Arzneimittelentwicklung zwischen Menschen- und Tierschutz
Zusammenfassung
Die Arzneistoffentwicklung ist mit der Herausforderung konfrontiert, sowohl dem Wohl des Patienten als auch dem Tierschutz gerecht zu werden. In diesem Artikel werden bereits etablierte Maßnahmen für den Tierschutz in der nicht-klinischen Forschung und Entwicklung von Arzneistoffen unter Einbeziehung der ethischen Perspektiven vorgestellt. Dabei werden Methoden zum Ersatz und zur Reduktion, zur Vermeidung von Schmerz und Leid und zur Verfeinerung von Tierversuchen beschrieben. Ambitionierte nationale Gesetzesinitiativen zum Tierschutz könnten allerdings Tierethik zu einer formalen prozeduralen Methode reduzieren, verbunden mit großem Zeit- und Ressourcenaufwand. Diese Entwicklungen gefährden den Fortbestand der durch hohe ethische und qualitative Standards charakterisierten Forschung und Arzneistoffentwicklung in Europa.
Schlüsselwörter: Tierschutz, Schutz des Menschen, nicht-klinische Forschung, europäische Gesetzgebung
Abstract
Today’s drug developments face the challenge of protecting man while also promoting animal welfare. This article describes animal welfare practices in non-clinical drug development including initiatives to replace and reduce animal studies, the reduction of suffering, and the development of human-animal relationships through the refinement of methods. New legislative initiatives based on Directive 2010/63/EU may reduce animal ethics to a ‘check-the-box‘ procedures. This approach would endanger future research and the development of drugs in Europe, which is currently distinguished by high-quality and high ethical standards.
Keywords: animal welfare, human protection, non-clinical research, European legislation
„Arzneimittel gegen Ebola rettet infizierte Affen”1 – so lautet der Titel eines Artikels in der Fachzeitschrift Nature vom August 2014. Die Nachricht über Versuche an Affen hätte wohl kaum positive Reaktionen hervorgerufen, würde nicht Ebola als globale gesundheitliche Bedrohung des Menschen angesehen. Tatsächlich, es scheint, dass die Angst vor dieser tödlichen Krankheit zu einem verstärkten öffentlichen Interesse am Prozess der Arzneistoffentwicklung geführt hat.
Bis vor wenigen Jahrzehnten galt als wichtigstes Prinzip der Arzneimittelforschung und -entwicklung der Hippokratische Eid: Primum non nocere. Ethische Richtlinien für die klinische Forschung wie der Nürnberg Codex, die Helsinki Deklaration oder der Belmont Report betonen die Beachtung der Menschenwürde und den Schutz der menschlichen Gesundheit als oberstes Gebot. Hinzu kommt, dass staatliche Behörden und internationale Richtlinien wie die ICH Guidelines (International Conference on Harmonisation) und ISO (International Organization for Standardization) Standards 10993 eine genaue Testung eines potentiellen Arzneistoffes oder Medizinproduktes hinsichtlich ihrer Toxizität und Wirksamkeit fordern, noch bevor dieses Produkt am Menschen getestet und als Arzneimittel/Medizinprodukt am Markt zugelassen wird.2
Der oben zitierte Titel verschleiert allerdings eine wichtige Tatsache, nämlich, dass eine erfolgreiche Entwicklung eines Arzneistoffes gegen Ebola und andere Krankheiten immer auf Kosten von Tieren erfolgt. Die Affen wurden mit Absicht infiziert und dann mit einem potentiellen Arzneistoff/Impfstoff behandelt, nicht um Affenleben, sondern um Menschenleben zu retten.
Eine Abschätzung des Risikos und der Wirksamkeit von Arzneistoffkandidaten gründet zunächst auf nicht-klinischen Sicherheits- und Wirksamkeitsstudien, die in Tieren durchgeführt werden. ICH M3 (R2) fasst die allgemeinen Prinzipien der Evaluierung der Arzneistoffsicherheit folgendermaßen zusammen: “The goals of the nonclinical safety evaluation generally include a characterization of toxic effects with respect to target organs, dose dependence, relationship to exposure, and, when appropriate, potential reversibility. This information is used to estimate an initial safe starting dose and dose range for the human trials and to identify parameters for clinical monitoring for potential adverse effects”.3
Die derzeitige Arzneistoffentwicklung ist um vieles komplexer als dies für die vergleichsweise einfachen, bereits am Markt befindlichen Präparate der Fall war. Um ein neues Produkt zu entwickeln, sind durchschnittlich 12 Jahre und mehr nötig. Nur einer von 10.000 Arzneimittelkandidaten erreicht tatsächlich die Marktzulassung.4 Jüngste Fortschritte in der Wissenschaft, aber auch die staatlichen Behörden fordern immer mehr Daten und damit auch Tierstudien. Labortiere werden aber nicht nur für die Sicherheits- und Wirksamkeitstestung eines neuen Arzneistoffkandidaten benötigt, sondern auch für die Qualitätskontrolle und Freigabe des Produktes im Rahmen des Produktionsprozesses. Für regulatorisch vorgeschriebene Sicherheitsstudien von Arzneistoffen für Mensch und Tier werden ca. 4,4% der Labortiere verwendet. Für Testungen in der Qualitätskontrolle beträgt der Anteil an verwendeten Tieren 10,9% für humane Produkte und 4% für Veterinärarzneimittel.5 Ein Großteil der Tiere wird in der Grundlagenforschung zur Untersuchung biologischer Prozesse und zur Entwicklung von Modellen für Erkrankungen verwendet.
