Hoffnungen und Ängste angesichts der Jahrtausendwende

Imago Hominis (1999); 6(4): 305-313
Johannes B. Torello

Zusammenfassung

Die unterschwellige Angst vor dem uns Unbekannten gehört zum Wesen unseres Daseins. Auf die Frage nach der Heilung dieser uns innewohnenden Angst antwortet allein der Glaube. Pathologische Ängste entwickeln sich auf dem Boden einer angespannten Lebensart und Egozentrik. Mit diesen haben es die Ärzte zunehmend zu tun, weil durch die fortschreitende Verdünnung des christlichen Glaubens ein Vakuum entsteht, in dem sich der Relativismus breit gemacht hat. Das ist die Voraussetzung für eine Fülle unterschiedlichster Ängste. Angst kann nicht unterdrückt oder frontal bekämpft werden. Sie muß angenommen werden und kann sich in der Erfahrung der Liebe, der menschlichen Liebe, aber vor allem in der Geborgenheit des Schöpfers, auflösen.

Schlüsselwörter: Angst, Relativismus, Glaube, Erfahrung der Liebe

Abstract

The subconscious fear of the unknown is an essential part of our existence. Faith alone is the answer to the question of healing this interior fear. Pathological fear develops in the substrate of a stressful life style and egocentrism. Medical doctors have more and more to do with theses cases, because the progressive silution of the Christian faith causes a vacuum which is filled up with relativism. This is then the starting point for many and various types of fear. Fear can not be suppressed or fought against. It has to be accepted, and by the experience of love, human love, but above all, by the sense of security from the Creator, be resolved.

Keywords: fear, relativism, faith, experiencing love


Sagen wir es im voraus, deutlich und ein bißchen plakativ: Nur die Dummen haben keine Angst. Denn es ist immer das Unbekannte und Unbegreifliche, das uns unvermeidlich ergreift, das Überwältigende, das doch um uns und auch in uns waltet, was den Menschen aus dem Gleichgewicht bringt, Schwindelzustände erregt und Angst entstehen läßt. Nicht nur die Welt und das unendliche All, die Geschichte und die gesamte Menschheit erweisen sich – trotz aller Errungenschaften der Wissenschaft – als voll von Rätseln: Der Mensch selbst – dieses unbekannte Wesen – versteht sich nicht, denn Zwiespältigkeit und Widersprüche wuchern nicht nur in seinem Verhalten, sondern im eigenen Schoß, und das wirkt bedrohlich und daher beängstigend. "Unruhig ist unser Herz", sagte Augustinus. Und die gewaltige Seherin aus dem England des XIV. Jahrhunderts, Juliana von Norwich, beschreibt in schöner Sprache eine ihrer Visionen: "Gott zeigte mir ein kleines Ding, so groß wie eine Haselnuß, das in meiner Hand lag, und es erschien mir rund wie eine Kugel. Ich schaute es an und dachte: "Was mag das sein?". Und es wurde mir die allgemeine Antwort gegeben: Das Geschaffene! Ich staunte, daß es bestehen konnte; denn ich dachte, es könne, so gering es war, leicht in nichts vergehen ...". Genau das fürchtet der Mensch von heute, in dessen Hand die ganze Schöpfung wie nie zuvor liegt: es kann leicht in nichts vergehen.

Diese unterschwellige Angst vor dem uns Unbekannten gehört zum Wesen unseres Daseins, welches sich – wie Thomas von Aquin es definierte – als ein Grenzwesen auf der Gratwanderung zwischen zwei Abgründen bewegt: dem Nichts und der Ewigkeit. Einerseits kann sich der Mensch, auf Grund seiner Größe, nicht verstehen: er ist als Ebenbild Gottes – des Unbegreiflichen – erschaffen (deshalb kann er sich nicht begreifen, betonte der Hl. Augustinus). Andererseits erfahren wir alle täglich unser Elend, die Ohnmacht Selbsterfüllung zu erreichen, das Böse in uns und im Nächsten gegenüber dem Willen Gutes zu tun und gut zu sein ... und dieses Erlebnis erschreckt uns und läßt uns mit Pascal sagen: "Welche Chimäre ist doch der Mensch? Welch Unerhörtes, welches Monstrum, welches Chaos, welcher Gegenstand des Widerwillens, welches Prodigium! Richter aller Dinge, stumpfsinniger Erdenwurm; Treuhänder der Wahrheit und Kloake des Unwissens und des Irrtums, Ehre und Auswurf der Welt ... Was wird aus dem Menschen? Wird er Gott oder dem Tier gleich sein? Welch abschreckender Abstand! Was wird doch aus uns? Wer sieht nicht aus alledem, daß der Mensch ortlos ist, daß er aus seiner Stelle herausgefallen ist, daß er sich ruhelos sucht, daß er sich nicht wiederfinden kann? Und wer wird ihn richtig hinweisen?"

