Tugend der Klugheit und ärztliche Praxis

Imago Hominis (2001); 8(4): 275-281
Notburga Auner

Zusammenfassung

Dem klassischen Tugendverständnis nach wurde der Klugheit ein bevorzugter Platz eingeräumt. Sie wird auch praktische Weisheit genannt, wobei sie die Fähigkeit der Unterscheidung darstellt, in den gegebenen Umständen moralisch richtig zu entscheiden und danach zu handeln. Die Klugheit nimmt einen hervorragenden Platz ein, weil sie dem Agierenden hilft, in rechter Weise gerecht, stark und maßvoll zu sein, ohne in Übertreibungen zu fallen. Anschließend werden einige Beispiele aus der ärztlichen Praxis dargelegt und erläutert.

Schlüsselwörter: Klugheit, praktische Weisheit, Klugheit und ärztliche Praxis

Abstract

According to the classic method of understanding, the virtue of wisdom is given a very preferential place. In its practical form it could also be called prudence which is the ability to distinguish, in given circumstances, what is morally correct, decide for it and act accordingly. Wisdom enjoys this preferential placing because it helps the person involved to be just, strong and temperate in the proper way and without exaggeration. Furthermore several examples of how doctors could use wisdom will be given and explained.

Keywords: Prudence, practical wisdom, prudence and medical practice


Klugheit wird im heutigen Sprachgebrauch zumeist im abgewandelten Sinn verstanden. So schreibt beispielsweise das Duden-Bedeutungswörterbuch, dass unter Klugheit ein scharfer Verstand zu verstehen wäre und in der Duden-Ausgabe der sinn- und sachverwandten Wörter wird die Klugheit mit Findigkeit, Schlauheit, Verschmitztheit, Mutterwitz, Bauernschläue oder Geschäftstüchtigkeit umschrieben. Der Hinweis, dass Klugheit auch als „gesunder Menschenverstand“ angesehen werden könne, hebt sich unter den angegebenen Bedeutungen nicht stark ab, kommt aber der ursprünglichen philosophischen Auffassung deutlich näher. 

Die Klugheit ist die Gewandtheit des richtigen und guten Handlungsurteils. Sie ist aber nicht bloß die Geschicklichkeit der Vernunft, die richtigen Mittel zur Erreichung des Zieles zu finden, wie etwa Kant die Klugheit verstanden hat. So gemeint könnte Klugheit auch einfach Gerissenheit oder wie oben genannt, Schlauheit bedeuten. Daher ist es wichtig, die Tugend der Klugheit vom bloßen Schein der Tugend zu unterscheiden. Beim letzteren wird die Vernunft allein auf die Suche nach den Mitteln für ein Ziel eingesetzt, ohne dieses Ziel selbst auf seine Güte hin überprüft zu haben. Auch ein Bankraub oder ein Mord kann mehr oder weniger „perfekt“ geplant und ausgeführt werden. In diesem Sinn wäre die Klugheit eine gekonnte Technik. Die Tugend der Klugheit hingegen schließt die Gutheit des Handlungszieles von vornherein schon mit ein. Sie vervollkommnet den Verstand, indem sie sich immer auf ein Ziel ausrichtet, das gut und bejahenswert, das gerecht, maßvoll und tapfer ist. Im willentlichen Akt der Handlungswahl ist bereits die Zielintention gegenwärtig. Die Zielbezogenheit ist also wesenhafter Bestandteil der Klugheit. 

Aristoteles räumte der Klugheit unter den Tugenden einen bevorzugten Platz ein. Er sprach im Zusammenhang der 4 Kardinaltugenden davon, dass der Klugheit deswegen eine Sonderstellung zukomme, weil sie die anderen Tugenden (Gerechtigkeit, Starkmut, Maßhalten) lenken und ihre Akte auf das ihnen entsprechende Ziel hin führen müsse. Die antike Metapher sprach von der „Wagenlenkerin“ (auriga virtutum) der anderen Tugenden. Für den Menschen des 21. Jh hat dieses Bild an Leuchtkraft verloren, bleibt aber noch verständlich. 

