Drogenkonzepte in einer Großstadt

Imago Hominis (2000); 7(4): 285-293
Alexander David

Zusammenfassung

Großstädte stehen unter Druck, spezifische, regionale Drogenkonzepte zu entwickeln. In Wien wurde bereits 1991 ein Drogenkonzept entwickelt. Es beruht auf überparteilicher Zusammenarbeit und dem Grundsatz „Therapie statt Strafe“. Strafrechtliche Verfolgung von Drogenhändlern bei gleichzeitiger Entkriminalisierung von Konsumenten bedeutet nicht die Legalisierung von Drogen. Sucht wird als Krankheit definiert. Prävention, gesundheitsbezogene Maßnahmen, soziale Maßnahmen und Sicherheit ergänzen einander. Gesundheitsbezogene und soziale Maßnahmen werden in das medizinische und soziale Netz der Stadt integriert, um die Ausgrenzung von Drogenabhängigen zu verhindern. Die Handlungsfelder Suchtprävention, Beratung – Behandlung – Betreuung, Beschäftigung als soziale Integration und Prävention sowie Justiz und Sicherheit werden beschrieben.

Schlüsselwörter: Wiener Drogenkonzept, "Therapie statt Strafe", Keine Legalisierung, Sucht als Krankheit

Abstract

Larger cities are under the pressure of developing specific, regional drug concepts. In Vienna, a drug concept was developed in 1991. It is based on an all-party cooperation and on the statement „therapy instead of punishment“. Legal persecution of drug dealers combined with a decriminalization of drug users does not mean a legalization of drugs. Addiction is defined as illness. Prevention, health oriented measurements, social measurements and security complement each other. Health-oriented and social measurements are integrated in the medical and social city network in order to prevent a discrimination of drug addicts. The following areas of measurement are described in this article: prevention of addiction, counseling, treatment, care, employment as social integration and prevention, as well as justice and security.

Keywords: Vienna drug concept, "therapy instead of punishment", no legalization, addiction as illness


Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts haben sich Drogenprobleme in fast allen Ländern der Erde entwickelt. Sie betreffen – je nach Gesetzeslage – vor allem jene Substanzen, die auch in Österreich nach dem Suchtmittelgesetz geregelt sind: Opiate, Kokain, Amphetamine, Halluzinogene, Cannabis. In manchen Ländern zählt auch Alkohol zu den vom Gesetz diskriminierten Drogen. Obwohl die gesundheitlichen Schäden – Erkrankungen, Invalidität und vorzeitiger Tod – die durch Nikotin verursacht werden, die Schäden der zuvor genannten Substanzen bei weitem übertreffen, wird dem Drogenproblem weltweit weit größere Aufmerksamkeit gewidmet. Es existiert eine Reihe internationaler Konventionen gegen Drogenhandel und Drogenmissbrauch, und in allen Ländern der Erde gibt es ein differenziertes Drogenstrafrecht. Ein wesentlicher Teil von Gefängnisinsassen ist heute wegen Suchtgiftdelikten weltweit in Haft. Auch in Österreich stehen Sorgen und Ängste im Zusammenhang mit Drogen fast an oberster Stelle bei entsprechenden Bevölkerungsumfragen.

Die Gründe für diese besondere Aufmerksamkeit, die Drogenproblemen zukommt, liegen in der engen Verbindung von Drogenhandel und organisierter Kriminalität, im schieren Umfang des geschätzten Gesamtwertes der heute weltweit gehandelten illegalen Drogen (400 bis 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr)1, in der häufigen Betroffenheit und Vulnerabilität von jungen Menschen, im raschen physischen Verfall der Konsumenten mancher dieser illegalen Drogen, in den auffälligen psychischen und sozialen Veränderungen dieser Konsumenten und nicht zuletzt im Scheitern der Betroffenen während der in allen Gesellschaften und Kulturen wichtigen Übergangszeit von der Adoleszenz zum Erwachsenen. Ein Scheitern bei dem Schritt in die Erwachsenenwelt wird seit alters her als besonders tragisch empfunden und löst Ängste, Schuldgefühle und Aggressionen aus. Im Vergleich dazu haben die durch Nikotin verursachten Schäden über lange Zeiträume kaum psychische und soziale Folgen und werden erst in einem höheren Lebensalter manifest.