Auf diese Frage nach dem Ursprung dieser uns allen innewohnenden Angst und deren Heilung antwortet allein der Glaube: er öffnet unseren Geist zur göttlichen Offenbarung über die Schöpfung und den Sündenfall, und über das Heil, das Christus brachte und das ER selbst ist (siehe II. Vatik. GS 4-10).

Nun aber stellt die Medizin seit ca. 15 Jahren fest, daß diese grundsätzliche Angst, bei besonders emotiven Menschen und unter gewissen Lebensumständen, als "Krankheit" auftaucht, daß sie, scheinbar ohne Grund, plötzlich platzt, wie ein Sturm, wie eine vulkanische Eruption, deren Lava im Nu alles zu verbrennen und zu verzehren droht. Es ist die sogenannte "Panikattacke", die ca. 15‘ dauert, und die die Ärzte heutzutage häufig in Anspruch nimmt und mit Medikamenten und Psychotherapien mehr oder weniger erfolgreich behandelt wird.

Wie jede Emotion zeigt die Angst eine körperliche Kehrseite, die je nach Person anders sein kann: Kopfschmerzen, Herzklopfen, Zittern, Übelkeit und vor allem Erstickungsgefühl ... denn das Wort Angst kommt aus dem lateinischen Ausdruck "angustia", d.h. Einengung, Abschnürung, Strangulierung, Atemnot. Deshalb lobt die Weisheit der Psalmen Gott mit den Worten: "Du hast mir Raum geschaffen, als mir Angst war" (Ps 4,8). Bei Panikattacken sind die leiblichen Störungen unterschiedlich, aber immer dabei: das Erstickungsgefühl bringt einen beklemmenden Eindruck des nahenden Sterbens mit sich (diese Gefahr besteht aber nicht!). Sie haben keine organische Ursache, hinterlassen aber immer einen Zustand der Erwartungsangst (Angst vor der Angst), die krankhafter als die Attacke selbst sein kann.

Sowohl diese Angstanfälle als auch die sogenannten "generalisierten Angststörungen" (die die alte Angstneurose Freuds abgelöst haben, so Katschnig, Wien) haben immer einen ausgeprägten personalen Charakter: sei es bezüglich ihrer klinischen Erscheinung, sei es bezüglich ihrer Entstehung. Diese Angstformen entstehen größtenteils auf dem Boden falscher Erziehungsmethoden (zu viel Härte oder zu viel weichliche Verwöhnung). Nestroy bringt das Beispiel einer nicht seltenen Art Pädagogie, eine Angst durch eine andere vertreiben zu wollen: Eine Mutter sagt zum Hansi, der vor Gespenstern eine lähmende Angst empfindet: "Wenn’st mit’n Fürchten nicht aufhörst, so schicke ich den Schwarzen über dich mit’n großen Sack, da steckt er dich hinein und tragt dich in’n Wald hinaus". Andere Ängste entwickeln sich auf dem Boden einer angespannten Lebensart, die ihrerseits auf starke Egozentrik zurückgeführt werden muß. Der Mensch, der sich um jeden Preis und über alles selbstverwirklichen und sich behaupten will, ist wie kaum andere – sobald die unvermeidlichen Widerwärtigkeiten des Lebens erfahrbar werden – über kurz oder lang dem Angstsyndrom ausgeliefert. Und da helfen weder Ablenkung noch Konzentration, weder der Versuch, die Persönlichkeit zu stärken noch die Persönlichkeit aufzulösen, wie etwa im New-Age-Rausch. Die Ich-Zentrierung verursacht immer Schwindelzustände, Gleichgewichtsverlust, Angst. Nicht wenige Ängstliche projizieren die ihnen tief sitzende Angst auf bestimmte Gegenstände, Situationen, Tiere, Menschen oder Gespenster jeglicher Art: Schuld sind immer die anderen, das Schicksal, die Götter oder Gott: es ist die paranoische Flucht aus dem verantwortungstragenden Ich. Dazu tragen Weltlage und herrschende Weltanschauungen stark bei. Daher haben Ärzte, Psychotherapeuten und Seelsorger am Rande des nächsten Millenniums hauptsächlich mit gewissen Formen der Angst zu tun.