Der oben zitierte Titel führt aber auch die zunehmende Beachtung des Wohlergehens der Tiere und damit der Tierethik vor Augen. Seit W. M. S. Russell and R. L. Burch ihre Prinzipien der Vermeidung, Verbesserung und Verminderung von Tierversuchen (im englischen Sprachraum und in Fachkreisen als 3Rs “Replacement, Reduction and Refinement“ bezeichnet) 19596 veröffentlicht haben, wurden unzählige Richtlinien zur Förderung des Wohlergehens der Tiere im Rahmen von Tierversuchen erlassen. Bei den 3Rs handelt es sich um Prinzipien, die die Vermeidung von Tierversuchen durch alternative in vitro Methoden anstreben, die die Tierzahl durch Kombination verschiedener Studien und anderer Methoden reduzieren und schließlich durch Verfeinerung der Haltungsweise der Tiere das Wohlergehen der Tiere verbessern und damit möglichst viel Leid vermeiden.
Während der letzten 30 Jahre haben internationale pharmazeutische Konzerne und sogenannte Contract Research Organisations (CROs), externe Partnerfirmen, immer mehr ihre Verantwortung für das Wohlergehen der Tiere vor und während eines Experiments wahrgenommen. So wurden interne Tierschutzgremien zur ethischen Bewertung von Tierversuchen gegründet und eigene Tierschutzbeauftragte angestellt.7 Weiters lassen sich viele Firmen freiwillig bei AAALAC (Association for Assessment and Accreditation of Laboratory Animal Care), einer privaten NGO, die den Tierschutz fördert, akkreditieren.8 Die neue EU-Richtlinie 2010/63/EU, die 2013 in den nationalen Gesetzgebungen der Mitgliedsstaaten umgesetzt wurde und die alte EU-Richtlinie 86/609/EEC ersetzt, hat zum Ziel, die bisherigen Unterschiede zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere zu beseitigen.9 So regelt in Österreich seit Anfang 2013 das Tierversuchsgesetz 2012 (TVG 2012) Experimente an lebenden Tieren.10 Sowohl die EU-Richtlinie als auch das TVG 2012 verlangen eine Schaden-Nutzen-Analyse des Projekts, in deren Rahmen bewertet wird, ob die Schäden für die Tiere unter Berücksichtigung ethischer Erwägungen durch das erwartete Ergebnis gerechtfertigt sind. Derzeit wird ein Kriterienkatalog entwickelt, um diese Schaden-Nutzen-Analyse zu objektivieren. Dieser muss ab 2016 ausgefüllt dem Projektantrag für Tierversuche beigelegt werden.
1. Die Notwendigkeit einer doppelten Arbeitsleistung
Arzneistoffentwicklung und pharmazeutische Industrie werden mit folgenden ethischen Anforderungen konfrontiert: Sie sollen sowohl Patientenleben schützen als auch das Wohlergehen der Tiere fördern, die in Versuchen zum Schutz der Patienten verwendet werden. Diesem ethischen Konflikt kann nur in sinnvoller Weise begegnet werden, wenn alle beteiligten Interessensgruppen sich in zweifacher Weise dem Dilemma annähern: 1) durch eine vertiefte und detaillierte Wissensaneignung über den Prozess der Arzneistoffentwicklung und 2) durch eine ethische Reflexion über die Würde des Menschen und den intrinsischen/inhärenten Wert des Tieres. Diese doppelte Arbeit sollte auf allen Ebenen der Gesellschaft erfolgen:
- Auf philosophisch/ethischer Ebene: Welche Methoden gibt es derzeit für die Testung von Arzneimitteln bezüglich ihrer Wirksamkeit und Toxizität? Welche Tests sind für den Menschen relevant? Sind alternative Methoden zu Tierversuchen vorhanden und auch validiert? Ist es moralisch gerechtfertigt, das Leid von Tieren, das durch nicht-klinische Studien verursacht wird, gegen den menschlichen Nutzen, der aus den Tierversuchen resultiert, abzuwägen? Wenn ja, wie soll diese Schaden-Nutzen-Analyse durchgeführt werden? Haben Mensch und Tier dieselbe oder eine andere moralische Bedeutung, wenn die menschliche Gesundheit auf dem Spiel steht? Ist es ethisch gerechtfertigt, Tierexperimente zu verbieten, auch wenn dies mit einem erhöhten Risiko einhergeht, Menschenleben zu gefährden?
- Auf rechtlicher Ebene: Die neue EU-Richtlinie, die in vielen Teilen einer konsequentialistischen Sichtweise folgt, fordert eine Schaden-Nutzen-Analyse für jede Tierstudie. Allerdings wird die Methode der Analyse völlig den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten überlassen. Die Kriterien zur Bestimmung des Nutzens einer Studie sind nicht definiert und zum Großteil subjektiv. Es bleibt offen, welche Kriterien zur Bestimmung des Nutzens herangezogen werden sollen. Ist es sozialer, wissenschaftlicher, ökonomischer oder ein zur Bildung beitragender Nutzen? Auch die EU-Kommission hat darauf hingewiesen, dass keine einzige Analysenmethode allen Projekten gerecht werden kann.11
- Auf der praktischen Ebene: Welche Initiativen unterstützen Wissenschafter und pharmazeutische Industrie zum Wohlergehen der Tiere? Inwieweit werden die Regeln der 3Rs angewendet? Wird die detaillierte Evaluierung der Kriterien durch eine gut durchdachte Strategie für Projekte der Arzneistoffentwicklung ergänzt? Oder wird Tierethik auf eine rein mechanische “Check-the-Box“ Methode reduziert, ohne die Verantwortung des einzelnen Forschers wahrzunehmen?