Drogenprobleme haben sich zuerst in Großstädten westlicher Industrieländer, die einen hohen Anteil an Arbeitslosen und sozial ausgegrenzten Slumbewohnern aufwiesen, gezeigt. In mehreren Wellen haben sich dann Heroin, Amphetamine, Cannabis, Halluzinogene und Kokain global ausgebreitet. Auch in Österreich waren zuerst die Städte vom Konsum illegaler Drogen betroffen. Auch heute noch sind Großstädte im Vergleich zu ihrer Bevölkerungszahl stärker betroffen als Kleinstädte oder Gemeinden. Das liegt an der Anonymität, die eine Großstadt bietet, an der leichteren Erreichbarkeit sowohl von illegalen Drogen als auch von therapeutischen Angeboten und an der Chance, hier auf legalem wie auch auf illegalem Weg als Betroffener zu Geld zu kommen.

Großstädte stehen deshalb unter einem besonderen Problemdruck und müssen sich eher den Herausforderungen einer dynamischen Entwicklung in diesem Bereich stellen. Sie müssen rascher auf Veränderungen reagieren und können es sich weniger leisten, ideologisch gefärbte Konzepte über pragmatische Lösungsansätze zu stellen. Im täglichen Umgang mit Drogenproblemen ist es eher möglich, untaugliche Modelle zu erkennen und sie durch praxisgerechte zu ersetzen.

An Hand des Wiener Drogenkonzeptes soll modellhaft der Umgang mit Drogenproblemen in einer Großstadt dargestellt werden. Wien hat als eine der ersten Städte Europas bereits 1991 ein umfassendes Drogenkonzept erstellt und 1999 neuen Erkenntnissen entsprechend weiterentwickelt.2 An der Erstellung nahmen im Rahmen einer Drogenkommission Vertreter aller im Wiener Gemeinderat vertretenen Parteien teil, Vertreter der damit befassten Bundesministerien, Mitarbeiter einer Reihe von Wiener Magistratsabteilungen, der Schulen, der außerschulischen Jugendarbeit, der Sozialversicherungsträger, der Apothekerkammer, der Ärztekammer sowie Mitarbeiter von Drogeneinrichtungen. Die Beratungen der Drogenkommission führten zu einer Versachlichung der Drogendebatte und zum Konsens, dass zur Lösung der Probleme gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind. Das Ziel war, die befassten Bereiche aufeinander abzustimmen und zu koordinieren. Der gemeinsame Weg wurde als Grundlage der Qualität erfolgreicher Drogenarbeit definiert. Bis heute wird das Drogenkonzept in Wien durch eine breite überparteiliche Zusammenarbeit gefördert und hat zu einer pragmatischen Vorgangsweise geführt.

Das Wiener Drogenkonzept baut auf dem österreichischen Suchtmittelgesetz auf, insbesondere auf dem Grundsatz „Therapie statt Strafe“. Sucht bedeutet in jedem Fall individuelles, familiäres und gesellschaftliches Leid und erfordert Hilfe. Es gilt der Grundsatz der „integrierten Drogenpolitik“. Dieser Grundsatz entspricht der gesellschaftspolitischen Tradition in Wien, Randgruppen durch soziale Maßnahmen zu integrieren und ihre Ausgrenzung zu verhindern. Weiters geht es darum, die Beratung und Betreuung von Suchtkranken in das soziale und medizinische Netz der Stadt zu integrieren.

Oberstes Ziel der Wiener Drogenpolitik ist es, dass so wenige Menschen wie möglich Drogen konsumieren und dass jene, die davon nicht abzuhalten sind, so wenig Schaden wie möglich nehmen. Zur Bewältigung der komplexen Probleme im Zusammenhang mit Sucht und Drogen sind Strategien zu entwickeln, um den Schaden für die Gesellschaft so gering wie möglich zu halten.

Nicht jede Droge hat ein Suchtpotential oder macht direkt süchtig. Aber alle Drogen und Suchtmittel beeinträchtigen die körperliche oder psychische Gesundheit und bergen daher bestimmte Gefahren. Deshalb ist aus gesundheitspolitischer Sicht grundsätzlich der Konsum aller Suchtmittel und Drogen einschließlich der missbräuchlichen Verwendung von Medikamenten, Alkohol und Nikotin abzulehnen.