Gegen Ende des ersten Millenniums war das Abendland durch und durch christlich, und da herrschte die Meinung, daß das Ende der Welt gerade mit diesem Zeitabschnitt stattfinden würde, aber die Christen sahen die Apokalypse nicht als erschreckende Katastrophe, sondern als endgültigen Sieg des Gerechten, als Ankunft des neuen Himmels und der neuen Erde, wo Gott – die Liebe – alles in allem sein wird. Gewiß würden dabei das Alte, die Weltmacht des Bösen und alle Machenschaften des erscheinenden Antichristen gewaltsam gestürzt und zerstört, aber vor allem geht es um den erwarteten, aber auch erstaunlichen Triumph des Guten, Wahren und Schönen Gottes und um das Ende unserer Miseren. "Da das Reich Gottes schon anbricht", dachten die damaligen Christen, "seien wir dessen bereits würdig", so bereiteten sie die Welt dafür vor: Sie stiften überall Frieden – nicht als sentimentale Pazifisten-Bewegung, sondern als Vorwegnahme der göttlichen Ordnung -, sie entfalteten sich mit unglaublicher Vitalität: die Bevölkerung nahm zu, die Wirtschaft blühte, große Dome wurden gebaut und zahlreiche Klöster gegründet. Die christliche Hoffnung stellt tatsächlich keine Flucht nach vorne dar: sie spornt den Einsatz im Diesseits an!

Für den apokalyptischen Christen am Rande des 2. Millenniums war die Vorstellung vom bevorstehenden Ende der Zeit nicht jene der Vernichtung, sondern der Erwartung auf Erfüllung.

Nun ist unsere Lage anders: Die fortschreitende Verdünnung des christlichen Glaubens als Fundament der Verfassung aller Staaten, die seit langem nur "wertfreie" Gesetze erlassen – man könnte sie auch als "wertlos" bezeichnen – läßt ein Vakuum, eine bisher nie vorhandene Ungeborgenheit entstehen, die Angst in verschiedenen, immer verbreiteteren Formen erzeugt.

Schon in den 40iger Jahren dieses gottlosen Jahrhunderts entfesselte eine technisch vollkommene Radiomeldung über eine Weltkatastrophe, die das Ende der Menschheit zur Folge hätte, in den USA eine Welle der Verzweiflung und der Selbstmorde in großem Ausmaß! Jetzt an der Schwelle des 3. Millenniums, stellen wir noch keine massenhafte Erschütterung des Gemütes fest, sondern vereinzelte, auf Kreise von einfältig Exaltierten reduzierte Angstausbrüche: So wurde schon gemeldet, daß zahlreiche Amerikaner sich vor einem Versagen der Computertechnik am Jahresende fürchten, die sie lahmlegen, ja lebensunfähig machen würde. Und es ist die Nachricht von gestern, daß Endzeitsekten in Großbritannien Hochkonjunktur haben, und daß verirrte Seelen in der neuen "Church of Diana" Frieden suchen und auf die neue Bibel, die die Prinzessin aus dem Jenseits dem Gründer ihrer Kirche diktiert, warten. Man sieht es ein, daß dort, wo Gott verschwindet, es sofort von den lächerlichsten Götzen wimmelt! (Max Scheler)

Unser Europa – prächtig-rachitisches Erbe des großen Abendlandes – hat nicht nur nicht mehr die Stütze der christlichen Hoffnung: es ist nach dem Zusammenbruch der Ideologien und Utopien, die von der alten Aufklärung abgeleitet wurden – Rationalismus, Idealismus, Marxismus, Fortschrittsgläubigkeit, Wissen-schaftsaberglaube usw. – einem totalen Relativismus verfallen, den der deutsche Philosoph Robert Spaemann "banalen Nihilismus" nennt. Für den herrschenden Relativismus gibt es keine Möglichkeit, die objektive Wahrheit, ja die Wirklichkeit zu erkennen, keinen Wert, der nicht Illusion ist. Dadurch erwies der Zeitgeist seine Humorlosigkeit (Averintsev), denn der Humor blüht und gedeiht nur dort, wo feste Überzeugungen walten, und dazu noch erzeugte diese Haltlosigkeit das Wunschbild einer sogenannten liberalen Gesellschaft, in der "nichts für wirklich gehalten wird als Lust (die um jeden Preis anzustreben ist) und Schmerz (der auch um jeden Preis auszurotten sei)". Da die internationale Technokratie, die Weltorganisation für die Gesundheit, diese als "totales Wohlbefinden – physisch, psychisch und sozial –" definiert hat, geht man von der Wirklichkeit des Daseins weg, um in die neue Utopie einzutreten: die Menschheit ohne Leid und ein Leben, das nach Belieben fortgesetzt werden könne. Bemessen nach dieser Auffassung der Gesundheit, nach restloser Beseitigung jeder Art des Leides, bildet sich unter unseren Augen eine "Kultur der Analgetika" (Kolakowsky) d.h. der schmerzstillenden Mittel, wofür viele Milliarden ausgegeben werden, und die von der Medizin und deren Technologie und Pharmakologie immer mehr verlangt. Religion und gesunde Philosophie haben ja seit eh und je nicht triviale Resignation dem Leid gegenüber gelehrt, sondern Annahme des Lebens, so wie es ist – mit allen damit verbundenen Einschränkungen, Unannehmlichkeiten und Schmerzen – als "Leistung", als Anregung einer höheren Einstellung, als Emporhebung der Person auf die Ebene des "Seins" gerade durch Begrenzung des "Habens": Das Kranksein kann die Entdeckung von Werten fördern, ja es öffnet neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, der Selbsthingabe und sogar der Kreativität. Das Dulden erweist sich als höchste Aktivität der menschlichen Freiheit des Geistes über allen leiblichen und seelischen Zuständen (Max Scheler, Médard Boss, Viktor Frankl) und bei religiös Leidenden als das Höchste, dessen der Mensch fähig ist: in einem und demselben Willensakt den Willen Gottes mit dem Willen des Menschen zu vereinigen (Max Scheler).