Die Klugheit ist ein Eckstein der Sittlichkeit, das Bindeglied zwischen intellektuellem und moralischem Leben. Aristoteles nannte sie auch praktische Weisheit, als die Fähigkeit der moralischen Unterscheidung in den gegebenen Umständen, wobei der Protagonist die gute und richtige Entscheidung zu treffen hat. Es geht also um vernunft- und situationsgerechtes Handeln. Damit eine Handlung gelingt, muss ja nicht nur das „was“, sondern auch das „wie“ und das „wann“ und das „wo“ und das „mit wem“ stimmen. Die besten Absichten und Meinungen sind unzureichende Voraussetzungen um eine bestimmte Handlung gut zu machen, wenn die restlichen „Elemente“ nicht stimmig sind. Durch die Klugheit aber wird der Mensch befähigt, das Gute zu erkennen und in den konkreten Umständen auch auszuführen. Die Klugheit, das wird aus dem oben gesagten schon deutlich, leitet daher alle anderen Tugenden an; sie leuchtet den rechten Weg aus, damit die Stärke weder in Waghalsigkeit ausartet und noch zur feigen Mittelmäßigkeit abfällt; damit das Maßhalten nicht zu Knauserei und Geiz verkommt und nicht nur von der Verschwendung Abstand nimmt; damit die Gerechtigkeit in ihren Ansprüchen real bleibt; usw. 

Der Rückgriff auf die scholastische Analyse erleichtert das Verständnis der Klugheit und gibt zu verstehen, warum gerade sie das Bindeglied zwischen sittlichem und intellektuellem Leben darstellt. Der Akt der Klugheit setzt sich in der Regel aus einer Abfolge von verschiedenen Momenten zusammen. Dabei unterscheiden wir zunächst den beratenden Moment (consilium), in dem die Fakten und die begleitenden Umstände erfasst werden; nun muss die situationsgerechte Handlung ausgewählt und bestimmt werden (iudicium); auf dieses Urteil muss die richtige Entscheidung folgen, die den Befehl (imperium) einschließt, den gefassten Beschluss auch in die Tat umzusetzen. 

Der erste Schritt liegt in der Erfassung der Umstände, die eine bestimmte Situation begleiten. Der Verstand ist herausgefordert, die wesentlichen Details zu begreifen, wobei das Gedächtnis und die Erfahrung eine besondere Rolle spielen. Jedes Erlebnis geht in das Erinnerungsvermögen ein und steht im Laufe der Zeit als Erfahrungswert zur Verfügung. Diese Erfahrung spielt bei der ärztlichen Tätigkeit eine wichtige Rolle. Wer auf keine Erfahrungen noch rückgreifen kann, ist darauf angewiesen, mit dem Wissen anderer zu rechnen. Das Lehrer-Schüler Verhältnis in der Medizin hat Tradition. Kein Lehrbuch oder Kompendium, kein Medizincomputer können je den Lehrer ersetzen. Es kommt aber nicht nur auf die Quantität der erlebten Situationen an, wohl auch auf die Wachheit und das eifrige Bewusstsein „Erfahrung zu sammeln“. Neben dem Wissen und der Erfahrung müssen aber auch immer die speziell begleitenden Umstände berücksichtigt werden. Wenn es um die Beurteilung von menschlichen Situationen geht, muss unweigerlich die Individualität und Einzigartigkeit betrachtet werden. Ärztliche Handlungsentscheidungen werden sich niemals mathematisch berechnen lassen. Neben Alter, Geschlecht, sozialem Umfeld gibt es noch andere Faktoren, die im gegeben Fall das „Zünglein an der Waage“ für oder gegen eine bestimmte Vorgangsweise darstellen. Dieser erste Akt der Klugheit, das „Consilium“ fordert den Arzt, jedes Tun am Patienten und mit ihm individuell auf seine konkrete Lage abzustimmen und verhindert, dass sich Routine einschleicht, die der Würde des Menschen nicht mehr gerecht wird. Er ist ein Akt des Verstandes, der sich unermüdlich dem Begreifen der Wirklichkeit des Seins und den Situationen des Lebens zuwendet. 