Das Wiener Drogenkonzept begegnet dem gesellschaftlichen Phänomen „Sucht und Drogen“ in seinen vielfältigen Ausprägungen und legt die notwendigen Rahmenbedingungen für die erforderlichen Maßnahmen fest. Eine zeitgemäße Gesetzgebung und differenzierte Kontrollmaßnahmen sind genauso wichtig wie unterschiedliche präventive, soziale und therapeutische Maßnahmen.

Hervorgehoben wird ein klares Bekenntnis zur Reduktion des Drogenangebots und der Nachfrage, zur Verfolgung und Bestrafung des organisierten Drogenhandels und zur Behandlung der Drogenabhängigen als Kranke. Bei Drogenkonsumenten hat die Beratung bzw. medizinisch-therapeutische Behandlung Vorrang vor der strafrechtlichen Verfolgung.

Dieser Grundgedanke – strafrechtliche Verfolgung von Drogenhändlern bei gleichzeitiger Entkriminalisierung von Konsumenten – bedeutet nicht die Legalisierung von Drogen.

Eine wirksame Suchtprävention ist ein zentrales Anliegen, wobei ein deutlicher Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit den Ursachen von Sucht gesetzt wird.

Sucht stellt eine schwere körperliche, seelische und soziale Beeinträchtigung dar und wird als Krankheit definiert. Die Entstehung von Sucht hat viele Ursachen. Die Frage, warum ein Mensch süchtig wird und ein anderer nicht, ist wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt. Individuelle, familiäre und gesellschaftliche Einflüsse spielen dabei genauso eine Rolle, wie die chemisch-pharmakologischen Eigenschaften der jeweiligen Droge. Ein großer Teil der Drogenabhängigen hat zusätzliche psychische Erkrankungen. Zwischen Suchtkrankheit, sozialer Desintegration und Verelendung bestehen enge Zusammenhänge, wobei Sucht oft das Symptom einer tiefer gehenden Störung ist.

Die Suchtkrankheit hat unterschiedliche Verläufe. Deshalb sind in Beratung, Behandlung und Betreuung unterschiedliche Modelle notwendig. Eine Behandlungsform, die für einen Suchtkranken richtig ist, muss nicht auch für andere geeignet sein. Drogentherapeutische Maßnahmen sind nur dann erfolgreich, wenn sie von den Betroffenen angenommen werden.

Die Wiener Drogenpolitik ist als Querschnittspolitik gemeinsames Anliegen und integrierter Bestandteil sämtlicher Bereiche kommunalen Handelns. Sie baut auf vier Säulen auf:

1) Prävention

Suchtprävention ist Bestandteil einer umfassenden Gesundheitsförderung und schließt Fragen des Drogen-, Alkohol-, Nikotin- und Medikamentenmissbrauchs als gleichbedeutend mit ein. Sie erfordert eine ganzheitliche Sichtweise und muss im Rahmen eines pädagogischen Prozesses umgesetzt werden. Bildungs- und jugendpolitische Maßnahmen bilden dafür den notwendigen Handlungsrahmen. Suchtprävention darf nicht auf punktuelle Maßnahmen und Abschreckungsmethoden reduziert werden. Sie muss eine öffentliche Sensibilisierung erzielen und langfristig wirken.

2) Gesundheitsbezogene Maßnahmen

Um den unterschiedlichen Ursachen und Verlaufsformen der Suchtkrankheit gerecht zu werden, muss es ein breites Spektrum an Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen geben, die auf die individuelle Problematik eingehen. Wien setzt in der Behandlung und Betreuung Suchtkranker auf Methodenvielfalt. Ambulante und stationäre Einrichtungen bilden mit abstinenzorientierten, substituierenden und suchtbegleitenden Therapieangeboten ein breites Netzwerk.