Der relativistische Zeitgenosse ist blind vor dieser Größe und will nicht nur jeden leiblichen Schmerz schnell und restlos beseitigen, sondern "pathologisiert" jede Schwierigkeit und jede Widerwärtigkeit, die die Existenz auf Erden mit sich bringt: die Kinderlosigkeit, die Menopause, jede körperliche Unschönheit, jede Traurigkeit, jede Angst, jede Ehekrise, jedes Versagen im Beruf und sogar jede sportliche Unzulänglichkeit: all das wird als "Krankheit" bezeichnet und erlebt: die Medizin muß Heilung und Glück bringen!

In Österreich, wo "G’sundheit ist Hauptsache" wörtlich genommen wird, wuchert es in allen Medien von täglichen Warnungen, Ratschlägen, Vorsichtsmaßnahmen und Rezepten, aus mehr oder weniger Kompetenten in Sachen der volkstümlichen und der naturwissenschaftlichen Heilkunde, gemischt mit Horoskopen und okkultischen Pseudoweisheiten. Es wird allmählich ein "Land der Hypochonder".

Die Angst nimmt zu. Unsere naturwissenschaftliche Medizin, die erst in unserem Jahrhundert (1938) die Antibiotika entdeckte und damit die Menschheit von Infektionen, auch von dezimierenden Seuchen und hoher Kindersterblichkeit befreit hat, und eine Chirurgie entwickelte, die das vor wenigen Jahrzehnten Undenkbare leistet, erweist sich heute aber als ohnmächtig vor den Scharen von Leidenden, die sie in die Schublade des "Psychosomatischen" wirft. Diese Patienten oder Klienten, bei denen die perfektesten Apparate keine organische Krankheit feststellen können, wandern von einem zum anderen Mediziner – "die eigentlich keine "Ärzte" mehr sind, da sie keine Zeit für persönliche Gespräche haben und nie das Verhältnis zum je einmaligen Leidenden lernten" (- so der Nestor der Wiener Medizin K. Fellinger), suchen oft in den überfüllten Apotheken Rat und die neuesten Pharmaka oder vertrauen sich Heilspraktikern und Esoterikern an. Man fürchtet sich auch vor dem bürokratischen Räderwerk der Krankenhäuser, wo Computer fast alles bestimmen und die menschliche Begleitung und Geborgenheit dem – Gott sei Dank oft herzlichen – Helferpersonal anvertraut ist. Sowohl die ursprüngliche und eigentliche Aufgabe der Medizin (Förderung des Lebens, Befreiung und Linderung von Krankheit) als auch die unermeßliche Nachfrage der hedonistischen Gesellschaft zeigen sich am Ende dieses Millenniums als unerfüllt und lassen überall typische Ängste auftauchen.

