Freiheit und Verantwortung – ein neurowissenschaftlicher Diskurs
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag diskutiert die Möglichkeit menschlicher (Willens-)Freiheit und Verantwortung unter der Voraussetzung einer physikalisch-kausalen Geschlossenheit der Welt und der Annahme, dass mentale Vorgänge auf neuronalen Vorgängen beruhen. Deutlich wird, dass Freiheit (im Sinne personaler Freiheit und innerer Kongruenz) sowie Verantwortung (d. h. ethisches Handeln) auch ohne mentale Verursachung möglich sind, was bedeutet, dass ein von neuronalen Prozessen losgelöster Geist in der Rolle eines unbewegten Bewegers nicht postuliert werden muss. Auch besteht keine Notwendigkeit, Freiheit auf Zufallsprozesse oder auf die starke Top-down-Emergenz mentaler auf psychische Vorgänge zu gründen.
Schlüsselwörter: Freiheit, Entscheidung, Philosophie des Geistes, Neurophilosophie, Selbstorganisation, Chaostheorie
Abstract
This contribution designs the possibility of human freedom of choice and responsibility under conditions of a physically closed world and its causal networks as well as the assumption, that mental processes are based on neural system dynamics. Freedom is conceptualized as personal freedom (Pauen) and the experience of internal congruence. By this, we are not forced to suppose mental top-down causation or in-deterministic random events in order to create freedom of choice and taking responsibility for our behaviour.
Keywords: Freedom of Choice, Decision Making, Philosophy of Brain, Self-organizing Systems, Chaos Theory
Einleitung
Die Frage der Freiheit im Sinne von Entscheidungs-, Handlungs- und Willensfreiheit scheint für einen christlichen, ja grundsätzlich ethischen Standpunkt in der Welt wesentlich. Gäbe es diese Freiheit nicht, gäbe es auch keine Selbstbestimmung und damit kein selbstverantwortetes Handeln. Dies wiederum kann als Voraussetzung dafür gelten, dass Menschen ethisch oder unethisch handeln und nach den dabei angesetzten Maßstäben von sich selbst und von anderen beurteilt werden können.
Die Möglichkeit der Einschränkung dieser Freiheit kann in äußeren Zwängen liegen, etwa im Falle von physischer oder psychischer Bedrohung, oder im Falle des Lebens in totalitären politischen Regimen. Sie kann aber auch im Inneren liegen, etwa durch biologische Prozesse, die unser Urteilsvermögen verändern (z. B. die Wirkung von Drogen). Gehen wir hierbei nicht nur von seltenen Sonderfällen aus, sondern von einer grundsätzlichen „Vorsteuerung“ unserer Urteils- und Entscheidungsprozesse durch Vorgänge in unserem Gehirn, so kann sich ein weitreichendes Problem für das Postulat der Willensfreiheit ergeben, welches in den letzten Jahren von der Neurophilosophie aufgegriffen und diskutiert wurde.1 Dieses Problem fügt sich über die Rolle von Hirnvorgängen für unser Bewusstsein hinaus in einen größeren Zusammenhang ein, nämlich in den der kausalen Geschlossenheit der Welt. Dies bedeutet, dass alle Vorgänge auf der Welt, also auch menschliches Verhalten und seine bio-psychischen Determinanten, auf physikalisch-chemischen Wirkgefügen beruhen.2
Die Frage, inwieweit sich der Mensch „frei“ verhalten und „frei“ entscheiden könne, ist allein in der neueren Geschichte der Psychologie und Philosophie wiederholt und in unterschiedlicher Gestalt diskutiert worden: Ein Mensch, der in den Schraubstock von Stimuli und Kontingenzen eingespannt, also eine Verstärkermarionette in der Skinner-Box seiner Lebensumstände ist, kann wohl nur sehr bedingt frei sein, ebenso wenig wie jemand, der seinen Kindheitserfahrungen ausgeliefert oder das Resultat von Erziehung, Genetik oder gesellschaftlicher Umstände ist. Unser Schicksal neigt offenbar dazu, sich in unterschiedlichen Diskursen in unterschiedlicher Weise als determiniert darzustellen, diesmal also (d. h. seit etwa 10 Jahren eines intensivierten neurophilosophischen Diskurses) sind es die Neurone und deren Physiko-Chemie.
In diesem Beitrag wollen wir daher nicht nur unseren Kopf retten – diesmal eben aus der Schlinge eines Neuro-Determinismus (was allerdings, wie wir sehen werden, für den Zweck der Begründung eines selbstverantworteten Handelns wahrscheinlich weder möglich noch notwendig ist) –, sondern vor allem einige Fragen und Perspektiven zum Verhältnis von naturwissenschaftlichen Erklärungen mentaler Phänomene und menschlicher Verantwortung eröffnen.
Freiheit in deterministischen Systemen?