3) Soziale Maßnahmen

Zwischen Drogenkonsum, Suchterkrankung und der sozialen Situation der Betroffenen bestehen ursächliche Zusammenhänge. Daher ist die soziale Betreuung integrierter Bestandteil des Behandlungs- und Betreuungskonzeptes. Maßnahmen zur Verhinderung von Verelendung und zur Sicherung der sozialen Grundbedürfnisse – wie z. B. Wohnen – und Maßnahmen zum Abschluss einer Berufsausbildung und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt haben einen hohen Stellenwert.

4) Sicherheit

Es gilt der Grundsatz Hilfe statt Strafe für die Drogenkonsumenten und Verfolgung und Strafe bei Drogenhandel. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Geldwäsche, wobei die Sicherheit der Bevölkerung oberste Priorität hat. Ein umfassender Sicherheitsbegriff schließt Aspekte der objektiven Sicherheit und Maßnahmen zur Verbesserung des subjektiven Sicherheitsgefühls, der sozialen Verträglichkeit und der Konfliktregelung mit ein.

Es wurde eine Reihe von Zielen und deren Umsetzung in Handlungsfeldern definiert:

Gesundheit fördern – Suchtentwicklung verhindern

Ziel ist es, Probleme, die sowohl durch den Konsum von Drogen bedingt sind wie Suchtkrankheiten selbst gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Prävention von Suchtkrankheiten ist als integrativer Bestandteil einer umfassenden Gesundheitsförderung und Persönlichkeitsförderung zu verstehen. Die Stärkung der sozialen Kompetenzen, des Selbstbewusstseins und der Fähigkeit zur Konfliktbewältigung sind wichtige Schutzfaktoren.

Suchtgefahren früh erkennen – rechtzeitig intervenieren

Ziel ist es, schon beginnenden Drogenkonsum, eine bestehende Suchtgefährdung oder eine beginnende Suchtentwicklung so früh wie möglich zu erkennen, um auch so früh wie möglich die richtigen Interventionen setzen zu können. Das Vertrauen der Betroffenen in die Hilfsangebote ist so weit zu fördern, dass letztere schon zu einem frühen Zeitpunkt in Anspruch genommen werden. Dadurch ist es möglich, schädlichen und riskanten Drogenkonsum zu minimieren.

Kranke behandeln – Schaden begrenzen

Ziel ist es, Suchtkranke mit allen heute zur Verfügung stehenden Methoden zu behandeln, so wie dies auch bei anderen Erkrankungen selbstverständlich ist. Dort, wo eine Heilung nicht, noch nicht oder nur teilweise möglich ist, ist es das Ziel, die zusätzlichen Erkrankungen und Schäden, die durch Drogenkonsum entsehen, möglichst gering zu halten.

Hilfe und Beratung – angstfreies Klima für Konsumenten schaffen

Ziel ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Drogenkonsumenten Beratung und Hilfe ohne Angst vor nachteiligen Folgen in Anspruch nehmen können. Nur wenn die angebotene Hilfe die Betroffenen auch erreicht und von ihnen angenommen wird, kann sie wirksam sein. Solange jemand Sorge haben muss, seinen Arbeitsplatz, die Lehrstelle oder den Ausbildungsplatz zu verlieren oder strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn er Beratung und Behandlung in Anspruch nehmen will, werden Hilfsangebote nicht ihre volle Wirksamkeit entwickeln können.

Beratung – Behandlung – Betreuung vernetzen

Die Anzahl und die Kapazität der Behandlungs- und Betreuungseinrichtungen sowie der nicht direkt auf das Problem Sucht und Drogen spezialisierten Stellen, die sich der Problematik annehmen, ist in den letzten Jahren gewachsen. Ziel ist ein effektives Netzwerk der Hilfseinrichtungen. Vor einer Kapazitätserweiterung ist der Schwerpunkt daher zunächst auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit zu legen. Die einzelnen Angebote müssen – z. B. durch mehr Verbindungsdienste – besser aufeinander abgestimmt werden.

Soziale Integration und Rehabilitation fördern

Ziel ist es, zu verhindern, dass Drogenkonsumenten und Suchtkranke ihre Ausbildung abbrechen, ihre Arbeitsfähigkeit verlieren, aus dem Arbeitsprozess ausscheiden und in eine Spirale der sozialen Ausgrenzung geraten. Die Behandlung und Betreuung von Suchtkranken kann nur dann erfolgreich verlaufen, wenn es gelingt, die soziale Integration und Rehabilitation der Betroffenen zu sichern.