Wurde einmal die Wahrheit der Situation erkannt, dann muss die Wahl der rechten Entscheidung getroffen werden. Auf ein und dieselbe Situation kann verschieden reagiert werden. Die Wahlmöglichkeiten können äquivalent sein, oder aber sie sind nicht alle gleich sinnvoll. Bestenfalls gibt es nur eine richtige Wahl, möglicherweise gibt es mehrere fast gleichrangige Antworten, von denen aber wiederum nur eine die bessere ist.... Es gibt Erkrankungen, die unterschiedliche therapeutische Vorgangsweisen zulassen. Im Falle der Refluxösophagitis wird man vornehmlich eine konservative Therapie bevorzugen. Ist diese aber mit den herkömmlichen Mitteln ausgeschöpft, ist die Compliance zu gering oder die voraussichtliche Behandlungsdauer zu lang (lebenslänglich!) und leidet die Lebensqualität des Patienten trotz Behandlung erheblich, dann kann bei Vorliegen bestimmter Befunde eine chirurgische Vorgangsweise erwogen werden. Dabei ist aber wiederum das Operationsrisiko tatsächlich in Betracht zu ziehen und zu bemerken, dass es sich doch in diesem Fall um ein benignes Leiden handelt und daher die nicht invasive Vorgangsweise doch zu bevorzugen wäre.... An diesem Beispiel lässt sich bereits ablesen, dass der Arzt eine ganze Reihe von unterschiedlichen Faktoren abwägen muss, bevor er in der Zusammenschau und nach Absprache mit dem Patienten eine Entscheidung trifft. Im genannten Beispiel wird diese Entscheidung natürlich auf von der Spezialisierung des Arztes abhängen. Der Chirurg muss sich, will er klug, d.h. tugendgemäß handeln vorerst von seiner Neigung operativ vorzugehen verabschieden, und darf nur äußerst restriktiv die Operation zur Wahl stellen. Der Internist seinerseits muss aber auch die Stärke besitzen im gegebenen Fall seinen Patienten abzugeben, einem Chirurgen vorzustellen um ihn der invasiveren Therapie zuzuführen, sollte diese erfolgversprechend sein. Für eine Handlungsweise muss sich der Arzt aber entscheiden. Und die rechte Wahl beruht auf dem „iudicium“, dem Urteil, einem wesentlichen Akt der Klugheit. 

Damit ist sie aber noch nicht am Ende: die getroffene Wahl muss nun ausgeführt werden. Es reicht nicht, die richtige Erkenntnis zu haben. Das rechte Urteil muss zur Entscheidung führen, die unter Einsatz der richtigen Mittel die Handlung durchführt und zum Abschluss bringt. Der Befehl zur Handlungsdurchführung wird erteilt. Der Wille zur Tat bricht durch und erwirkt die Ausführung der Handlung. 

Erst mit dem Akt des „imperiums“, des Befehls zur Handlung erreicht die Klugheit ihre Vollendung. 

Voraussetzungen der Klugheit

Besonderen Stellenwert für den klugen Menschen hat die Beratung, das Rat einholen und Rat geben. Die Einführung in die medizinischen Kunst geschieht vornehmlich in der Weitergabe der Erfahrungen älterer Kollegen an jüngere. Die Beziehung Schüler-Lehrer in der Medizin hat ihre große Berechtigung. Der angehende und der junge Arzt muss sich oftmals Rat holen, und mit diesem „fremden“ Wissen die selbst erlebten Situationen beleuchten und deuten. Mit der Zeit kann er sich so selbst einen Erfahrungsschatz aufbauen. Selbst dann wird er gelegentlich in besonderen Situationen den Rat anderer suchen. Der kluge Arzt wird auch nach jahrelanger Praxis bei außergewöhnlichen Krankheitsfällen den Rat anderer erfahrener Kollegen einholen. Klugheit setzt daher eine Einstellung der Demut voraus. Die Bitte um Rat schmälert nicht das Ansehen der Person, im Gegenteil, es zeugt von Ernsthaftigkeit und Gewissenhaftigkeit im Umgang mit anderen Menschen. 

Die Klugheit ist zudem begleitet von bestimmten Haltungen, die Voraussetzungen für das kluge Tun und Handeln sind. Diese sind: die Erfahrung, die Wissenseinsicht, die Lernfähigkeit, die Sachlichkeit, die Vernunft, die Voraussicht, die Umsicht und die Vorsicht. Es sind Haltungen, die je nach Situation einmal mehr im Vordergrund stehen, ein anderes Mal weniger gefragt sind. Der kluge Mensch kann sie aber jederzeit „aktivieren“ und weiß, richtig einzuschätzen, wann diese gefragt sind. 

