Klinische Ethikberatung: wo wir stehen
Zusammenfassung
Klinische Ethik handelt von praktischen Problemen und Konflikten, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen und anderen Gesundheitsversorgungseinrichtungen täglich auftreten. Sie ist auf dem Weg, zu einem eigenständigen Bereich der Bioethik zu werden. Um den Grundgedanken der klinischen Ethik und ihre Entwicklung besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich die unterschiedlichen Orte der Bioethik vor Augen zu führen und nach der Besonderheit des klinischen Zusammentreffens für die Ethik zu fragen. Daran anschließend werden die konzeptuellen und methodischen Grundlagen der klinischen Ethikberatung erörtert. Ausgehend von der Frage, was es denn überhaupt bedeutet, Ethik zu praktizieren, kommen dabei die verschiedenen Funktionen, Strukturen und Prozesse der Ethikberatung zur Sprache. Aus dieser Bestandsaufnahme lassen sich schließlich mehrere Schlussfolgerungen („Rules of Engagement“) für die klinische Ethikpraxis ziehen, die dazu beitragen sollen, diese Praxis weiter zu professionalisieren.
Schlüsselwörter: Klinische Ethik, Ethikberatung, Ethikkomitee, Methodologie
Abstract
Clinical ethics deals with concrete problems and conflicts in hospitals, nursing homes, and other healthcare facilities. It is on its way to become a distinct area in bioethics. To better understand the basic idea of clinical ethics as well as its recent development, it is helpful to look at the different places of bioethics and to inquire the significance of the clinical encounter for ethics. Within this clinical context, the conceptual and methodological foundations of ethics consultation will be discussed. Starting with the question, what practicing ethics means at all, different functions, structures, and processes of ethics consultation will be analyzed. Consequently, a series of “rules of engagement” for practicing clinical ethics will be formulated which are intended to further professionalize this practice.
Keywords: Clinical Ethics, Ethics Consultation, Ethics Committee, Methodology
Medizin und Biowissenschaften gelten als Lebensretter der Ethik.1 In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff „Bioethik“ modern und ist seither aus akademischen und öffentlichen Foren nicht mehr wegzudenken. Universitäre Lehrstühle, Aus- und Weiterbildungsprogramme sowie (politische) Beratungsgremien widmen sich heute weltweit bioethischen Fragen. In diesem Umfeld entwickelte sich die klinische Ethik, um deren grundlegende Konzepte, Methoden und Trends es im vorliegenden Beitrag gehen wird.
Dazu wird in einem ersten Schritt das Umfeld der klinischen Ethik erkundet. Es unterscheidet sich von anderen bioethischen Kontexten durch den Topos der „Klinik“, was weitreichende Folgen für das methodische, organisationale und professionale Verständnis der klinischen Ethik hat. Als wesentliches Merkmal dieses Topos wird das klinische Zusammentreffen bestimmt, welches primärer Bezugspunkt der klinischen Ethik ist.
An die Erkundung des klinischen Umfelds schließt in einem zweiten Schritt die Frage an, was unter „Ethikberatung“ zu verstehen ist. Diese Frage zielt auf konzeptuelle und methodische Grundgedanken ab, die sich damit beschäftigen, was es überhaupt heißt, Ethik zu „praktizieren“ und wie ein bestimmter Zugang dieser Ethikpraxis – die Beratung – organisiert und durchgeführt werden kann.
Aus dem Grundgedanken, wonach es sich bei der klinischen Ethik um eine praktische Ethik handelt, werden schließlich einige Leitlinien formuliert, die für das Engagement in diesem Feld hilfreich sein können.
1. Klinische Ethik: eine Annäherung
Um die Idee und Herangehensweise der klinischen Ethikberatung zu verstehen, ist es zunächst notwendig, ihren Kontext zu erkunden.