Sicherheit gewährleisten

Ziel ist es, die öffentliche Ordnung und Sicherheit auch weiterhin auf hohem Niveau zu gewährleisten. Der umfassende Sicherheitsbegriff des Wiener Drogenkonzeptes bezieht neben klassischen sicherheitspolitischen Maßnahmen zur Eindämmung des Drogenproblems auch gesundheitspolitische und sozialpolitische Maßnahmen mit ein.

Im Folgenden werden einige der Handlungsfelder beschrieben, mit denen die Ziele des Drogenkonzeptes erreicht werden sollen.

Handlungsfeld Suchtprävention

Suchtprävention dient der Förderung und Erhaltung von Gesundheit, um zu verhindern, dass sich Sucht entwickelt und durch den Konsum von Drogen Probleme auftreten. Prävention heißt aber auch, dort, wo bereits Probleme bestehen, Schaden und Leid möglichst gering zu halten. Prävention ist als langfristiger pädagogischer Prozess zu verstehen, der nicht durch punktuelle Maßnahmen ersetzt werden kann. Drogenkonsum und Suchtentwicklung stehen oftmals in engem Zusammenhang mit Pubertäts- und Adoleszenzproblemen. Die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und der Erwerb von gesunden Lebenskompetenzen, wie Selbstwertgefühl, Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit, aber auch das Erlernen der Übernahme von Verantwortung für sich und seine Mitmenschen, spielen eine große Rolle. Suchtprävention heißt auch „Leben lernen“ und ist ein integrierter Bestandteil umfassender Gesundheitsförderung. Suchtprävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Kinder und Jugendliche stehen dabei im Mittelpunkt der Bemühungen. Kinder- und jugendgerechte Präventionskonzepte müssen die verschiedenen Faktoren, die zu einer Suchtentwicklung führen, berücksichtigen. Suchtprävention betrifft deshalb den gesamten Jugend- und Bildungsbereich. Dafür gibt es eine Vielfalt verschiedener Ansätze, Modelle und Methoden. Sie müssen den unterschiedlichen Lebenswelten, in denen die Jugendlichen aufwachsen, entsprechen und auch geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigen.

Die Vorbildwirkung der erwachsenen Bezugspersonen muss berücksichtig werden. Ein wichtiger Bereich ist hier die Auseinandersetzung mit dem unkritischen Konsum von Medikamenten zur Stimmungsveränderung, Entspannung und Leistungssteigerung in weiten Teilen der Bevölkerung. Der leichtfertigen Abgabe von Psychopharmaka und „Leistungspillen“ an Kinder und Jugendliche ist entgegenzuwirken. Suchtprävention darf sich nicht auf Informationsweitergabe beschränken, sondern geht weit darüber hinaus. Punktuelle Information allein ist zu wenig, Abschreckung zumeist präventiv wirkungslos. Information muss integrierter Bestandteil eines umfassenden suchtpräventiven Lernprozesses sein.

Suchtprävention in der Schule ist als fächerübergreifendes Unterrichts- und Erziehungsprinzip Bestandteil der schulischen Gesundheitserziehung. Diese ist ein kontinuierlicher Prozess, der von der gesamten Schulgemeinschaft, vor allem aber von den Lehrern getragen werden muss. Es gilt, in der Schule eine Vertrauensbasis herzustellen, die es ermöglicht, über das Thema Sucht angstfrei zu sprechen.

In Wien leben über 300.000 Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren.3 Das Drogenkonzept fördert daher die Aus- und Weiterbildung von qualifizierten Multiplikatoren als Schlüsselpersonen. Multiplikatoren sind in erster Linie Mitarbeiter aus den Bereichen Kindergartenpädagogik, Sozialpädagogik, Sozialarbeit, Jugendwohlfahrt und Freizeitpädagogik, Schule und Lehrlingsausbildung, Psychologie, Seelsorge, Krankenpflege und Medizin. Um den Erfahrungsaustausch, die Zusammenarbeit und die Abstimmung der Präventionsfachleute sicherzustellen, wurde das „Forum Suchtprävention Wien“ gegründet. Dieses bildet die Grundlage für das Netzwerk der Fachleute der Suchtprävention.