Wir werden die Problematik einer Begründung der Möglichkeit menschlicher Freiheit zunächst unter der Prämisse des Determinismus diskutieren, um anschließend zu sehen, dass uns auch die Annahme stochastischer oder zufälliger Prozesse in keine grundsätzlich bessere Position bringt. Wo bleibt da die Freiheit? Müssen wir uns von dieser Illusion verabschieden?
Die Antwort hängt wohl davon ab, was man unter Freiheit versteht. Meint man mit Freiheit die Möglichkeit, den Menschen ganz oder teilweise außerhalb der „Bindungen eines universalen Naturzusammenhanges“ und der damit gegebenen Determinierung zu sehen, ihn „gleichsam ins Offene“ zu setzen,3 dann gibt es tatsächlich einen Widerspruch zwischen dem Postulat einer kausal geschlossenen Welt und einem so verstandenen Freiheitsbegriff. In der Philosophiegeschichte liegen zahlreiche Möglichkeiten vor, mit diesem Widerspruch, den man vielleicht sogar als eine existenzielle Antinomie des Menschseins begreifen könnte, fertig zu werden.
Eine Möglichkeit besteht darin, das Postulat der physikalisch-kausalen Geschlossenheit aufzugeben, indem man etwa mit Descartes (1596 – 1650) die Welt und insbesondere die Funktionsweise des Menschen in ein Reich der Notwendigkeit, nämlich das Naturgeschehen, und in ein Reich der Freiheit, nämlich das des menschlichen Handelns, einteilt. Mit einer solchen Unterscheidung handelt man sich aber zahlreiche Probleme ein, die unter dem Begriff des „Substanzdualismus“ diskutiert werden, und hätte sich zudem von dem Ziel einer naturwissenschaftlichen Erklärung menschlichen Verhaltens und psychischer Vorgänge zu verabschieden. (In der Tat gibt es bis heute und in unterschiedlicher Form den Streit um die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung zwischen einer Wissenschaft der Natur und einer Wissenschaft des Geistes im Humanbereich, sowie um ihre Anspruchsdomänen.)
Die andere Möglichkeit besteht schlichtweg in einem Postulat der Freiheit aus sittlich-ethischen Gründen sowie um der Entsprechung zu unserem subjektiven Empfinden willen, obwohl dies der Vorstellung universeller Kausalität widerspricht und obwohl alle Versuche, Willensfreiheit empirisch nachzuweisen, als problematisch gelten müssen. Diesen Weg des „Trotzdem“ hat Immanuel Kant (1724 – 1804) in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ beschritten. Willensfreiheit hat nach Kant die Funktion eines „unbewegten Bewegers“, wenn er ihr zugesteht, außerhalb der Kausalität in den natürlichen Ablauf der Dinge einzugreifen. Aber auch das würde auf eine Trennung der Welten hinauslaufen und sich in die dualistische Problematik einer „mentalen Verursachung“ verstricken.4 Nach Kant sind es drei Bestimmungsstücke, welche die Willensfreiheit ausmachen: Erstens die Möglichkeit, unter identischen Bedingungen auch anders handeln zu können (Anderskönnen), zweitens aus guten, einsehbaren Gründen und nicht etwa aus faktischen Ursachen oder Zwängen zu handeln (Intelligibilität) und drittens eine Handlung verursachen zu können, ohne selbst verursacht zu sein (Urheberschaft).5 Alle drei Komponenten können heute aus der Perspektive der Gehirnforschung als problematisch gelten. Nagel und Strawson machen zudem auf einen logischen Widerspruch zwischen dem Prinzip des Anderskönnens und dem der Urheberschaft aufmerksam: Wenn „Anderskönnen“ die Autonomie gegenüber allen Einflussgrößen auf Handlungen und Entscheidungen, also auch gegenüber allen persönlichen Merkmalen wie Wünsche, Überzeugungen oder Handlungsdispositionen bedeutet, dann müsste man die Persönlichkeit und den Körper des Akteurs als Wirkursache auf das Handeln ausschließen. Dann aber gäbe es keinen Urheber mehr.6
Eine weitere Möglichkeit, sich der genannten Antinomie zu entledigen besteht darin, die Existenz der Willensfreiheit grundsätzlich abzulehnen, wie dies David Hume (1711 – 1778) getan hat. In einer Welt, in der menschliches Handeln ebenso wie das Naturgeschehen von Gesetzen und Regelmäßigkeiten bestimmt ist, gäbe es keinen Platz für die Willensfreiheit. Er wies schon damals auf ein Phänomen hin, das heute als „actor-observer bias“ bekannt ist: Jeder unterstellt dem anderen voraussagbares Verhalten nach biologischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten,7 nur sich selbst nicht. Sich selbst unterstellt man Freiheit.
Zufall und Emergenz: Schlupflöcher für die Freiheit?