1.1. Die unterschiedlichen Orte der Bioethik
Die moderne Bioethik hat viele „Geburtsorte“,2 unterschiedliche Betätigungsfelder und ein facettenreiches Aufgabenspektrum.3 Einer dieser Orte – die medizinisch-pflegerisch-therapeutische Fürsorge – bildet den spezifischen Hintergrund für die folgenden Überlegungen. Der Ort, der mit „Klinik“ bezeichnet wird, ist topos, d. h. nicht nur geografische, sondern auch inhaltliche Bestimmung für die hier angesprochene Ethik.4 Der topografische Begriff „Klinik“ lässt sich auf das griechische Wort klinein zurückführen, welches „sich neigen/niederlassen“ bedeutet; das davon abgeleitete klinê wird mit „Bett“ und das passende Adjektiv klinikos mit „zum Bett gehörig“ übersetzt.5 Im Lateinischen meinte clinicus zunächst die Person, die krankheitsbedingt bettlägerig war, und wurde dann auf jene Person bezogen, die kam, um dem kranken Menschen zu helfen.
Wenn Bioethik sich mit diesem Topos beschäftigt, dann wird sie „klinische Ethik“ genannt. Das Krankenhaus kann in diesem Zusammenhang als Idealtypus der Klinik fungieren und wird den folgenden Überlegungen als konkreter Rahmen zugrunde gelegt. Klinische Ethik kann aber auch auf Pflegeheime, Arzt- und Hebammenpraxen oder Apotheken bezogen werden – auf Kontexte, in denen man sich in institutionalisierter Weise um Menschen mit Krankheit, Gebrechen oder Behinderung kümmert.
Klinische Ethik wird meistens als rezente Entwicklung angesehen. Als ältester Geburtsort der modernen Bioethik gilt häufig die biomedizinische Forschung mit ihrer ethischen Kontrolle in Form von (Forschungs-)Ethikkommissionen. Der Eindruck, bei der klinischen Ethik handle es sich um eine sehr junge Form der Bioethik, ist allerdings nicht richtig.6 Vielfach wird der Fall In re Quinlan7 als Startpunkt für die systematische Befassung mit ethischen Fragestellungen in der Klinik angesehen. Im Urteil bezog sich der Oberste Gerichtshof von New Jersey auf einen Artikel von K. Teel,8 die sich für die Einrichtung eines „ethics committees“ im Krankenhaus ausgesprochen hatte, um schwerwiegende Behandlungsentscheidungen zu beraten. So bedeutend der Fall von Karen Ann Quinlan für die weitere Institutionalisierung der klinischen Ethik war, stellte er nicht den Anfang dieses Felds dar. Dieser reicht zurück bis in die 1920er-Jahre und umfasste Gremien, die über Sterilisationen, Schwangerschaftsabbrüche und den Zugang zur Nierenersatztherapie berieten und entschieden.9 Ein weiterer Impuls kam einige Jahre nach dem Quinlan-Fall von der bioethischen Beratergruppe des US-Präsidenten.10 Sie empfahl, eine institutionalisierte Entscheidungsfindung für Therapierückzüge bei selbst nicht einsichts- und urteilsfähigen Patienten einzurichten, um ihre Rechte zu schützen. Der Druck, in diese Richtung zu gehen, wurde zur gleichen Zeit durch den Fall von „Baby Doe“ erhöht, bei dem ein neugeborenes Kind mit Down Syndrom nicht behandelt wurde.11
Im deutschsprachigen Raum setzte die Entwicklung der institutionalisierten klinischen Ethik hingegen erst bedeutend später ein. Im Jahr 1997 sprachen sich evangelischer und katholischer Krankenhausverband für den Aufbau entsprechender Strukturen aus;12 2006 folgte die Zentrale Ethikkommission bei der deutschen Bundesärztekammer.13 Mittlerweile verfügen bereits zahlreiche Krankenhäuser in Deutschland,14 der Schweiz15 und Österreich16 über eine institutionalisierte klinische Ethik, um die es im Folgenden gehen wird.