In den letzten Jahren wurden in Wien mehr als 1000 Lehrer für suchtpräventive Arbeit ausgebildet; darüber hinaus sind eine große Zahl von Präventionsprojekten an Wiener Schulen durchgeführt worden.4 Dabei werden im Jahr 2000 regionale Schwerpunkte, z. B. im 21. und 22. Wiener Gemeindebezirk, gesetzt. Durch diese Maßnahmen ist es gelungen, den Einstieg in riskanten Drogenkonsum bei Jugendlichen zu reduzieren. Waren bis vor etwa fünf Jahren noch ca. drei- bis vierhundert Jugendliche wegen riskanten Drogenkonsums und einer beginnenden bzw. manifesten Drogenabhängigkeit in verschiedenen Wiener Drogeneinrichtungen in Betreuung, so ist diese Zahl im Jahr 2000 auf etwa die Hälfte zurückgegangen.5

Handlungsfeld Beratung – Behandlung – Betreuung

Die Zahl der schwer Drogenabhängigen in Wien, die täglich und zwanghaft vor allem Opiate konsumieren, beträgt zwischen fünf- und sechstausend Personen. Dazu kommt eine ebenso große Gruppe von Drogenabhängigen, die Opiate wiederholt, aber nicht regelmäßig konsumieren. Diese Zahlen konnten in den letzten Jahren konstant gehalten werden.6

Um den unterschiedlichen Ursachen und Verlaufsformen der Suchtkrankheit therapeutisch adäquat zu begegnen, ist ein breites und differenziertes Spektrum von Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen erforderlich. Das grundsätzliche Ziel jeder Beratung, Behandlung und Betreuung ist die Heilung der Suchtkrankheit.

Sucht ist allerdings eine chronische Erkrankung und oft kann – wie bei anderen chronischen Erkrankungen auch – keine vollständige Heilung erreicht werden. Die Behandlung und Betreuung muss dann ein möglichst normales Leben mit der Krankheit zum Ziel haben. Sucht wird nicht als isoliertes Phänomen gesehen. Bereits davor liegende Ursachen und tiefer liegende Störungen sind zu erkennen und ebenfalls zu behandeln.

Je früher beginnende Drogenprobleme, eine bestehende Suchtgefährdung oder eine beginnende Suchtentwicklung erkannt und je früher die richtigen Interventionen gesetzt werden, desto besser sind die Chancen auf Heilung und vollständige Rehabilitation. Deshalb wird ein Schwerpunkt auf Früherkennung und Frühintervention gelegt.

Die Betreuung kann als abstinenzorientierte oder als substituierende (Verschreibung von Ersatzdrogen wie Methadon) Behandlung oder suchtbegleitend erfolgen.

Das Angebot für Behandlung und Therapie bildet ein Netzwerk, in dem die einzelnen Einrichtungen mit verschiedenen Betreuungskonzepten tätig sind:


Vorfeldarbeit
niederschwellige
Drogenarbeit
ambulante Beratung
ambulante Betreuungstationäre Behandlung
ambulante Langzeitbehandlungstationäre Langzeitbehandlung
Rehabilitation

 


Viele Patienten durchlaufen etliche Behandlungsformen, bis die Therapie Erfolg hat. Deshalb muss die Entscheidung, welcher Patient welche Behandlung in Anspruch nehmen soll, auf eine objektive fachliche Grundlage gestellt werden.

Ein Teil der Probleme, die im Zusammenhang mit Sucht und Drogen stehen, bedarf keiner Behandlung durch Drogenspezialisten. Dafür stehen auch die allgemeinen Hilfs- und Behandlungseinrichtungen des medizinischen, therapeutischen und sozialen Sektors für Betroffene offen. Suchtpatienten werden hier zunehmend genauso behandelt wie andere Patienten auch.

Drogeneinrichtungen haben die Funktion von Kompetenzzentren. Sie unterstützen andere Einrichtungen mit ihrem Fachwissen und stehen gleichzeitig auch den Patienten zur Verfügung, die eine spezifische Betreuung benötigen.