Klugheit im klinischen Alltag

Wie zu erläutern versucht wurde, besteht die Klugheit gerade darin, situationsgerecht zu entscheiden und zu handeln. Für den Arzt genügt es nicht, dass er sich bestimmte Prinzipien zurechtlegt, die zu beachten er sich auferlegt. Die Unterschiedlichkeit der Menschen und der Umstände machen eine jeweils konkrete Entscheidung notwendig. Die Klugheit hilft ihm in der rechten Weise gerecht, stark und maßvoll zu sein, ohne dem einen oder anderen Extrem zu verfallen. 

Klugheit und Gerechtigkeit:

Beispielsweise ist die Aufklärungspflicht in der medizinischen Praxis wichtiger Bestandteil geworden. Der mündige Patient, der dem Arzt nicht blind vertraut, hat ein Recht darauf, in die Entscheidung über die geplante Vorgangsweise einbezogen zu werden. Nun hat sich vornehmlich in den operativen Fächern die Aufklärung mittels Vordruck breitgemacht. Die Krankheit und die möglichen Operationsmethoden, sowie Früh- und Spätkomplikationen werden detailliert dargelegt. Der Patient wird aufgefordert sich die Aufklärung durchzulesen und zu unterschreiben. Dadurch willigt er in eine bestimmte Behandlung ein und wird quasi partnerschaftlich in die Entscheidung einbezogen. Er bleibt dennoch der Laie, der wiederum darauf angewiesen ist, dem zu glauben, was ihm vorgelegt wird. Einerseits gibt es nun Patienten, die durch die angeführten Komplikationen verunsichert werden und mit Angst dem Eingriff entgegengehen. Wären sie nicht besonders darauf aufmerksam gemacht worden, sie hätten mehr Gelassenheit bewahrt. Es gibt auch andere, die unnötig mit medizinischem Detailwissen belastet werden und es als Hohn empfinden, zur Entscheidung herangezogen zu werden. Wiederum andere fühlen sich sicherer, wenn sie alles wissen und auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet sind. Im Bereich der Aufklärung muss der Arzt mit Fingerspitzengefühl individuell unterschiedlich vorgehen. Die Tugend der Klugheit hilft ihm die richtige Dosis an Aufklärung anzuwenden. Das heißt, der Patient soll die Möglichkeit bekommen, in das Geschehen, das an seiner Person vorgenommen werden wird, einbezogen zu werden, er darf aber nicht mit unnötigen Details belastet oder gar verunsichert werden. Das Autonomiebedürfnis ist ja individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ein Zuviel an Aufklärung bewirkt Verunsicherung, ein Zuwenig kommt der Bevormundung gleich. Allgemein gilt, dass die Aufklärung über die Nebenwirkungen und Risiken umso sorgfältiger und genauer erfolgen muss, je weniger akut und notwendig der Eingriff für den Patienten ist. 

In den Bereich der Aufklärungstätigkeit fällt sehr häufig auch der Umgang mit den Angehörigen des Kranken. Streng genommen beginnt der Behandlungsvertrag de iure ab dem Moment, indem die Bitte des Patienten um Behandlung in Kraft ausgesprochen wird. Sie bindet Arzt und Patient, wobei die Angehörigen primär nicht einbezogen sind. Dem Kranken allein schuldet der Behandler Aufklärung und Rechenschaft über sein Tun. Nun ist es aber eine Tatsache, dass der Mensch, als Person in Lebensgemeinschaften eingebunden ist, in ein bestimmtes soziales Umfeld, das gerade durch die Krankheit mehr oder weniger stark betroffen ist. Die Gemeinschaft (Familie) hat ein Recht, aber auch die Pflicht an der Krankheit eines ihrer Mitglieder Anteil zu nehmen. Im Falle der Kinder besteht zusätzlich die Sorgepflicht der Eltern. Der Arzt wird in Ausübung seiner Tätigkeit sehr häufig damit konfrontiert sein, die Angehörigen zu informieren, sie einzubeziehen, sie um Rat zu fragen. Häufig wird seine Therapieentscheidung auch durch das Bild, das er sich vom sozialen Umfeld gemacht hat, mit bestimmt. Dabei darf er aber nicht aus den Augen verlieren, dass er sich zuerst und vor allem seinem Patienten verpflichtet hat. Die familiären Situationen sind bisweilen in unserer pluralistischen Gesellschaft so komplex und verworren, und die Anliegen der Familienangehörigen bei weitem nicht immer so lauter und selbstlos, als dass ihr Einbeziehen überdacht werden muss. Oftmals verlangt es vom Arzt ein kluges Vorgehen, um allen Beteiligten gerecht zu werden. 