1.2. Das klinische Zusammentreffen
Wodurch zeichnet sich diese klinische Ethik aus? Inwiefern unterscheidet sie sich von anderen Orten der Bioethik? – Im Anschluss an den weiter oben erwähnten Topos der Klinik ist das Besondere der klinischen Ethik im klinischen Zusammentreffen (engl. clinical encounter) zu sehen. Dieses Zusammentreffen unterscheidet die klinische Ethik zum einen von anderen praktischen bioethischen Kontexten wie der biomedizinischen Forschung oder den biopolitischen Diskursen: Es geht um die medizinisch-pflegerisch-therapeutische Versorgung von konkreten Patienten. Das Zusammentreffen unterscheidet die klinische Ethik zum anderen von der bloß akademisch-theoretischen Beschäftigung mit Fragen der Bioethik, wie sie an Universitäten oder anderen Forschungs- und Bildungseinrichtungen geschieht: In der klinischen Ethik stehen reale Fragen und Entscheidungen im Raum, die nicht unter ceteris-paribus- oder for-the-sake-of-the-argument-Annahmen behandelt werden können.
Das klinische Zusammentreffen wurde von R. Zaner eingehend untersucht.17 Ihm wohnen ein Überraschungs- und ein Konfliktmoment inne, welche den Ernst und die Unsicherheit des klinischen Kontexts verdeutlichen. Klinische Ethik muss sich auf dieses Zusammentreffen einlassen und kann nicht analytisch-distanziert daneben oder darüber stehen. Da das klinische Zusammentreffen nicht bloß von Rationalität bzw. Vernunft geprägt ist, sondern die gesamte Palette menschlicher Existenz aufweist (z. B. Emotionen18), muss klinische Ethik einen weitaus komplexeren Zugang zur Ethik und ihrer Praxis finden, als dies in der akademisch-theoretischen Bioethik der Fall ist.
2. Ethikberatung: konzeptuelle und methodische Grundgedanken
Wie ein solcher Zugang der klinischen Ethik konzeptuell und methodisch aussehen kann, wird im folgenden Abschnitt erläutert.
2.1. Ethik praktizieren
Ethik wird regelmäßig als kritische Reflexion der Moral (Moralphilosophie) definiert. Diese Begriffsbestimmung ist insofern unzureichend, als sich Ethik seit jeher nicht nur mit Fragen des Rechten (was getan werden soll/nicht getan werden soll; „Sollensethik“), sondern auch mit Fragen des Guten (worin Zielsetzungen menschlichen Handelns bestehen; „Strebensethik“) beschäftigt hat.19 Moralphilosophische Sollensethik und eudämonistische (am guten Leben orientierte) Strebensethik sind zwei komplementäre Seiten derselben Ethikmedaille.
Für die klinische Ethik ist insbesondere die in der Strebensethik verankerte Tugend der Klugheit wichtig.20 Klugheit ist notwendig, um sich innerhalb des sollensethischen Rahmens zu orientieren und darin möglichst gelungen zu navigieren. Dazu bietet die Klugheit unterschiedliche Orientierungshilfen, wie z. B. die Ziel-Mittel-Relation, die Zielfindung oder die Sinngebung. Solche Hilfen sind für klinische Entscheidungen unerlässlich. In der klinischen Ethik geht es nämlich seltener um sollensethische Grenzziehungen (inklusive rechtliche Normen) – solche stehen in der Regel außer Diskussion –, sondern häufiger um eine strebensethische Entscheidungsfindung, die das Streben des Patienten nach einem geglückten Leben (inklusive Sterben) sowie das Streben des therapeutischen Teams nach einer patientenorientierten Entscheidungsfindung unterstützt. Dementsprechend hat die klinische Ethik mit Fragen zu tun, auf die es meist mehrere richtige (d. h. sollensethisch legitimierbare) Antworten gibt. In dieser Konstellation braucht es eine Unterstützung, die sich nicht in einer reinen Auskunft darüber erschöpfen kann, was sollensethisch oder rechtlich erlaubt oder verboten ist. Was es braucht, ist Beratung.