In der niedrigschwelligen Drogenarbeit wird die Gruppe jener Personen, die sich in der Straßendrogenszene aufhalten, vor Ort betreut. Diese Gruppe ist klein, aber besonders gefährdet, in hohem Maß sozial desintegriert, gesundheitlich belastet und in der Öffentlichkeit besonders auffällig. Der direkte Kontakt zu den Klienten der Straßendrogenszene schafft eine Vertrauensbasis für die Inanspruchnahme von weiterführender Hilfe. Eine Eskalation in diesem Bereich und eine massive Verelendung der Suchtkranken konnte damit verhindert werden. Die niedrigschwelligen Maßnahmen bestehen aus ärztlicher Basisversorgung, Spritzentauschprogrammen, Prophylaxe von Infektionserkrankungen, Wasch- und Schlafmöglichkeiten sowie Tagesarbeitsplätzen.

Die Zahl der Drogenabhängigen, die der „Straßendrogenszene“ zuzurechnen sind, beträgt maximal 500 Personen.7 Der größte Teil dieser Personengruppe steht in Kontakt und in Betreuung durch Mitarbeiter des Vereines Wiener Sozialprojekte – eine Einrichtung, die mit niedrigschwelliger Drogenarbeit befasst ist. An den Plätzen der „offenen Drogenszene“ in Wien werden im Durchschnitt nicht mehr als etwa 30 drogenabhängige Personen gezählt. Die Situation an diesen Plätzen ist kontrolliert und steuerbar. Eine Entwicklung wie in Frankfurt mit etwa 1000 Personen, die sich an Plätzen der offenen Drogenszene aufhalten, bzw. Zürich, wo über 2000 Personen in der offenen Drogenszene täglich anzutreffen waren, konnte in Wien vermieden werden. Die Situation ist stabil und kontrollierbar, da ein Teil der Klienten aus niedrigschwelligen in höherschwellige Betreuungsmaßnahmen übergeführt werden kann.

In ambulanten Beratungs- und Betreuungseinrichtungen ist heute österreichweit die größte Zahl der Drogengefährdeten und -abhängigen und deren Angehörige in Behandlung und Betreuung. Neben abstinenzorientierter Behandlung wird vor allem Substitutionstherapie angeboten.

Etwa 4500 schwerstabhängige Drogenpatienten in Wien stehen heute in ambulanter Betreuung, 3000 davon in Substitutionsbehandlung.8 In Österreich werden heute insgesamt 4500 Drogenabhängige mit Substitutionsmedikamenten behandelt. Durch die Substitutionsbehandlung ist die Beschaffungskriminalität und Beschaffungsprostitution deutlich zurückgegangen. Viele Drogenabhängige sind durch diese Behandlungsform erstmals in ein längerfristiges, kontinuierliches Betreuungskonzept eingebunden worden. Die Meldungen über Aids-Infektionen bei Drogenabhängigen in Wien betragen pro Jahr unter 10 Personen.9

Die stationäre Behandlung ist in erster Linie abstinenzorientiert und umfasst Entzugsbehandlung und Entwöhnungsbehandlung. Es gibt Kurzzeit- und Langzeitmodelle, die sich an spezifische Zielgruppen richten.

In Wien sind etwa drei Viertel der schwerstabhängigen Drogenkonsumenten in einem Beratungs- oder Betreuungsverhältnis. Die hohe Akzeptanz der angebotenen Maßnahmen hat dazu geführt, dass sich keine größere Gruppe von besonders schwierigen, sozial deklassierten und vielfach vorbestraften Therapieverweigerern gebildet hat, die in vielen anderen Großstädten der Welt die Kontrolle und Steuerung der Drogenprobleme einer Region besonders schwierig gestalten, wenn nicht ganz unmöglich machen.

Handlungsfeld Beschäftigung als soziale Integration und Prävention

Die soziale Stellung in der Gesellschaft wird in hohem Maße durch Erwerbsarbeit definiert. Erwerbsarbeit stellt dadurch einen bedeutenden präventiven Faktor dar. Menschen ohne Arbeit sind wesentlich stärker suchtgefährdet. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit hat grundlegende suchtpräventive Bedeutung. Der Ausgrenzung von Suchtkranken aus der Arbeitswelt ist aktiv entgegenzuwirken. Die Erhaltung und die Wiederherstellung der sozialen Grundbedürfnisse – wie z. B. Wohnen – und der Arbeitsfähigkeit sind vorrangige Aufgaben in der Behandlung von Suchtkranken.