Von einer anderen Form der Angst der Menschen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts muß, leider nur sehr kurz, die Rede sein. Der nicht nur wirtschaftliche Trend zum Übergroßen und Übergreifenden, die mehr oder minder tief schürfende Union von Ländern mit verschiedener Geschichte und Kultur, die zunehmende Globalisierung und Fusionierung auf jeder Ebene (Politik, Verwaltung, Landwirtschaft, Gesetzgebung usw.) kann ja der Förderung des Friedens und der Geschwisterlichkeit, der Überwindung von dummen Nationalismen und mörderischen Rassismen und zum Aufbau multikultureller Großgemeinschaften, wo gegenseitiges Verständnis und wechselseitige Bereicherung anstatt Konkurrenz, Zank und Vorurteilen ermöglicht werden, dienen. Aber alte, traditionsreiche, bodenständige Volkseinheiten und auch einzelne Personen empfinden Angst vor dem Gigantischen, dem Gleichmachenden und Identitätszerstörendem, auch weil die Macht in einer immer kleineren Zahl von Händen liegt, weil lebenswichtige Entscheidungen von anonymen Bürokratie-Apparaten getroffen werden, weil ein einziges Parlament Gesetze für viele Volksgemeinschaften erläßt, die zu stummen Ja-Sagern degradiert werden.

Diesem Vorgang stellen sich nicht nur die Hochschätzung und Lobpreisung des Kleinen (small is beautiful) entgegen, sondern auch eine zentrifugale, lokalistische Zersplitterung. Die Angst vor dem Verlust des Eigenen, des Kulturellen, Familiären, ja sogar des Personalen steigert sich von Tag zu Tag: von den sizilianischen Orangen, die ins Meer geworfen werden müssen bis zur allgemein regulierten Tötung von Neugeborenen und Greisen ausgehend, erschreckt zahlreiche Europäer die Monströsität einer Riesenverwaltung, die die meisten weder verstehen noch beeinflussen können. Diese ist eine der neuen Ängste des Menschen am Ende des 2. Millenniums. Davon gibt es zahlreiche, wie z.B. Angst vor jeglichen Manipulationen, vor der Bevölkerungsexplosion, die nun in jene der Überalterung übergegangen ist, Angst vor Ufos, vor Aids, vor bösen Geistern und Dämonen, Angst vor den Journalisten,...

Aber, um die Beschreibung der Grundformen der Angst nicht zu sehr auszudehnen, werden wir nur zwei davon kurz erwähnen. Zunächst die Angst vor der Technik: Die Technologie schuf in ihrem Anfang Großes, Mächtigeres als alles, was der Mensch konnte: Lokomotiven, Industriemaschinen, Wolkenkratzer, Rechenapparate, die die Arbeit von zahlreichen, optimalen Mathematikern, Physikern und Chemikern präziser und zig-mal schneller liefern; Automaten, die das Weltall Tag und Nacht erforschen, Kraftfahr- und Flugzeuge ... Die Angst vor diesen Ungeheuern legte viele Menschen lahm und ließ die "laudatores temporis acti" (die Lobpreiser der alten guten Zeiten) rührend singen. Nun wird die Angst vor dem Übergroßen von jener vor dem Kleinsten begleitet (Atom, Virus, Gen, elektromagnetische Strahlen).

Diese Angst richtet sich an die Technologie – die doch die Menschen auf dem Mond spazieren und das Fernste zu Hause sehen läßt – und nun das Kleinste, Unsichtbare bereits aufwühlt und nach Belieben lenken will... Dieses Kleinste fasziniert und beunruhigt in einem... denn es berührt auch die tiefste Schichte des Menschen: das Mikrobiologische und das Seelische. Die Technik – durch die Maschinen, die sie immer wirksamer entwickelt – erweckt den Traum der "Machbarkeit aller Dinge" und sogar den seltsamen Vorstellungszwang, daß alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden soll. Man hat Angst vor dieser modernen Übermacht der Technik, die die ganze Erde tatsächlich vernichten kann. Ja, die Technik wird vorschnell als inhuman angeprangert, aber sie ist eine Errungenschaft der Humanen, die immer mehr de facto dem Befehl des Schöpfers, über die Natur zu herrschen, nachkommen.

Im 1. Kap. des Genesisbuches lesen wir, daß Gott den Menschen, Mann und Frau, als sein Abbild schuf und zu ihnen sprach: "Vermehrt euch, bevölkert die Erde und unterwerft sie euch" (1,28), und im 2. Kap. (2,15) wiederum: "Gott setzte den Menschen in den Garten Eden, damit er ihn bebaute" ut operaretur terram. Vor dem Sündenfall wird der Begriff "operare" verwendet, nach dem Sündenfall "laborare" (mit Mühe arbeiten). So muß die Bearbeitung und die Beherrschung der Natur durch den vernünftigen Einsatz des Menschen – also durch fortschreitendes Wissen und die davon abgeleitete Technik– im Rahmen der "allgemeinen Berufung zur Heiligkeit" verstanden und verwirklicht werden. Die Erde zu bearbeiten ist Wille Gottes: derselbe, der die Heiligung des Menschen will (1 Thess. 4,3). Die Entgegensetzung von "vita contemplativa" und "vita activa" hat es jahrhundertelang selten begriffen. In unserem Jahrhundert, im sogenannten "Zeitalter der Angst" ertönte gegen Ende der 20iger Jahre die Verkündigung eines Bahnbrechers der Laienspiritualität – des Sel. Josefmaria Escrivá – die die Arbeit innerhalb der weltlichen Strukturen, sei sie unauffällig oder spektakulär, emporhob auf die Ebene des zu Heiligenden ("Alles, was ihr tut, tut es im Namen des Herrn", Kol. 3,17), ja, als Tätigkeit, die den Arbeiter heiligt (mit dem Willen Gottes vereint) und die Welt zu heiligen hat (die sog. "consecratio mundi" wie es 30 Jahre später das II. Vatik. Konzil feierlich proklamierte: siehe bes. LG 31, und G.S. Kap. 3).