Ein weiterer Aspekt, der in unserer pluralistischen Gesellschaft, für den Arzt eine gewisse Herausforderung darstellt, ist die Tatsache, dass wir in den europäischen Ländern starke Migrationsbewegungen erleben, die das Gesellschaftsbild umstrukturiert haben. In einer multikulturellen Gemeinschaft kommt er in die Lage, Personen aus anderen Kulturkreisen zu behandeln. Dies kann nur allzu leicht zu Spannungen, Unverständnis und besonders auch zu Konflikten mit den Angehörigen führen. Gerade hier wird die Klugheit des Arztes gefordert, der gerechterweise auf die ihm „fremde“ Sichtweise und Lebensart eingehen muss, aber auch mit Stärke von bestimmten Forderungen nicht Abstand nehmen kann. Er muss abschätzen lernen, was er verlangen und erwarten kann, und was nicht. 

Klugheit und Stärke:

Die moderne Apparatemedizin hat so viele erfolgreiche Behandlungen entwickelt, dass manche der Utopie, der Mensch werde eines Tages alle Krankheiten beherrschen können vollends Glauben schenken. Immer wieder kommt der Arzt in die Situation seine Möglichkeiten eingeengt zu wissen, und dies dem Patienten und den Angehörigen mitteilen zu müssen. Auf das Drängen der Angehörigen, oder seltener des Patienten hin, doch noch irgendetwas zu unternehmen, kann die Versuchung sehr groß werden, Handlungen zu setzen, die medizinisch gesehen nur wenig aussichtsreich, oder eigentlich nicht sinnvoll sind. Wie hat sich der Arzt zu verhalten, der aus der Erfahrung weiß, dass die Krankheit ihren Lauf genommen hat und keine Aussicht auf Heilung mehr besteht? Soll er wirklich alle Hoffnungen nehmen, wissend, dass gerade die Aussicht auf eine Zukunft ungeahnte Kräfte mobilisieren kann? Es gibt Momente, in denen Hoffnungen zerschlagen werden müssen, und andere, in denen die Hoffnung nicht genommen werden darf. Mit Hilfe der Klugheit wird die Wahrhaftigkeit richtig zu dosieren sein. Ein und dieselbe Tatsache kann ja unterschiedlich dargestellt werden. So muss es auch sein. Im Verlauf einer Krankheit muss der Arzt dem Patienten nach und nach erklären, wie sich diese entwickeln wird. Aber auch dieser Bereich ist nur schwer erfassbar, weil jeder Arzt weiß, dass es immer wieder verblüffende Wendungen und Krankheitsverläufe gibt. 

Nicht selten sieht sich der Arzt vor die Entscheidung gestellt, eine Reihung der Patienten vorzunehmen, weil gleichzeitig mehrere Personen seine Hilfe in Anspruch nehmen wollen, und niemand gerne wartet. Der kluge Arzt wird versuchen, sich kurz ein Bild der Situation zu verschaffen. Wer war zuerst da, aber wer braucht ihn am dringensten? Möglicherweise kann man bei der chronologischen Reihenfolge bleiben, möglicherweise aber auch nicht. Ein Patient, der sich in einer akuten Notsituation befindet, könnte Schaden erleiden, wenn er länger auf Hilfe warten muss. Er hat natürlich Anspruch auf vorrangige Behandlung und Betreuung. Sein Recht verwandelt sich in einen Imperativ. Der kluge Arzt ist sogar verpflichtet, ihn vorzunehmen. Ist der Grund für die Vorreihung ein gewichtiger, so ist dies auch den anderen Patienten, die vielleicht dadurch länger werten müssen, einsichtig. Kommt es aber regelmäßig zu undurchsichtigen Vorreihungen innerhalb der Warteschlange, dann wird sich der Arzt schwer tun, den aufkommenden Unmut der Patienten mit einsichtigen Begründungen abzuwehren. Es ist eine Frage des Starkmutes des betreffenden Arztes, eine „gerechte“ Reihenfolge einzuhalten. Das bedeutet, dass die Klugheit in dieser Angelegenheit sowohl die Gerechtigkeit, wie auch die Stärke den richtigen Weg weist. 