Die Entwicklung konkreter Maßnahmen beruht in Wien auf einer Zusammenarbeit mit dem Arbeitsmarktservice (AMS), dem Wiener ArbeitnehmerInnenförderungsfonds (WAFF) und den Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Eine Reihe von Drogeneinrichtungen ist mit der Durchführung entsprechender arbeitsmarktbezogener Betreuungsangebote befasst. Um Suchtkranken mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit den Zugang zu einer Ausbildung oder die Möglichkeit zu einer sinnvollen Arbeit zu geben, sind spezifische arbeitsmarktpolitische Projekte notwendig. Im Rahmen von Projekten des zweiten Arbeitsmarktes können Betroffene in betreuten Ausbildungs- und Arbeitsverhältnissen ihre Arbeitsfähigkeit wiedererlangen. Die Chancen für schwerstabhängige Suchtkranke ohne Ausbildung auf Arbeit müssen allerdings realistisch eingeschätzt werden.

Handlungsfeld Justiz und Sicherheit

Das österreichische Suchtmittelgesetz bietet die Möglichkeit des Einsatzes gesundheitsbezogener Maßnahmen bei der vorläufigen Zurücklegung der Anzeige, bei der vorläufigen Einstellung des Strafverfahrens und beim Aufschub des Strafvollzuges. Die gesundheitsbezogenen Maßnahmen werden in Einrichtungen angeboten, die nach dem Suchtmittelgesetz anerkannt sind und haben sich als wirksameres Mittel zur Kontrolle der Probleme von Drogenabhängigen erwiesen, als Haftstrafen.

Objektiven Sicherheitsproblemen im Drogenbereich muss durch gezielte Maßnahmen der Polizei und Schwerpunkte der Sozialarbeit begegnet werden. Eine Konzentration der offenen Drogenszene auf bestimmte Plätze der Stadt führt zu einem überproportionalen Anstieg der Probleme vor Ort und ist daher zu verhindern. Verstöße gegen die allgemein gültigen Gesetze zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sind grundsätzlich nicht tolerierbar.

Der Kooperation zwischen Sicherheitsbehörde und Sozialarbeit wird große Beachtung geschenkt. Auf der Grundlage von gemeinsamen Analysen der Sicherheitssituation in problematischen Bereichen werden spezifische Maßnahmen entworfen. Dadurch können entsprechende Richtlinien unter dem Gesichtspunkt eines breiten Sicherheitsbegriffs entwickelt werden. Aspekte der objektiven Sicherheit, der sozialen Verträglichkeit und der Konfliktregelung werden gleichermaßen berücksichtigt.

Referenzen

  1. World Drug Report, United Nations International Drug Control Programme, 1997, S. 124
  2. Wiener Drogenkonzept, Magistrat der Stadt Wien, 1991, Wiener Drogenkonzept 1999, Magistrat der Stadt Wien, 1999
  3. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien
  4. Persönliche Mitteilung von Mag. Paul Kral, Direktor des Pädagogischen Institutes der Stadt Wien
  5. Aus den Jahresberichten der Wiener Drogeneinrichtungen, persönliche Mitteilungen von Mitarbeitern dieser Drogeneinrichtungen
  6. A. David, Quantifizierung des Drogenproblems in Wien und die in Wien vorherrschenden Konsummuster, Protokoll der Wiener Drogenkommission, 1997
  7. Jahresbericht 1999 der Straßensozialarbeit - StreetworkJahresbericht 1999 der Sozialmedizinischen Drogenberatungsstelle - Ganslwirt, beide Verein Wiener Sozialprojekte, 1999
  8. Jahresberichte der Wiener Drogeneinrichtungen, Substitutionsstatistik der Bezirksgesundheitsämter, Magistratsabteilung 15 – Gesundheitswesen, Wien, Mai 2000
  9. Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Abt. VIII/D/2 1999, Gesundheitsbericht für Wien 1999

Anschrift des Autors:

Dr. Alexander David, Drogenbeauftragter der Stadt Wien, Hegelgasse 8, A-1010 Wien

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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