Es scheint, daß die Macht des Menschen ihren Höhepunkt erreicht hat: Wir müssen über unser Schicksal entscheiden: für das Leben oder für den Tod. Es ist die Zeit der Reife, der Freiheit und der Verantwortung im größten Ausmaß (E. Mounier). Man sollte erkennen, daß die Technik an sich neutral ist, zugleich bewundernswert und banal: alles hängt vom Gebrauch oder Mißbrauch derselben ab. Alles hängt vom Menschen, der sie erfand und benützt, ab: Er muß humaner werden, nicht die Technik und ihre Maschinen, von denen niemand verlangen kann, was sie nicht geben können.

Erkennen muß man auch, daß viele negative Auswirkungen – meistens Nebenwirkungen – des technischen Fortschritts, wie z.B. Umweltverschmutzung, als Kinderkrankheiten betrachtet werden müssen – wie in der Fabel des Zauberlehrlings: "Die ich rief, die Geister, werde ich nun nicht los"– ... die Technik selbst hat sie bereits größtenteils geheilt und wird es hoffentlich weiter tun (Die technisierte Welt ist insgesamt viel sauberer geworden als in den vergangenen Zeiten und niemand würde auf die zahlreichen Maschinen verzichten, die unsere Städte und Wohnungen hygienischer und angenehmer gemacht haben).

Das romantische "Zurück zu den alten Quellen!" vergißt, daß diese Quellen früher allerlei Seuchen verbreiteten, die das Menschenleben durchschnittlich zum Frühsterben verurteilten.

Die Angst ist an sich ein nützliches Alarmsignal gegenüber Gefahren, aber sie ist keine gute Beraterin, weil sie zu instinktiv, zu emotionell, zu unvernünftig ist und zu Kurzschlußideen und –handlungen führt. Viele Technologie-Feindseligkeiten sind infantile Reaktionen, wie jene des Kleinkindes, das, verletzt von einem Spielzeug, es wütend zerstört. Vernünftig reif sollen wir werden im Umgang mit unseren Maschinen und nicht bloß "erhabene" Verächter derselben: Lernen müssen wir den verantwortlichen Gebrauch z.B. von Internet, das Pornographie in die Familienwohnung bringt, aber auch die gesamte Lehre der Heiligen Augustinus und Thomas von Aquin, worüber früher nur Experten und "Bibliothekratten" äußerst mühsam verfügten und zu eigen machen konnten.

Man muß "assimilieren" und meistern lernen, nicht wegwerfen! Es ist anstrengend, sogar "heroisch" anstrengend, aber der Mensch, und vor allem der Christ darf vor den eigenen Fähigkeiten nicht zittern, sondern muß das Gewissen verfeinern (das Lehramt der Kirche achtend) und um das Licht und das Feuer des Hl. Geistes ständig bitten. Weder die Naivität der alten Aufklärer, die den Fortschritt anbeteten, ohne die Richtung desselben zu erkennen und bestimmen zu können, noch der ängstliche Immobilismus oder die Pseudo-Poesie der "Sakralen Natur"-Zurückschauer ist der richtige Weg!

Das Christentum gerade hat die Natur entmythologisiert, d.h. sie von Kobolden, Gnomen und Dämonen gesäubert und in die Hand des Menschen gelegt. Der Mensch von heute muß – nach dem Aufklärungsrausch, der den Naturwissenschaften einen "Totalitätsanspruch" einräumte (Jaspers) – den Platz der Naturwissenschaft neu definieren (Spaemann): Sie selbst kann sich ihn nicht festlegen. Da gilt nur die Ethik, die den Menschen als Selbstzweck (niemals als Mittel) erkennt und der Glaube, der die Würde der Person in ihrer Beziehung zum personalen Gott letzten Endes begründet, sieht und bejaht. Wenn dieses Primat der Menschenwürde in allen Lebensbereichen unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation und die Menschenrechte als Schutz der Menschenwürde überall resepktiert werden, dann wird sich diese typische Angst unseres Zeitalters auflösen, auch wenn dieser ersehnte hochmoralische Zustand der Welt immer vom Bösen verführt, verletzt und umgekippt werden kann. "In dieser Welt, hat Jesus gesagt, werdet ihr immer Bedrängnis erfahren, aber habt keine Angst, ich habe die Welt besiegt" (Joh. 16,33). Und später sprach er zum himmlischen Vater: "Ich bitte nicht, daß du sie aus der Welt nimmst, sondern daß du sie vor dem Bösen bewahrst" (Joh. 17,15).