„Beratung“ (Deliberation) ist eine häufig verwendete Kurzformel, um auf den Punkt zu bringen, was die klinische Ethik tut, wie Ethik in diesem Kontext praktiziert wird.21 In einer etymologischen Analyse des Begriffs22 zeigt sich, dass Rat bzw. (be-) raten einmal mehr direktive, autoritative Züge hat (z. B. im Sinn von Belehrung), einmal mehr nicht-direktive, egalitäre Züge (z. B. im Sinn der Ratsversammlung). Für Aristoteles war Beratung (bzw. Erwägung, Überlegung, griech. bouleuesthai) eng mit Klugheit verbunden: „Die Klugheit […] hat es mit den irdischen und menschlichen Dingen zu tun, mit Dingen, die Gegenstand der Überlegung sind.“23 Wer es versteht, schwierige Fragen gut zu überlegen, der ist für Aristoteles „wohlberaten“, was er als Kennzeichen eines klugen Menschen ansieht.24 Die Klugheit zeigt sich unter anderem darin, dass man sich „Mitberater“ in Angelegenheiten hinzuzieht, „wo wir uns selbst nicht das genügende Urteil zuschreiben.“25
Wie ist die Brücke zwischen aristotelischer Klugheitsethik und Wohlberatenheit einerseits und der modernen klinischen Ethik andererseits zu schlagen? In beiden Fällen geht es darum, in konkreten Kontexten praktische Problemstellungen möglichst gut begründet zu bewältigen. Hierzu ist eine entsprechende Urteilskraft nötig, um allgemeine Begriffe, Konzepte, Regeln, Prinzipien usw. für die jeweilige Situation zu operationalisieren. Um ethische Probleme besser verstehen und kluge Entscheidungen treffen zu können, ist Beratung vonnöten: entweder in Form einer reflexiven Beratung, bei der sich die Entscheidungsträger untereinander beratschlagen (z. B. im therapeutischen Team, mit Patienten und/oder Angehörigen); oder in Form einer transitiven Beratung, bei der die Entscheidungsträger eine externe Person hinzuziehen, die sie bei ihren Überlegungen unterstützen soll (welcher methodische Zugang für die klinische Ethikberatung adäquat ist, wird im nachfolgenden Abschnitt untersucht).
Beratung zielt nicht allein auf Erkenntnis ab, sondern auch darauf, Praxis anzuleiten.26 In diesem Sinn spricht R. Faden davon, dass Bioethik immer mehr ein „Hybrid“ aus akademischer und praktischer Aktivität wird: „Bioethics began as a scholarly, reflective, academic enterprise. Increasingly, however, some in bioethics are not as interested in producing scholarship as they are in practicing bioethics by providing services to institutions and clients.”27
Die Praxis der Ethikberatung besteht grundlegend darin, sich im klinischen Zusammentreffen zu engagieren. Dies umschließt verschiedene ethische Praktiken, insbesondere die Bildung von Urteilen, deren Begründung, die Lösung von Konflikten oder das Verstehen von Problemen: Urteile der klinischen Ethik zeichnen sich dadurch aus, dass sie „gemischt“ sind, d. h. moralische und außermoralische (deskriptive, prognostische) Bestandteile haben.28 Sie sind damit keine rein moralphilosophischen (sollensethischen) Aussagen. Die Begründung dieser Urteile ist dahingehend zu verstehen, dass ein Mehr an Sicherheit, Gewissheit und Kontrolle angestrebt wird, nicht eine ethische Letztbegründung.29 Ein hierfür geeigneter Ansatz ist der Gedanke des „Überlegungsgleichgewichts“,30 in dem sollens- und strebensethische Begründungsaspekte miteinander in einen – zumindest vorübergehenden – kohärenten Zustand gebracht werden. Da es in der Urteilsbildung zu vernünftigen Meinungsverschiedenheiten kommen kann, stellt sich die Frage, wie mit derartigen Konflikten umgegangen werden kann. In der klinischen Ethik können Konflikte teilweise durch das Recht, teilweise durch alternative Lösungsverfahren, wie z. B. Mediation,31 gelöst werden. In vielen klinischen Situationen wird es jedoch keinen klaren Konflikt geben, sondern wird Unklarheit darüber herrschen, wie ein Problem zu erfassen und zu bewältigen ist. In solchen Sachverhalten geht es nicht darum, eine Antwort auf eine Frage zu formulieren, denn die Frage selbst ist noch nicht klar.32 Vielmehr handelt es sich um den Versuch, die Situation verstehend zu erfassen und zu interpretieren.33 Damit wird die ethische Aufgabe eine hermeneutische.34
Diese kurzgefassten methodologischen Überlegungen sollen vor Augen führen, dass es sich bei der klinischen Ethik um ein Feld handelt, das sich nicht auf rein moralphilosophische Analysen beschränkt und dennoch Ethik im strengen Sinn des Wortes ist: zum einen, weil strebensethische Aspekte eine wichtige Rolle spielen; zum anderen, weil die Praxis im Vordergrund steht. Mit anderen Worten: Die adäquate Institutionalisierung der klinischen Ethik kann nicht in einem moralphilosophischen Diskussionszirkel bestehen, sondern in einer Organisationsform, die den vielschichtigen Anforderungen des klinischen Zusammentreffens gerecht wird. Wie eine solche Institutionalisierung aussehen kann, wird im folgenden Abschnitt dargestellt.