2. Antworten der pharmazeutischen Industrie auf den ethischen Konflikt
Das grundlegende ethische Dilemma der Arzneistoffentwicklung kann man bildlich mit der Situation eines Rettungsbootes und seiner Mannschaft vergleichen: Wer soll gerettet werden? Mensch oder Tier?
Während der letzten 10 Jahre haben die meisten internationalen pharmazeutischen Firmen das Wohlergehen der Tiere in ihren bioethischen Leitlinien und Berichten zur Nachhaltigkeit berücksichtigt. Unabhängige Tierschutzbeauftragte, meist Tierärzte, sichern dabei das Wohlergehen der Tiere sowohl während der Haltung als auch während des Versuchs. Interne Tierschutzgremien, auch Institutional Animal Care and Use Committee (IACUC) genannt, überprüfen alle Pläne zu Tierstudien. Mitglieder der Tierschutzgremien sind meist Tierärzte, Tierpfleger, Wissenschafter verschiedener Forschungsgebiete, unabhängige Laien, und (Bio)Ethiker. Sowohl die Anlagen für die Tierhaltung als auch die Programme/Studien werden regelmäßig von den Behörden auditiert. Studien, die bei CROs durchgeführt werden, wie dies zunehmend der Fall ist, müssen ebenfalls ethisch evaluiert werden sowohl von den internen Tierschutzgremien des Auftraggebers als auch von jenen der CROs und der Behörden des jeweiligen Landes, wo die Versuche durchgeführt werden.
Die meisten dieser oben beschriebenen Prozesse sind in das Qualitätssystem der Firmen als sogenannte SOPs (Standard Operation Procedures) integriert. Allerdings sollte der oben beschriebene Prozess immer von einer ethischen Reflexion begleitet werden. Dabei ist es wichtig, sich den philosophischen Vorentscheidungen der eigenen ethischen Perspektive bewusst zu werden, die die Evaluierung der auf dem Spiel stehenden Werte und damit ethische Entscheidungen beeinflussen. Dies und die ständige Auseinandersetzung mit dem Wohlergehen des Tieres und dem Patientenwohl sind notwendige Voraussetzungen für verantwortliche und personale ethische Entscheidungen. Diese sollen nicht nur auf Richtlinien gründen, sondern müssen auch von einer gelebten Beziehung zwischen Forscher/Tierpfleger und den Tieren getragen werden.
3. Perspektiven, Werte und praktische Umsetzung im Umgang mit Tieren
Im Folgenden wird anhand von praktischen Beispielen die Umsetzung ethischer Werte zum Wohlergehen der Tiere in der nicht-klinischen Forschung und Entwicklung beschrieben.12
3.1 Der Tierrechtsgedanke und der Wert des Lebens - Vermeidung und Verminderung
Warum bedeuten uns Tiere etwas? Ganz einfach, weil sie lebendige Wesen sind. Die Achtung vor dem Leben ist das Fundament jeder Ethik. Allerdings verbietet das Konzept des Tierrechtes, so wie T. Regan dies versteht, praktisch jede Verwendung von Tieren für die Forschung, weil diese so genannte “subjects-of-a-life”13 sind. Die Tötung eines Tieres hat zur Folge, dass es seiner Zukunft beraubt wird. Gemäß Regan’s deontologischer Sichtweise haben Tiere ebenso wie Menschen ein Recht auf Leben, das nicht gegen menschliche Interessen abgewogen werden darf.14 Dieses Denken hat auch in die EU-Richtlinie Eingang gefunden. Diese versteht sich als ein wichtiger Schritt „zur Erreichung des letztendlichen Ziels“, „Verfahren mit lebenden Tieren für wissenschaftliche Zwecke und Bildungszwecke vollständig zu ersetzen…“.15
Der Wissenschafter ist verpflichtet, zunächst nach alternativen Methoden zu suchen, die den Tierversuch ersetzen können. Dazu muss er den internen Tierschutzgremien und der Behörde den Nachweis eingehender Literaturrecherche erbringen. Dabei muss bedacht werden, dass für durchzuführende Toxizitätsprüfungen und Studien der Sicherheitspharmakologie die alternative Methode immer validiert sein muss, um von den Behörden anerkannt zu werden. Daher koordiniert unter anderen ECVAM (das Europäische Zentrum zur Validierung alternativer Methoden) die Validierung alternativer Ansätze in der Union. EURL ECVAM fasst alle bereits validierten alternativen Methoden in einer öffentlichen Datenbank zusammen.16
In vitro Zellkulturen, in silico Modelle, und viele andere Techniken werden bereits verwendet, um Tierstudien zu ersetzen. In vitro Methoden können beispielsweise großteils die Resorption, die Verteilung, den Metabolismus und die Ausscheidung im Menschen nach oraler Gabe eines Arzneistoffes voraussagen. Aktuelle FDA und EMA Guidelines empfehlen die in vitro Testung in humanen Lebermikrosomen, Hepatozyten, CaCo2 Zellen sowie in anderen Zellsystemen, um mögliche Interaktionen von Arzneistoffen vor Phase III klinischen Prüfungen zu prognostizieren.17 Die Voraussetzung für eine quantitative in vitro-in vivo Extrapolation ist dabei, dass der in vitro Metabolismus mit dem in vivo System vergleichbar ist. Genau hier stößt man aber derzeit auch an die Grenze der Anwendung dieser alternativen Systeme, da diese noch keinen intakten Organismus mit Blutkreislauf repräsentieren, sondern nur die akute Einwirkung des Arzneistoffkandidaten widerspiegeln. Daher muss ein potentieller Arzneistoffkandidat weiterhin auf seine Pharmakokinetik auch in Tieren getestet werden, noch bevor er in die klinische Entwicklung geht.