Klugheit und Maßhalten:

Der wissenschaftliche Fortschritt bringt ständig neue Erkenntnisse. In der medizinischen Praxis herrscht eine zunehmend rasche Flut neuer Diagnoseverfahren und Therapiemöglichkeiten. Auch die Krankheitsbilder, die die Medizin zu bekämpfen hat, ist einem beträchtlichen Wandel unterworfen. Lifestyle und Wohlstandsgesellschaft sind zu wichtigen Gesundheits- bzw. Krankheitsfaktoren geworden. Eine gute Portion Klugheit im Maßhalten wird dem Arzt abverlangt, wenn es darum geht, neue Therapieformen, und speziell neue Arzneimittel zum Einsatz zu bringen. Die Bewerbung bestimmter Medikamente hängt von starken finanziellen Interessen ab, wodurch der Arzt nicht selten einem manipulativen Druck ausgesetzt wird. Bestimmte „Moden“ in der Medizin werden kreiert, Studiendaten verbreitet, Statistiken vorgelegt, und Behandlungsmodelle suggeriert, von deren Sinnhaftigkeit sich zu überzeugen, dem einzelnen Arzt beinahe unmöglich wird. Hier muss er das rechte Maß einhalten lernen, fortschrittlich sein, ohne sich dem „Modediktat“, blind zu unterwerfen. 

Waren es bis im vergangenen Jahrhunderten die Infektionskrankheiten, so beschäftigt die Medizin in den industrialisierten Ländern heute vornehmlich sogenannte Zivilisationskrankheiten, die mit dem Lifestyle des modernen Menschen zusammenhängen. Herz-Kreislauferkrankungen, Stoffwechselstörungen, Übergewicht, Alkohol- und Nikotinabusus und ihre Spätfolgen, um nur einige zu nennen. Darüber hinaus scheint Geld im Gesundheitswesen keine Rolle zu spielen. Daraus resultiert häufig eine Anspruchshaltung des Patienten einerseits und andererseits eine mangelnde Bereitschaft zur Änderung der Lebensgewohnheiten. Nur der kluge Arzt wird abschätzen können, wie er seine erzieherische Aufgabe wahrnehmen kann, das Vertrauen des Patienten gewinnt, ihn zu Prävention und vernunftgemäßen Verhalten motiviert und gleichzeitig seinem Auftrag, Leiden zu lindern und zu heilen, wenn es möglich ist, vereinbaren kann. 

Schlussbemerkungen

Die Tugend der Klugheit ist für den Arzt unentbehrlich. Tagtäglich werden ihm in seiner beruflichen Tätigkeit Situationen begegnen, in denen komplexe Zusammenhänge eine einfache Erfassung erschweren, und dennoch richtige Entscheidungen erwartet werden. Der ärztliche Alltag fordert die Entscheidungsfreudigkeit heraus. Immerfort entstehen Situationen, in denen die Verhältnismäßigkeit überprüft und in Abstimmung mit ihr agiert werden muss. Die Tatsache, dass die ärztliche Tätigkeit einen Eingriff in die Intimsphäre des Menschen darstellt, verlangt ihm eine besondere Verantwortung ab. 

Die erste und vorrangigste der Kardinaltugenden, die Klugheit leistet den wichtigsten Beitrag zum situationsgerechten und letztendlich gelungenen Handeln. Durch ihren Einfluss finden alle anderen Tugenden, die Gerechtigkeit, die Stärke und das Maßhalten können die rechte Mitte. 

Der Begriff "der Arzt" steht für die geschlechtsneutrale Berufsbezeichnung bzw. für Personen beiderlei Geschlechts in Ausübung des Arztberufes.

Weiterführende Literatur

Thomas von Aquin, S.T. II-II q 47-51
Aristoteles, Nikomachische Ethik, Reclam, Stuttgart, 1969
Ana Marta Gonzalez, Prinzipien und Tugenden der Bioethik, Imago Hominis (2000) VII/1, S17 ff
Anselm Winfried Müller, Was taugt die Tugend? Elemente einer Ethik des guten Lebens, Kohlhammer 1998
Josef Pieper, Das Viergespann, Kösel Verlag München, 6.Auflage 1991
Enrique H. Prat, Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium für die Entscheidung über einen Behandlungsabbruch, Imago Hominis (1999) VI/1, S11 ff
Martin Rhonheimer, Die Perspektive der Moral, Akademie Verlag, Berlin 2001
Walter Schweidler, Zur Aktualität des Begriffs der Tugend, in Imago Hominis (2000) VII/1, S35 ff

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