2.2. Ethikberatung organisieren und durchführen
Aus dem Kontext der Institutionalisierung der Ethikberatung werden drei Aspekte vorgestellt: ihre Funktionen (Zielsetzungen), Strukturen und Prozesse (methodische Verfahrensweisen).
2.2.1. Funktionen der klinischen Ethikberatung
Die klinische Ethikberatung hat drei Kernfunktionen zu erfüllen: Fallarbeit, Policyarbeit und Bildungsarbeit.35 Die erste und vielleicht wichtig-ste Funktion besteht darin, den Betroffenen (therapeutisches Team, Patienten, Angehörige) bei ethischen Fragen, Problemen und Konflikten im Zusammenhang mit konkreten Behandlungsfällen weiterzuhelfen (Fallarbeit). Typische Themen sind Beurteilungsprobleme hinsichtlich der (mangelnden) Indikation einer Behandlungsmaßnahme, Verständnisprobleme den Patientenwillen betreffend oder Kommunikationsprobleme aller Art. Die Fallarbeit kann einen aktuellen Patienten betreffen (prospektive Fallarbeit) oder einen bereits abgeschlossenen Behandlungsfall (retrospektive Fallarbeit). Die zweite Funktion betrifft die Entwicklung und Implementierung von schriftlich kodifizierten Orientierungshilfen und Handlungsanleitungen („Policies“), die für einen konkreten Themenbereich, aber losgelöst von einem konkreten Behandlungsfall gelten sollen (Policyarbeit).36 Typische Beispiele für ethische relevante Policies im Krankenhaus betreffen DNR-Verfügungen, Patientenverfügungen oder Organspenden. Die genaue Bezeichnung solcher Policies schwankt zwischen „Empfehlung“, „Leitlinie“ oder „Richtlinie“, was unter anderem mit unterschiedlichen Autoritätsgraden zusammenhängt. Zur Policyarbeit gehört auch die Entwicklung und Implementierung von Dokumentationsblättern und Checklisten, welche die inhaltlichen Aussagen der Policies im Krankenhausalltag operationalisieren sollen. Die dritte Kernfunktion der Ethikberatung umfasst Aktivitäten der Aus-, Fort- und Weiterbildung in Belangen der klinischen Ethik (Bildungsarbeit).37 Mittlerweile haben sich auch im deutschsprachigen Raum bereits spezielle Bildungsprogramme herausgebildet, deren Ziel der Kompetenzaufbau für die klinische Ethikberatung ist.38
2.2.2. Strukturen der klinischen Ethikberatung
Institutionelle Strukturen geben der Ethikberatung eine Kontur, d. h. einen relativ stabilen, wiedererkennbaren Rahmen, um ihren Funktionen nachzukommen. Die beiden für die klinische Ethikberatung wichtigsten Strukturen sind das Klinische Ethikkomitee und die Ethische Fallbesprechung.