Wie die American Medical Association betont, verdanken wir den Experimenten mit Tieren praktisch jeden Fortschritt der medizinischen Wissenschaft im 20. Jahrhundert, angefangen von der Einführung der Antibiotika bis zu Organtransplantationen. Wir leben länger und gesünder mit vergleichbar weniger Schmerzen und Behinderungen als in den Jahrhunderten zuvor. Oft ermöglicht dieser Fortschritt auf Kosten von Tieren auch menschliches Überleben.18 Trotzdem geben auch die stärksten Befürworter von Tierversuchen zu, dass vor allem Krankheitsmodelle in Mäusen oft nur begrenzte Relevanz für den Menschen haben. Beispielsweise werden Xenograftmodelle in der Maus verwendet, um die Wirksamkeit eines potentiellen Arzneistoffes gegen Krebs zu testen. In dieser Indikation ist allerdings die Erfolgsrate mit nur 29% in der klinischen Phase II und 34% in der klinischen Phase III sehr gering.19 Und doch basiert die Wissenschaft und auch der Fortschritt auf in vivo und in vitro Modellen, die so gut als möglich den menschlichen Organismus imitieren.
Um die Unterschiede zwischen in vitro Systemen und dem menschlichen Organismus zu überbrücken, unterstützten die Forschungsrahmenprogramme FP6 and FP7 der EU-Projekte mit humanen embryonalen Stammzellen.20 Aus dieser Initiative ergibt sich allerdings ein neuer ethischer Konflikt: Darf das Streben, Tierversuche zu ersetzen, auch auf Kosten menschlicher Embryonen erfolgen?21 Aktuelle Entwicklungen weisen darauf hin, dass die meisten Tests auch mit induzierten pluripotenten Stammzellen durchgeführt werden können. Trotzdem werden noch immer Screening Tests, wie z. B. zur Kardiotoxizitätsprüfung, mit humanen embryonalen Stammzellen angeboten.22
Erfolgversprechender sind derzeit Forschungsansätze, die die Komplexität des menschlichen Organismus durch sogenannte Tissues-on-a-chip/ Organ-on-a-chip (Gewebe/Organ-auf-dem-Chip) reproduzieren sollen mit dem Ziel, schließlich einen ganzen menschlichen Organismus auf einem Chip (Human-on-a-chip) zu simulieren. Gewebe- und Blutzellen wurden mit modernen Mikro-fabrikationstechniken aus der Computerindustrie sowie Tissue-Engineering Techniken bearbeitet. Sowohl das zelluläre Milieu als auch die funktionellen Einheiten von Lunge, Herz, Blutgefäßen, Muskeln, Knochen, Leber, Nervensystem, Magen, Darm und Niere können nun künstlich hergestellt werden.23 2012 gelang es schließlich, einen Chip mit zwei Organen, nämlich Leber und Haut, herzustellen.24 Allerdings sind diese Organsysteme weder validiert noch werden diese von den Behörden für die Arzneistofftestung akzeptiert. Auch die Forscher, die die Entwicklung dieser “Human-on-a-chip“ Systeme vorantreiben, geben zu bedenken, „dass es utopisch ist, zu erwarten, dass ein ‚Homunculus’ (kleiner Mensch) auf einem Chip zum Beispiel jemals Bewusstseinsstörungen oder einen Herzinfarkt entwickeln wird, der einem Menschen ähnelt. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass der Begriff ‚Mensch/Human’ in ‚Human-on-a-chip’ nur die Bedeutung einer künstlichen Kopie bzw. eines Bildes hat. Die Einzigartigkeit des menschlichen Wesens bleibt unantastbar”(“it remains wishful thinking to expect such a ‚homunculus’ (small man) on-a-chip to develop, for example, impaired consciousness or human-like myocardial infarction. One must always keep in mind that the term ’human’ in ’human-on-a-chip’ has the meaning of an artificial copy, effigy, or image. The uniqueness of a human being is inviolable”).25
Da die Verfügbarkeit eines Human-on-a-chip noch weit von einer Verwirklichung entfernt ist, ist es derzeit ein wichtiges Ziel des Tierschutzes, sowohl Tierexperimente als auch die Anzahl der verwendeten Tiere in einem Versuch soweit als möglich zu reduzieren. Beispielsweise soll eine Wiederholung desselben Tierversuchs unbedingt vermieden werden.26 Die Planung einer nicht-klinischen Studie erfordert, dass mit Hilfe einer statistischen Analyse die Anzahl der Tiere pro Behandlungsgruppe so berechnet wird, dass die Studie vernünftige und interpretierbare Ergebnisse liefert. Allerdings genügt es für den Forscher nicht, sich allein auf die Statistik zu berufen; denn jedes Tier – gleich dem Menschen – ist ein empfindsames Wesen, das Schmerz und Leid fühlt.
