., Das Leib-Seele-Problem. In: Bühler, K.-E., Weiß, H. (Hrsg.), Kommunikation und Perspektivität. Beiträge zur Anthropologie aus Medizin und Geisteswissenschaften, Würzburg (1985), S. 21-25. Siehe dazu auch: Habermas, J., Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt am Main (2001), S. 89: „Ihren Körper „hat” oder „besitzt” eine Person nur, indem sie dieser Körper als Leib – im Vollzug ihres Lebens – „ist”.
  5. Platon, Alkibiades 129 e11; 130 c5
  6. Thomas von Aquin, Summa theologica I, q.75 a.4
  7. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, IV, c 79: „Anima naturaliter corpori unitur: Est enim secundum suam essentiam corporis forma. Est igitur contra naturam animae absque corpore esse”.
  8. Das Vorhandensein des Leibes ist somit nichts Zusätzliches zur Seele, sondern gehört zu den Konstitutiva ihres Vollzuges. Die Seele formt den Leib von Anfang an. Vgl. Beck, M., Hippokrates am Scheideweg, Paderborn (2001), S. 63-74
  9. Vgl. Sonnenfeld, A., Ärztliches Berufsethos oder nur berufliche Korrektheit? Bedarf an ethischer Reflexion in der Medizin in Deutschland. In: Berliner Ärzteblatt, Heft 9 (September 2000), S. 355-358
  10. Vgl. Schneider, K., Klinische Psychopathologie, Stuttgart & New York (1992), S. 9-19
  11. Vgl. Gebsattel, V. E. v., Imago Hominis. Beiträge zu einer personalen Anthropologie. In: Revers, W.J. (Hrsg.), Neues Forum. Das Bild des Menschen in der Wissenschaft, Band I, Salzburg (1968), S. 86
  12. ebd. S. 88
  13. Scheler, M., Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik; II Bern (1954), S. 407. Siehe dazu die fundierte Begründung bei Tellenbach, H., Subjekt und Person in der Medizin. In: Neue Hefte für Philosophie, 27/28 (1988), S. 135-165
  14. Vgl. Gebsattel, V. E. v., a.a.O. S. 73
  15. Vgl. Hübner, K., Arzt und Patient als Schicksalsgemeinschaft. In: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, 3 (Juni 1989), S. 19-24
  16. Vgl. Sonnenfeld, A., Stammzellforschung. Das Argument des Sokrates oder: Die Frage nach dem therapeutischen Gebrauch menschlicher embryonaler Stammzellen. In: Deutsches Ärzteblatt, 99, Heft 5 (1. Februar 2002), S. A 271-272
  17. Telus, M., Reproduktionsmedizin. Zwischen Trauma und Tabu. Die körperlichen und psychischen Gefahren der Reproduktionsmedizin für Frauen werden im öffentlichen Diskurs kaum beachtet. Das Wohlergehen der behandelten Frauen wird anderen Interessen untergeordnet. In: Deutsches Ärzteblatt 2001; 98, Heft 51-52 (24 Dezember 2001), S. A 3430-3435
  18. Vgl. Hillgruber, Ch., Die verfassungsrechtliche Problematik der In-vitro-Fertilisation. In: Zeitschrift für Lebensrecht, hrsg. von der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. 1/2002 S. 2: „Mit der In-vitro-Fertilisation ist die menschliche Fortpflanzung aus der verborgenen Intimität eines Elternpaares heraus in die technische Welt eines Labors implantiert worden. Der Gesetzgeber hat diesen ungeheuerlichen Tabubruch legalisiert, zweifellos in der ehrenwerten Absicht, das Neue und Unerhörte zu humanisieren. Doch kann dies gelingen?“
  19. Vgl. Rhonheimer, M., Sexualität und Verantwortung. In: IMABE - Studie Nr. 3, Wien (1995), S. 54-60
  20. Telus, M., a.a.O. und Zuber-Jerger, I., Zu hohe Risikobereitschaft. In Deutsches Ärzteblatt; 99 Heft 10 (8. März 2002), S. A 617-619
  21. Telus, M., a.a.o. S. A 3432
  22. Vgl. Petersen, P., Manipulierte Fruchtbarkeit. Problematik der Retortenbefruchtung (In-vitro-Fertilisation) aus der Sicht eines Psychosomatikers. In: Fertilität 3 (1987), S. 99-109
  23. Vgl. Telus, M., a.a.O. S. A 3432
  24. Vgl. Ratzinger, J., Der Mensch zwischen Reproduktion und Schöpfung. In: Internationale katholische Zeitschrift, 1/89, S. 61-71
  25. Vgl. Schlag, M., Verfassungsrechtliche Aspekte der künstlichen Fortpflanzung. Insbesondere das Lebensrecht des in vitro gezeugten Embryos. In: Ermacora, F. (Hrsg.), Studienreihe zum öffentlichen Recht und zu den politischen Wissenschaften, Bd. 6, Wien (1991), S. 142-145

Anschrift des Autors:

Dr. theol. Dr. med. Alfred Sonnenfeld
Lehrbeauftragter für medizinische Ethik und Mitglied der Ethikkommission an der Charité
Humboldt-Universität zu Berlin
Möckernstraße 68, D-10965 Berlin

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