Das Klinische Ethikkomitee (KEK) ist ein auf Dauer eingerichtetes Gremium. Im Unterschied zur (Forschungs-)Ethikkommission sind KEKs nicht rechtlich vorgeschrieben. Sie haben dementsprechend keine rechtlich definierten Kompetenzen oder Verfahrensordnungen, sondern erhalten ihre Autorität von der Organisation, in der sie verankert sind. Dabei ist es wichtig, das KEK als disziplinär und inhaltlich weisungsfreies Gremium einzurichten, umgekehrt aber klarzustellen, dass es keine Eingriffsrechte in eigenverantwortliche (Therapie-)Entscheidungen besitzt, sondern beratend tätig ist.39 Die Zusammensetzung des KEK ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: Multiprofessionalität, Multidisziplinarität und Repräsentativität. In einem KEK sollten jene Professionen, Fachrichtungen und Organisationsbereiche vertreten sein, die mit ethischen Problemen im klinischen Alltag konfrontiert sind. Das sind in erster Linie Angehörige der therapeutischen Teams. Die Größe eines KEK ist von der Einrichtung, der es dient, abhängig. Aus gruppendynamischer Sicht wäre eine Idealgröße fünf bis 15 Mitglieder und eine Obergrenze 20 Mitglieder.40 In der Regel wird sich das KEK eine Art Geschäftsordnung geben, in welcher die Aufgaben und Verfahrensregeln seiner Arbeit niedergelegt sind. Die vielleicht wichtigste Aufgabe des KEK besteht darin, das organisationale Bewusstsein für ethische Themen und Probleme zu schärfen. Die Einrichtung und Präsenz einer derartigen Gruppe ist eine Chance, dass sich Menschen innerhalb der Klinik systematisch mit der ethischen Dimension ihrer Arbeit beschäftigen und über verschiedene Interventionsmöglichkeiten, die dem KEK gegeben sind, die Organisation in ihren Strukturen, Prozessen und Kultur(en) verändern. Es ist gut nachvollziehbar, dass das KEK aufgrund seiner Verfasstheit die Policyarbeit und die Bildungsarbeit vorantreibt.41 Hinsichtlich der Fallarbeit tun sich allerdings einige grundlegende Fragen auf. Unbestritten ist, dass das KEK die Fallarbeit zu ermöglichen hat. Dies betrifft in erster Linie den Kompetenzaufbau für und die Organisation von ethischen Fallbesprechungen.
Kontrovers wird hingegen diskutiert, ob das KEK auch die Durchführungsverantwortung für die Fallarbeit hat. Theoretisch sind hier mehrere Modelle denkbar:42 Beim Kommissionsmodell wird ein klinischer Fall vom Behandlungsteam (bzw. einem Teammitglied) beim KEK eingebracht, das dann berät, welche Stellungnahme dazu abgegeben werden kann. Dieses Modell entspricht im Wesentlichen dem Vorgehen einer (Forschungs-) Ethikkommission und birgt damit die Gefahr, dass das Beratungsgremium als tribunalartiges Entscheidungsgremium missverstanden wird. Beim Entsendungsmodell wird der umgekehrte Weg beschritten: Das KEK „entsendet“ eine oder mehrere Personen, um die Fallarbeit auf der Station durchzuführen. Wer bzw. wie viele Personen hier entsandt werden, unterscheidet sich von Modell zu Modell. Von einem Auftritt des gesamten KEK auf der Station ist aber aus logistischen und gruppenpsychologischen Gründen abzuraten.
Die ethische Fallberatung (EFB; auch „ethisches Konsil“ genannt43) ist die Struktur der Fallarbeit in der klinischen Ethikberatung. In der Regel handelt es sich dabei um anstehende Therapieentscheidungen für einen konkreten Patienten, häufig am Lebensende. Wenn im therapeutischen Team, beim Patienten selbst oder bei seinen Angehörigen Fragen auftauchen, wie und warum bestimmte Therapieentscheidungen getroffen werden sollen, so kann eine EFB einberufen werden. Im Unterschied zu einer regulären Teambesprechung oder einem Gespräch mit Patienten bzw. Angehörigen wird die EFB von einer Team-externen Person geleitet. Ziel der EFB ist es, ein gemeinsames Verständnis vom anstehenden Problem zu entwickeln, dieses zu strukturieren, denselben Informationsstand der Beteiligten zu erlangen, mögliche Handlungsoptionen aufzuzeigen und miteinander abzuwägen und – im Idealfall – eine Entscheidung zu treffen, wie weiter vorgegangen wird. Es handelt sich um eine gemeinsame Entscheidungsfindung, welche jedoch nicht in einer Art demokratischen Mehrheitsvotum die Autorität des Patienten (bzw. seiner rechtmäßigen Stellvertreter) oder des verantwortlichen Mitglieds im therapeutischen Team übergehen kann. Der Mehrwert der gemeinsamen EFB besteht darin, den Rücken dessen bzw. derer zu stärken, der/die eine Entscheidung letztlich autorisieren muss/müssen. Ein weiterer Vorteil der EFB ist darin zu sehen, dass die Entscheidungsfindung durch den Leiter der EFB dokumentiert wird und damit für alle Betroffenen nachvollziehbar ist.44