3.2 Die pathozentristische Sichtweise: Der Wert der Empfindsamkeit
Da die nicht-klinische Forschung weiterhin Labortiere erfordert, ist es eine der wichtigsten Aufgaben in der Sorge um das Wohlergehen der Tiere, Schmerz und Leid soweit als möglich zu verhindern. Die Vermeidung von Stress, Leid und Schmerz sollte im Zentrum jedes Trainings zum Zwecke des Wohlergehens der Tiere und jeder ethischen Überprüfung stehen. Zumindest hier sind sich Tierrechtsaktivisten und Forscher einig: Das Tier ist ein empfindsames Wesen, das Schmerz fühlt. Daher beschreiben auch alle Guidelines zum Wohlergehen der Tiere genau, welche Schmerzmittel und Anästhetika für welche Spezies verwendet werden müssen. Unter Artikel 13.3 in der Richtlinie 2010/63/EU wird gefordert, den „Tod ... als Endpunkt eines Verfahrens möglichst zu vermeiden und durch frühe und möglichst schmerzlose Endpunkte zu ersetzen”.27
Obwohl Peter Singer den Tieren denselben moralischen Wert wie dem Menschen aufgrund des Schmerzempfindens zugesteht, macht er doch einen Unterschied in der moralischen Bewertung, je nachdem, ob es sich um höher entwickelte Tiere (wie Affe und Hund) oder um eine weniger entwickelte Tierspezies handelt (wie Ratten, Mäuse und Fische): Es gilt: Je ähnlicher das Tier in seiner evolutionären Entwicklung dem Menschen ist, umso höher sein moralischer Status.28 Diese Unterscheidung findet sich auch in Gesetzen zum Schutz von Tieren in der Forschung wieder. So verbietet die EU-Richtlinie die Verwendung von Schimpansen in der Forschung und fordert eine strenge ethische Überprüfung sowie eine genaue Schaden-Nutzen-Analyse bei Verwendung von anderen nicht menschlichen Primaten in der Forschung. Hingegen ist es viel leichter, den Einsatz von Ratten, Mäusen und Fischen ethisch zu rechtfertigen.29 Mehr und mehr werden auch Haustiere wie der Hund durch Minischweine in der Arzneimittelforschung ersetzt.
Zunehmend werden auch Testsysteme zur Vermeidung invasiver chirurgischer Eingriffe etabliert. So erfordert die Entwicklung von Biopharmazeutikern oftmals die Verwendung von nichtmenschlichen Primaten (Makaken), um mögliche Wirkungen auf das Herz zu testen, da Affendaten von höchster Relevanz für den Menschen sind. Früher war für eine genaue EKG-Messung ein chi-rurgischer Eingriff notwendig. Dagegen ermöglichen neuere Methoden, die das so genannte JETTM System (Jacketed External Telemetry/ Ummantelte externe Telemetrie) verwenden, eine Bestimmung der EKG-Parameter ohne invasiven Eingriff. Vor jedem Experiment werden die Tiere an das Tragen der JET-Geräte, die in kleine Rucksäcke gepackt sind, gewöhnt. Diese Methode gewährleistet nicht nur eine völlig schmerzfreie Testung eines potentiellen Arzneistoffs, sondern führt auch zu einer signifikant besseren Qualität der Resultate.30
Es stellt sich allerdings die Frage, ob tatsächlich eine Ratte weniger leidensfähig ist als ein Hund. Neue Forschungsergebnisse zeigen sogar bei manchen Weichtieren, dass diese Schmerz empfinden können.31 Daher sollte das Leiden jeder Tierspezies mittels früher und möglichst schmerzfreier Endpunkte/Abbruchkriterien (humane endpoints) vermieden werden. So wird im OECD Guidance Document on Humane endpoints dieser Endpunkt so definiert: “A humane endpoint can be defined as the earliest indicator in an animal experiment of severe pain, severe distress, suffering, or impending death”.32
Studienprotokolle für nicht klinische toxikologische und pharmakologische Untersuchungen in Tieren müssen daher immer Angaben zu den Abbruchkriterien enthalten. Zu den üblichen schmerzfreien Endpunkten zählen die Abnahme des Körpergewichts zu einem bestimmten Prozentsatz und ein definiertes maximales Tumorvolumen bei Xenograftmodellen in der Maus. Solche Maßnahmen erfordern ein intensives Training aller an einer solchen Studie beteiligten Personen wie beispielsweise der Studienleiter, die für den Studienaufbau, die Durchführung und die Interpretation der Ergebnisse verantwortlich sind; der unabhängigen Tierärzte, die bei Auftreten von klinischen Symptomen beraten; und schließlich der Tierpfleger, die für die Tiere vor, während und nach dem Experiment sorgen und damit ein Naheverhältnis zu den Tieren entwickeln.33
3.3 Das Konzept des Gedeihens: Der Wert der Verbesserung der Mensch-Tier-Beziehung
Die Regeln zur Verbesserung und Verfeinerung von Tierversuchen in den Guidelines for Accommodation and Care of Animals (ETS 123, 2007) beziehen sich auf allgemeine Prinzipien zur verbesserten Unterbringung der Tiere wie eine definierte Käfiggröße, Bewegungsfreiheit, soziale Kontakte, Spielzeug, sinnvolle Aktivität, Nahrung und Wasser, die nur für eine gewisse Zeit und in einem bestimmten Ausmaß entzogen werden dürfen.34 Um die Haltung der Tiere zu bereichern, sind entsprechende Einstreu oder Schlafplätze mit Nestmaterial unabdingbar. In Europa ist die Gruppenhaltung von Tieren Pflicht. Ausnahmen müssen immer begründet werden. Beispiele für Einzelhaltung sind aggressives Verhalten der Tiere (z. B. männliche Kaninchen) oder spezielle Methoden (Metabolismuskäfige). So bieten CROs in Europa Gruppenhaltung für nichtmenschliche Primaten an mit einem Haltungsbereich über bis zu drei Stockwerken hoch. Wenn sich die Affen in verschiedenen Käfigen befinden, muss jederzeit ein visueller, akustischer oder auch Geruchskontakt zwischen den Tieren möglich sein. Erhöhte Sitzplätze oder Leitern ermöglichen den nichtmenschlichen Primaten ein breites Verhaltensspektrum, damit sie klettern und springen können. Um natürliche Fluchtreaktionen der Primaten zu gewährleisten und den Stress der in der Rangordnung geringeren Tiere zu reduzieren, sollten im oberen Bereich des Käfigs mehr als eine Sitzstange vorhanden sein. Ein Balkon bietet üblicherweise dem Tier auch einen Überblick über die benachbarten Käfige.35 Bei manchen CROs findet man auch eigene Schwimmbäder für die nichtmenschlichen Primaten.