Schließlich soll von einer anderen Grundform der Angst gesprochen werden, die in unserer Zeit herumgeistert und unsere Gesellschaft vergiftet: die Angst vor jeder Bindung, insbesondere vor der Ehe. Fritz Riemann nennt diese Grundform: Angst vor der Selbsthingabe, m. E. mit vollem Recht. Es ist verständlich, daß, wo Menschen vom erwähnten Relativismus und miteingeschlossenen Nihilismus beherrscht sind, es nichts und niemanden gibt, der Vertrauen erweckt und verdient. Freiheit, die allein als Ungebundenheit aufgefaßt wird, steht logischerweise im Gegensatz zur Liebe, die wesentlich nach Verbundenheit und sogar Einheit verlangt. Bei jeder Trauung hört man das Murren der Skeptiker am Ohr der Brautleute: "Nun seid ihr nicht mehr frei". Und es ist wahr und nicht wahr zugleich, denn jede freie Handlung bringt einen gewissen Freiheitsverlust mit sich: Wer auswählt, verliert in diesem Augenblick die Fähigkeit auszuwählen und ausgewählt zu werden: der ist nicht mehr frei, nicht mehr verfügbar. Aber der Mensch, der seine uneingeschränkte Ungebundenheit, seine absolute Freiheit behalten möchte, müßte eigentlich auf jede Handlung, auf jede Entscheidung, auf jede Liebe, ja, auf das Leben schlechthin verzichten.

Die Freiheit, die den Menschen als Ebenbild Gottes auszeichnet und kennzeichnet, ist, als Ungebundenheit, sozusagen zum Sterben bestimmt: Alles hängt von der Ebene, worauf sie geopfert wird, ab: unten die Sklaverei, oben die Liebe. Und darin besteht die Größe der menschlichen Freiheit: sie bietet uns die Möglichkeit des bedingungslosen Einsatzes, der endgültigen Wahl, der restlosen Hingabe... für die der Mensch geschaffen worden ist. Unser Dasein ist wesentlich Mit-Sein (Binswanger). Die Person ist Gabe und Hingabe, Selbstbesitz (Freiheit) und Offenheit, Ich und Beziehung zum Du: Man ist als mit, man verwirklicht sich nur durch die Hingabe an den anderen. Bindungsscheue vor lauter Vorsicht, an totale Sicherheiten Vernarrte, Argwöhnische und Pessimisten aller Art entfremden sich vom realen Leben... welches immer Abenteuer, Wagnis, Kunstwerk, ja ein göttliches Spiel ist, das jede Vernünftelei und jede Berechnung übersteigt und verblüfft. Johann Nestroy hat es einmal scharfsichtig und köstlich ausgedrückt: "Nur bei der Linie der Gefahr kommt man hinaus ins Freie des Vergnügens. Wer sich scheut, diese Linie zu passieren, der bleibt ewig in der staubigen Vorstadt der Langeweile hocken"... der Langeweile und der Angst, ja, "der Neurose unserer Zukunft", wie der große Züricher Psychotherapeut M. Boss in der Mitte dieses Jahrhunderts vorausgesagt hatte. Ernster, erbarmungsvoller und für alle Zeiten hat Jesus es erklärt: "Wer sein Leben retten will, wird es verlieren".

Es geht aber im Grunde nicht um die Freiheit, sondern um die Eigensucht, welche den Menschen in sich verschließt und zur neurotischen Einengung, zur Erstickung verurteilt. Man fürchtet sich vor den unvermeidlichen Frustrationen des Lebens, und man frustriert sich selber von vornherein. Personale Liebe, die indirekt Selbsterfüllung bringt, fordert Bedingungslosigkeit und endgültige Bindung und Entfaltung im großen Ganzen der Familie... Andere flottierende "Lieben" – die nur "Liebeleien" sind – fördern die heute grassierenden Neurosen unter Menschen, die von den strengen Geboten und Tabus der Sexualrevolution der 60iger bis 70iger Jahre noch belastet sind. Eine "Kultur der Liebe" (nach der glücksversprechenden, anthropologisch tief fundierten Lehre des Papstes) muß noch entstehen, die dem Realismus der Person, der Familie – als Gemeinschaft von Personen – und der Gesellschaft entsprechen, und all diese Wirklichkeiten im Dienste des Lebens fördern wird.