2.2.3. Prozesse der klinischen Ethikberatung
Die Prozesse der klinischen Ethikberatung unterscheiden sich je nachdem, ob es sich um die Policy-, Fall- oder Bildungsarbeit handelt. Im Folgenden wird lediglich auf die Prozesse (d. h. methodischen Verfahrensweisen) der Fallarbeit eingegangen. Hierbei sind drei Zugänge denkbar: ein autoritativer, ein konsensualer und ein beratender.45
Der autoritative Zugang zur Fallarbeit versteht die klinische Ethikpraxis tendenziell dahingehend, dass den Betroffenen gesagt wird, was legitim zu tun sei (moralischer Aktivismus46) oder dass sie sich in einem ethischen Konflikt zu einer alternativen Streitbeilegung (Mediation47) verpflichten. Als letzte Eskalationsstufe wäre beim autoritativen Zugang an eine gerichtliche Entscheidung zu denken. Auch wenn dieser Zugang mit dem oben skizzierten Verständnis von Ethikberatung wenig gemeinsam zu haben scheint, gibt es doch Situationen, in denen er angebracht ist. Zu denken wäre beispielsweise an einen Fall, in dem der letztverantwortliche Arzt sich offenkundig über den ablehnenden Patientenwillen hinwegsetzen möchte. Hier wäre es die Aufgabe der die EFB leitenden Person, den Arzt auf sein regelwidriges Handeln hinzuweisen und dieses auch zu dokumentieren. Abgesehen von solchen Extremsituationen trifft der autoritative Zugang jedoch nicht den Kern der Fallarbeit in der klinischen Ethikberatung.
Der konsensuale Zugang zur Fallarbeit versteht klinische Ethikpraxis tendenziell dahingehend, dass die Betroffenen zu einer Einigung gebracht werden sollen. Damit verbunden ist die Frage, welche ethische Bedeutung der Diskurs und ein Konsens haben können. Es ist davon auszugehen, dass nicht jeder Konsens, sondern nur der ethisch qualifizierte, Legitimation verleihen kann, wofür die Diskursethik wichtige Impulse liefert.48 Die Reduktion der Fallarbeit auf die Konsensfindung wird der Ethikberatung allerdings nicht gerecht. Denn die Beratungsleistung kann auch gerade darin bestehen, nicht vorschnell einen Konsens zu finden (unter Umständen sogar auf Kosten von unbeteiligten Dritten), sondern den Diskurs offen zu halten und auch legitime Einzelmeinungen zu schützen.
Der beratende Zugang zur Fallarbeit knüpft an das weiter oben Gesagte an: Ethikpraxis in der Klinik besteht demnach zu einem wesentlichen Teil darin, kluge Entscheidungen durch gegenseitige Beratung zu erreichen. Darauf aufbauend wurde die Beratungspraxis in der Literatur als facilitation („Ermöglichung“, „Erleichterung“, „Unterstützung“) konzipiert.49 Facilitation integriert intellektuelle und interpersonale (emotionale und soziale) Aspekte der Beratung und basiert auf einem elaborierten gruppenpsychologischen Modell. Die die EFB leitende Person ist „Facilitator“, indem sie dem therapeutischen Team, dem Patienten und/oder seinen Angehörigen dabei hilft, eine Entscheidung zu treffen. Diese Vorgehensweise bringt auch zum Ausdruck, dass die EFB-leitende Person nicht selbst „kluge Ratschläge“ gibt, sondern in mäeutischer Weise die Entscheidungsfindung der Beteiligten erleichtert.50
Im Rahmen dieser drei grundsätzlichen Zugänge wurden im Laufe der Zeit zahlreiche methodische Leitfäden entwickelt, welche den Beteiligten helfen sollen, den Beratungsprozess gut zu strukturieren.51 Im Wesentlichen bestehen diese Leitfäden aus Fragenkatalogen zu den verschiedenen Aspekten der Indikationsstellung, des Patientenwillens und des sozialen Umfelds.