Die meisten der oben angeführten Anforderungen müssen bereits feststehen, noch bevor eine Studie beginnt. Auch stützen sich die besprochenen Verbesserungen auf eher theoretische Prinzipien. Die tägliche Sorge um die Tiere bedeutet aber mehr als eine deduktive Übung. Sie involviert viel mehr eine wachsende Beziehung zwischen Tierpfleger bzw. Veterinärmediziner und Tier.
R. L. Walker stellt in diesem Zusammenhang das Konzept eines guten Gedeihens von Tieren vor, das von einem umfassenderen Verständnis des Wohlergehens von Tieren ausgeht und vor allem die Mensch-Tier-Beziehung berücksichtigt.36 Denn bei diesem Ansatz wird nicht nur an die Vermeidung sogenannter negativer Zustände wie Schmerz und Leid gedacht. Walker beschreibt den Zustand des Gedeihens folgendermaßen: “An animal flourishes when it lives a life that is good for it, both as a particular kind and as a specific individual, where notions of ’good for’ are taken in part from a view of what is natural for it, and are assessed over its lifetime”.37 Dieses qualitativ gute Tierleben ist nur durch eine intensive Betreuung durch Tierpfleger, Tierärzte und Forscher unter Berücksichtigung von Tugenden wie Klugheit, Geduld, Respekt, Sorge, Freundschaft, Mitleid, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit möglich, wobei diese an die jeweils spezifische Situation angepasst werden sollen.38
Als ein Beispiel der Ausübung von Geduld und Respekt gegenüber dem Wert des Tieres an sich sei hier die Beurteilung der sozialen Rangordnung bei nichtmenschlichen Primaten angeführt, das ein spezielles Training der Tierpfleger voraussetzt. Sobald die Tiere von den Züchtern angeliefert werden, wird ihnen erst einmal genügend Zeit gegeben, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Dabei ist für die Unterbringung und Haltung von nichtmenschlichen Primaten die Beurteilung der sozialen Rangordnung sehr bedeutend: Der Tierpfleger und Veterinärmediziner muss genau beobachten, welche Tiere aggressives oder auch unterwürfiges Verhalten zeigen. Dabei wird die hierarchische Struktur der Gruppe mit Hilfe der Häufigkeit von unterwürfigem Verhalten gegenüber anderen Tieren festgestellt. Primaten, denen jegliches unterwürfige Verhalten fehlt, werden als Alpha-Tiere betrachtet.39 Nach einer gewissen Zeit täglicher Beobachtung entwickelt sich eine Beziehung zwischen dem Tierpfleger und den einzelnen Tieren, und der Tierpfleger weiß, welche „seiner“ Tiere führend oder weniger dominant in der sozialen Rangordnung sind und welche speziellen Bedürfnisse die Tiere haben. Falls Tiere nicht miteinander auskommen, werden sie in verschiedenen Käfigen untergebracht.
Um die Haltung und Betreuung der Tiere zu verbessern, werden die Tiere mittels Verstärkung positiver Erlebnisse und Belohnung an die jeweilige Situation gewöhnt. Dies erhöht auch die Sicherheit der Tierpfleger und Forscher und vermindert die Furcht der Tiere vor unangenehmen Situationen. Nach und nach akzeptieren die Tiere den Tierpfleger. Zunächst fressen sie ihm eine Leckerei aus der Hand, dann erlauben sie dem Tierpfleger auch, dass er sie berührt, und schließlich darf er die Tiere bei der Durchführung eines Tests halten.40 Diese intensive Zeit der Betreuung, die schließlich eine Atmosphäre des Vertrauens schafft, ist eine notwendige Voraussetzung, dass sich ein Affe freiwillig von seinem Betreuer zu einem Sitz bzw. zu einer Leiter führen lässt, sich dort niederlässt und den Arm zur Arzneistoffinjektion bzw. zur Blutentnahme von sich streckt. Dabei ist jede Blutentnahme durch ein Höchstvolumen pro definierter Zeitspanne und einer Obergrenze der Anzahl von Nadelstichen pro definiertem Zeitrahmen je nach Tierspezies limitiert, um Stress und Unbehagen zu vermeiden. Diese Art von Methode verlangt Training, Geduld und Bescheidenheit von Seiten des Tierpflegers/Forschers, wobei sehr oft der Tastsinn bei der Verbundenheit von Mensch und Tier eine große Rolle spielt.
Die tägliche Übung von Tugenden erlaubt auch einen mehr dynamischen und positiv ausgerichteten Tierschutz. Die derzeitigen Tierschutz Guide-lines wie die neue EU-Richtlinie vermitteln ein statisches Programm des Tierschutzes, das nur negative Situationen für das Tier vermeiden soll wie zum Beispiel Schmerz und Leid. Dies ist sicherlich die Grundlage des Tierschutzes. Allerdings berücksichtigt ein flexibleres Konzept des Tierschutzes, dass jedes Tier mit der gegebenen Umwelt in Beziehung tritt und sich den gegebenen Bedingungen auch anpassen kann.41 Eine gute Haltung bedeutet nicht nur eine angenehm temperierte Umgebung und dass sich die Tiere frei bewegen können,42 sondern auch, dass die Tiere unbehindert auf eine Veränderung reagieren können, zum Beispiel Schutz finden, wenn nötig.43
3R Initiativen und tägliche Sorge um das Wohlergehen der Tiere sind in der Arzneistoffentwicklung unerlässlich. Sie werden aber ethisch sinnlos, wenn es nicht ein Gleichgewicht zwischen der ethischen Begründung des Entwicklungsprojektes als Ganzes und der detaillierten Prüfung der Durchführung einer Studie gibt.44