Man muß es erkennen: Entweder die Liebe oder das Nichts... und die Angst.

Die Angst kann nicht unterdrückt, frontal bekämpft, besiegt oder überwunden werden. Sie muß angenommen werden – wie der Tod, auf den sie immer hinweist – als Sold der Sünde, als Begleiterin unserer irdischen Existenz... Sie aber verschwindet, löst sich geräuschlos auf, wo der Mensch die höhere Geborgenheit der Liebe des Schöpfers und der närrischen Liebe des Erlösers in einem Leben aus dem Glauben täglich erfährt. "Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht", sagte Johannes lapidarisch (Joh. 4,18), auch die menschliche Liebe, welche aber ihre festen Wurzeln und ihre höchste Blüte in der Gottesliebe zu finden vermag.

Die eingangs zitierte Vision der Juliana von Norwich befreit auch die angstbeladene Feststellung der Niedrigkeit, ja bedrohliche Nichtigkeit der ganzen Schöpfung folgenderweise: "So gering, wie (das ganze Geschaffene) war, daß es könne leicht in nichts vergehen... Mein Verstand erhielt die Antwort: ‚Es besteht und wird bestehen, weil Gott es liebt‘, und so hat alles das Sein durch die Liebe Gottes."

Am Ende dieses Millenniums hat uns der Papst empfohlen, Gott als den Vater aller zu betrachten: ER ist allmächtig und Vater – was für ein Glück! Wenn diese erste Feststellung unseres Glaubensbekenntnisses zur Erfahrung wird, dann ereignet sich, was der Sel. Josefmaria Escrivá überall verkündete und ausstrahlte: Man hat keine Angst mehr, weder vor dem Leben noch vor dem Tod, und auch nicht vor Gott, denn ER ist mein Vater.

Referenzen

  1. Augustinus, De symbolo, c.1; Bekenntnisse,Buch X
  2. Averintsev Serguei, Humorlosigkeit des Zeitgeistes, in Konturen. Das Magazin zur Zeit, Wien, 1997
  3. Boss Médard, Einführung in die psychosomatische Medizin, Bern, 1954
  4. Condrau Gion, Aufbruch in die Freiheit, Wien, 1979
  5. Chesterton G.K., Was Unrecht ist an der Welt, München, 1924. Ketzer, Frankfurt a. M., 1998
  6. Escrivà Josemaria, Christus begegnen, Köln, 1978. Im Feuer der Schmiede, Köln, 1987
  7. Fellinger Karl, Vortrag, Bericht im "Kurier", Wien, 1.3.1979
  8. Frankl Viktor E., Homo patiens, Wien, 1950
  9. Gruber Karin, Angst als Krankheit, in: "ÖAZ" 1996,19, Wien
  10. Jaspers Karl, Die geistige Situation der Zeit, Berlin, 1931
  11. Johannes Paul II., Evangelium vitae, 1995
  12. Juliana von Norwich, siehe: Karrer Otto, Die große Glut. Die Mystik im Mittelalter, München, 1926
  13. Katschnig Heinz, Was ist aus der guten alten Angstneurose, in: Der Mediziner, 1996,5, Wien
  14. Mounier Emmanuel, Oeuvres III, Paris, 1962
  15. Nestroy Johann, Der Unbedeutende I/15, in: Stich und Schlußworte, Wien, 1977
  16. Pascal Blaise, Pensées, 434
  17. Riemann Fritz, Grundformen der Angst, München, 1984
  18. Spaemann Robert, Gespräch mit E. Kummer, in: Die Presse, 5.2.1999, Die europäische Kultur und der banale Nihilismus, Vortrag in Rom, 1991
  19. Scheler Max, Ordo amoris, in: Schriften aus dem Nachlass, Bern, 1957
  20. Torello Johannes B., Psychologie des Alltags, Wien, 1991. Über die Tröstung der Kranken in der heutigen Medizin, in: Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Wien, 1992
  21. Vetter Helmut, Der Schmerz und die Würde der Person, Frankfurt a. M. , 1981
  22. Willi Jürg, Die neue Angst vor der Ehe, in: Die Zweierbeziehung, Hamburg, 1975

Anschrift des Autors:

DDr. Johannes B. Torello, Petersplatz 6, 1010 Wien

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