3. Schlussfolgerungen: „Rules of Engagement“
Die beiden vorangegangenen Abschnitte sollten zeigen, dass die klinische Ethikberatung mittlerweile eine konzeptionell und methodisch etablierte Form der Bioethik ist. Sie ist in Nordamerika52 und Europa53 auf dem Weg der fortschreitenden Professionalisierung, zu der etwa die Entwicklung von Struktur- und Prozessqualitätskriterien54 oder die Zertifizierung von Ausbildungen55 zählt. Diese Professionalisierung wird von Teilen der akademischen Bioethik kritisiert,56 könnte jedoch für die klinische Praxis einen ähnlichen Fortschritt darstellen, wie dies bei der Professionalisierung von anderen klinischen Berufsbildern (Seelsorge, Sozialarbeit, Psychologie) der Fall war.
Wenn klinische Ethikberatung die Praxis des Engagements im klinischen Zusammentreffens ist, dann können abschließend einige „Rules of Engagement“ formuliert werden, die als Leitlinien für die weitere Entwicklung der klinischen Ethikberatung dienen:
- „Kenne dein Terrain“: Klinische Ethik zu betreiben bedeutet, in einem konkreten Umfeld zu arbeiten. Sich mit diesem Topos in all seinen Facetten vertraut zu machen, ist eine erste Einsatzregel.
- „Lass dich auf den Kontext ein“: Klinische Ethik zu betreiben bedeutet, sich auf die personale, organisationale und unter Umständen auch gesellschaftliche Dimension der Gesundheitsversorgung einzulassen. Dies erfordert, den klinischen Kontext nicht passiv-distanziert zu analysieren, sondern die Schärfe des Augenblicks im klinischen Zusammentreffen persönlich ernst zu nehmen.
- „Praktiziere Ethik“: Klinische Ethik zu betreiben bedeutet, im Bereich der praktischen Ethik zu arbeiten. Sie umfasst nicht nur sollensethische Moralphilosophie, sondern auch strebens-ethische Klugheitsethik vom guten Leben. Da Ethik in der Praxis immer von Menschen betrieben wird, kommt die Auseinandersetzung mit Persönlichkeitsmerkmalen (dem Charakter) hinzu.
- „Institutionalisiere klinische Ethik“: Klinische Ethik zu betreiben bedeutet, Ethikpraxis nicht dem Zufall zu überlassen, sondern einen systematischen Weg zu beschreiten. Institutionen bieten den Betroffenen stabile und damit verlässliche Orientierungshilfen für die Bewältigung ethischer Fragen, Probleme und Konflikte. Bei der Etablierung dieser Institutionen sollten die mittlerweile feststellbaren internationalen Standards beachtet werden.
- „Professionalisiere klinische Ethik“: Klinische Ethik zu betreiben bedeutet, mit zunehmend elaborierten Konzepten, Methoden und Anforderungen der internationalen Community auf diesem Gebiet konfrontiert zu sein. Professionalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang nicht notwendigerweise die Schaffung einer eigenen Profession, wohl aber von Qualitätsstandards für Strukturen und Prozesse in Ausbildung und Durchführung der klinischen Ethik.
Angesichts der wachsenden Komplexität klinischer Aufgaben wird der Bedarf an diesbezüglicher Ethikberatung in den kommenden Jahren weiter wachsen. Ihr Erfolg hängt nicht zuletzt davon ab, ob es ihren Promotoren gelingt, sich glaubwürdig und überzeugend auf den klinischen Topos einzulassen und sich in ihm zu engagieren.
Danksagung
Die vorliegende Arbeit basiert auf dem Habilitationsprojekt “WHOCARES”, welches 2008–2010 von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen des APART-Programms finanziert wurde. Ich danke insbesondere Carol Taylor vom Center for Clinical Bioethics an der Georgetown University, für ihre hervorragende Unterstützung während meiner Zeit in Washington, DC.
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Dr. Jürgen Wallner, MBA
Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien
Leiter Personalmanagement, Organisationsentwicklung, Ethikberatung
Johannes-von-Gott Platz 1, A-1020 Wien
juergen.wallner(at)univie.ac.at