4. Die ethische Herausforderung: Arzneistoffentwicklung als Habe oder als Gabe?
Der grundlegende ethische Konflikt in der Arzneistoffentwicklung ist die Frage: Wen retten? Mensch und/oder Tier? Der Mensch verdankt sein Leben und seine Gesundheit dem Tod von Tieren. Die Beobachtung, dass Leben dem Leben verschuldet ist, machte bereits Anaximander: „Die Dinge schulden einander ihr Dasein”.45 Sowohl das Leben eines Menschen als auch eines Tieres ist als Geschenk zu sehen. Und diese Tatsache verlangt nach einer entsprechenden Reaktion.46 Daher lautet die grundlegende Frage an die pharmazeutische Industrie: Worin besteht Deine Pflicht: In einer Arzneistoffentwicklung als Gabe, indem Du gibst, was Du Mensch und Tier schuldest? Oder siehst Du Deine Verantwortung vor allem in einer Arzneistoffentwicklung als Habe um Gewinnmaximierung zu erzielen? In ähnlicher Weise stellt sich die Frage auch an Tierrechtsaktivisten: Denkt Ihr auch an die Gabe der Würde und Unverletzlichkeit menschlichen Lebens zusätzlich zum inhärenten Wert des Tieres und gebt damit, was Ihr Mensch und Tier schuldet? Oder denkt Ihr nur an das Wohlergehen der Tiere auf Kosten der menschlichen Gesundheit in ideologischen Gedankengängen, die sich selbst genug sind?
Dieser Ausgleich zwischen Gabe und Habe, dem Geben und Nehmen, ist von großer Bedeutung für alle Phasen der Arzneistoffentwicklung. Dabei sind vor allem folgende Fragen zu stellen:
4.1 Worauf zielt die Arzneimittelentwicklung?
Eine der wichtigsten strategischen Entscheid-ungen liegt in der Auswahl der Indikationen, für die ein Arzneimittel entwickelt werden soll. Viele pharmazeutische Firmen konzentrieren sich derzeit auf die Entwicklung so genannter “Blockbuster drugs”, das sind Produkte, die einen Gewinn von mehr als einer Milliarde Euro pro Jahr erzielen. Dies meist deshalb, weil sie zur Heilung von häufigen Erkrankungen in reichen Industrieländern beitragen.47 Nur noch mit solchen Arzneimitteln kann die Industrie bis zum Ende des Patentschutzes ihre Renditen erreichen. Hingegen ist Forschung für die Behandlung von Krankheiten in Entwicklungsländern weniger attraktiv. Allerdings hat in den letzten Jahren die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Krankheiten (Orphan Drugs) durch die zunehmende Unterstützung durch EMA und FDA Aufschwung erfahren.48
Entscheidend für die ethische Evaluierung ist auch, ob es sich bei dem Programm um ein Projekt zur Entwicklung von „Life-Style“ Arzneimitteln oder von lebensrettenden Medikamenten oder von Generika oder von Medikamenten für eine bisher unheilbare Erkrankung handelt. Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass Tierethik und klinische Ethik eng mit der allgemeinen Strategie einer Firma verbunden sind: Geht es letztlich nur um Gewinnmaximierung auf Kosten von Mensch und Tier, oder geht es auch um Gesundheitsmaximierung?
Tierexperimente haben nur ihre Berechtigung, wenn es um den Schutz des menschlichen Lebens geht. Aber welcher Patientengruppe und welcher Indikation soll der Vorzug gegeben werden? Sollte man nicht auch den ökonomischen Gewinn als einen gerechtfertigten Nutzen ansehen, wenn dies der Firma dann ermöglicht, auch Orphan Drugs für seltene Krankheiten zu entwickeln? In der von der EU-Richtlinie geforderten Schaden-Nutzen-Analyse soll nun auch die Wahrscheinlichkeit eines Nutzens oder Erfolgs einer Studie oder eines Projektes bewertet werden. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob ein Forscher oder eine Firma ohne vom Erfolg eines Projektes überzeugt zu sein, überhaupt eine Studie oder ein Projekt initiieren würde. Wäre ein Erfolg immer garantiert, wäre auch keine Forschung nötig. Dieser enorme Mangel an Klarheit, wie denn nun der Nutzen eines Projektes zu bestimmen sei und die damit verbundene Subjektivität jeder ethischen Bewertung, stellt jeden auch noch so ambitionierten Versuch, den Nutzen durch eine einzige Methode für alle Projekte zu objektivieren, in Frage. Tierethiker und Rechtsexperten schlagen dabei algorithmische Darstellungen wie den Batson Cube oder andere formularische Berechnungen vor, wie dies im Working Document on Project Evaluation and Retrospective Assessment der EU Kommission beschrieben wird.49 Diese analytischen Ansätze sind ein Versuch, subjektive Kriterien durch ein quantifizierbares System zu objektivieren.
4.2 Wie soll eine ethische Bewertung durchgeführt werden?
Die hohen Umsätze vieler Pharmaunternehmen sind heute oft darauf zurückzuführen, dass sie sich Produkte durch Übernahmen einverleiben.50 Dabei sind die bestimmenden Faktoren solcher Übernahmen auch von ethischer Bedeutung: Ist die Qualität der Forschung und des Arzneistoffkandidaten ausschlaggebend oder sind es vielmehr die zu erwartenden Absatzzahlen auf dem Markt? Falls nur die Aktienwerte ausschlaggebend für die Übernahme eines Projektes sind, stellt dies oft eine große Herausforderung für jene dar, die in die Arzneistoffentwicklung involviert sind.
Arzneistoffentwicklung wird durch einen sehr engmaschigen Zeitplan und Zeitdruck bestimmt. Um die vorgegebenen knappen Fristen einhalten zu können und sowohl wissenschaftlich sinnvolle als auch ethisch gerechtfertigte Studien planen zu können, ist eine gründliche Evaluierung der Toxizität und Wirksamkeit erforderlich. Sind diese Daten nicht oder nur mangelhaft vorhanden, müssen mehr Zeit und vor allem kreative Forschung investiert werden. Eine Tierstudie, die zwar alle Anforderungen der 3Rs zum Wohlergehen der Tiere erfüllt, aber ohne vernünftige wissenschaftliche Begründung für das ganze Programm durchgeführt wird, kann nicht ethisch gerechtfertigt werden. Daher ist es auch von entscheidender ethischer Bedeutung, ob der Investition in Kreativität und Zeit für Gesundheit und qualitativ gutes Leben von Mensch und Tier der Vorzug gegeben wird oder nur dem Marktwert der Firma.
Kriterien zur ethischen Analyse sollen dem Forscher helfen, fundierte und eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Allerdings könnten jüngste Gesetzesinitiativen wie jene zur Schaden-Nutzen-Analyse dazu führen, solche Entscheidungen zu einem rein mechanischen Check-the-box Prozess zu reduzieren, der extrem Zeit- und Ressourcen aufwendig ist.51 Eine ethische Bewertung soll immer transparent sein. Zahlenmäßige Bewertungen ohne jeden interdisziplinären Dialog werden einer ganzheitlichen ethischen Perspektive nicht gerecht. Weiters kann eine statisch-ethische Evaluierung nicht den ständig zunehmenden Erkenntnissen in der Verhaltensforschung der Tiere Genüge leisten. Daher mögen interdisziplinäre Ethikkomitees besser den Anforderungen einer Evaluierung der Schaden-Nutzen-Analyse entsprechen. Dies wird in vielen EU-Mitgliedsstaaten so praktiziert.52 Was sich für die ethische Evaluierung von klinischen Studien seit langer Zeit bewährt hat, sollte auch zur Begutachtung von Tierstudien gut genug sein.
4.3 Wie und wo werden Arzneistoffprüfungen durchgeführt?
Interne Tierschutzgremien für Tierstudien, Tierschutzbeauftragte und behördliche Bewilligungen sind seit in Krafttreten der neuen EU-Richtlinie in allen EU-Mitgliedsstaaten verpflichtend. Allerdings führt die Eingliederung der rechtlichen Forderungen der EU-Direktive in die nationale Gesetzgebung zusammen mit der oben erwähnten Schaden-Nutzen-Analyse zu einem beträchtlichen Mehraufwand an Administration und Ressourcen. Dies betrifft nicht nur die Arzneistoffentwicklung, sondern vor allem auch die Grundlagenforschung, bei der die Wahrscheinlichkeit eines Nutzens noch viel schwieriger abzuschätzen ist. Dadurch wird sich der Trend, Forschung und Entwicklung in Ländern wie z. B. Asien mit geringeren ethischen Standards auszulagern fortsetzen. Da hohe Ethikstandards und qualitative Wissenschaft einander bedingen, wird die Verlagerung der Forschung auch zu einer geringeren Qualität der Medikamente auf lange Sicht führen. Als ein Beispiel für mögliche Konsequenzen sei hier der jüngste Fall eines Rückrufs von Generika angeführt, deren Bioequivalenzstudien, die in Indien durchgeführt wurden, zweifelhafte Ergebnisse zeigten.53
Ambitionierte nationale Gesetzgebungen, die hohe Anforderungen an das Wohlergehen der Tiere, verbunden mit großem administrativen Aufwand stellen, ohne die praktischen Folgen zu beachten, sind auf lange Sicht kurzsichtig. Tierschutzbefürworter sollten darauf bestehen, dass Tierexperimente nur in Ländern mit hohen ethischen Standards durchgeführt werden. Nur die Europäischen Standards zum Wohlergehen der Tiere und eine fortdauernde Forschung in Europa werden dies garantieren können.
5. Schlussfolgerung
Die derzeitige Konzentration auf das Wohlergehen der Tiere im Rahmen der Arzneistoffentwicklung garantiert in Europa gute Arzneimittelqualität und hohe ethische Standards. Die Forderung allerdings, Tierstudien entgegen aller derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnis immer mehr zu reduzieren, wird höchstwahrscheinlich die Patientensicherheit gefährden. Dieser Trend sollte auch im Zusammenhang mit jüngsten europäischen und österreichischen Gesetzesinitiativen gesehen werden, die den Beginn und das Ende des menschlichen Lebens betreffen. Der Tod als Endpunkt bei Tieren ist gesetzlich größtenteils verboten und das Experimentieren mit tierischen Embryonen wird immer mehr eingeschränkt. Euthanasie beim Menschen und der Verlust menschlicher Embryonen durch in vitro Methoden jedoch werden mehr und mehr legalisiert. Falls sich dieser Trend fortsetzt, werden wir uns in Zukunft möglicherweise wünschen, ein Hund und nicht ein Mensch zu sein.
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Letzter Zugriff auf sämtliche Internetseiten am 6. August 2015.
Mag. pharm. Dr. Margit Spatzenegger, Lic. bioethics
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