In der neueren Systemwissenschaft, insbesondere in der Theorie nichtlinearer, selbstorganisierender Systeme (Synergetik8) spielen Konzepte eine zentrale Rolle, die im Zusammenhang mit der hier geführten Diskussion von besonderer Relevanz sein könnten. In der Synergetik geht es um die Erklärung der Entstehung von Mustern und Strukturen aus dem Zusammenspiel von Teilen (Elementen oder Subsystemen) eines Systems, wobei die Teile gegenüber den neu entstandenen Mustern auf einer darunter liegenden Mikroebene verortet werden. Die selbstorganisierten Muster weisen gegenüber den sie konstituierenden Teilen neue und qualitativ andersartige Eigenschaften auf, welche die Teile eben nicht aufweisen – man spricht hier von emergenten Eigenschaften. Der Übergang von bislang nicht vorliegender Ordnung im Zusammenspiel der Teile eines Systems zu einer wie auch immer gearteten Ordnung, oder aber der Übergang zwischen einer schon bestehenden Form der Ordnung zu einer anderen Form der Ordnung wird dabei von kritischen Instabilitäten begleitet, wobei kleinste Mikroschwankungen in der Systemdynamik den Ausschlag für das Auftreten einer bestimmten Form der Ordnung (d. h. einer makroskopischen Systemstruktur oder eines Musters mit neuen emergenten Eigenschaften) geben können.9 Könnte es sein, dass die Synergetik damit dem Menschen und seiner Freiheit zwei elegante Schlupflöcher aus dem Klammergriff des Determinismus geschaffen hat (Popper spricht in Anlehnung an A. H. Compton sogar von einem „Alptraum des physikalischen Deterministen“10): Erstens mit der substanziellen Rolle des Zufalls an den Instabilitätspunkten der Entwicklung von komplexen Systemen, wie unsere Gehirne es zweifellos sind, und zweitens mit der Möglichkeit von Übergängen zu emergenten psychischen Strukturen, die ihre materielle Basis zwar in neuronalen Vorgängen haben, aber sich dann von diesen nicht nur unabhängig machen, sondern sogar „top-down“ auf diese einwirken können?
Das erste Schlupfloch könnte sich aus dem Zusammenspiel von Determinismus und Indeterminismus bei Phasen- oder Ordnungsübergängen ergeben. Ob sich mit dem Einfluss minimaler Fluktuationen als Zünglein an der Waage von Symmetriezuständen11 aber tatsächlich ein ontologischer Indeterminismus, ein Bruch in einer deterministischen Welt ereignet, ist fraglich. Der Begriff des „Zufalls“ meint in diesem Zusammenhang nämlich nur, dass ein Einfluss auf die Systemdynamik stattfindet, der im Rahmen der vorgenommenen Erklärung nicht näher erklärt wird. Dies ist analog zu der Feststellung, dass ein Würfel „zufällig“ auf eine bestimmte Augenzahl gefallen ist. Für Zwecke des problemfreien Pokerns reicht diese Unterstellung von Zufälligkeit; physikalisch dagegen sind hier Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen am Werk, die man im Prinzip benennen kann, wohl aber im konkreten Fall nicht vollständig erfassen. Im Sinne der Chaostheorie könnte man Zufall als hochdimensionalen chaotischen Prozess interpretieren, d. h. als letztlich deterministischen Vorgang mit (stark) begrenzter Vorhersehbarkeit. Und vielleicht ist es ja tatsächlich die Möglichkeit zu intensiviertem und höherdimensionalem Chaos, welche in Phasen der Instabilität im Umfeld von Ordnungsübergängen eröffnet wird, und eben nicht indeterministischer „Zufall“. Hierfür würde das Konzept der selbstorganisierten Kritikalität sprechen, das dem System selbst die Rolle der Fluktuationsverstärkung zuspricht: Es erzeugt seine Instabilität in chaotisch-deterministischer Weise selbst und schafft sich damit ein Mutationspool für weitere kreative Entwicklungen.12 Wir halten fest, dass die Rede vom Zusammenspiel zwischen Determinismus und Indeterminismus als relativ gelten muss: Es werden Einflüsse angenommen, deren Determinierung im Rahmen der vorgenommenen Erklärung nicht näher beschrieben wird.
Aber selbst wenn das Auftreten kritischer Instabilitäten tatsächlich indeterministische Löcher in den Kausalzusammenhang der Welt risse, wäre das für die menschliche Freiheit weniger wert, als man zunächst meinen möchte. Eine Reihe von Autoren hat in solchen Zufallslöchern in der Tat eine Chance gesehen, die Freiheit zu retten, aber was wäre damit gewonnen, den Kausalnexus durch puren Zufall zu ersetzen? Ist ein Mensch, dessen Handeln vom Zufall abhängt, freier als ein Mensch, dessen Handeln auf den Kausalzusammenhängen seiner phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung beruht? Wenn dem so wäre, dann sollte das freieste Wesen der Welt ein Molekül sein, das eine Brownsche Bewegung realisiert und dabei wie zufällig durch den Raum geistert. Aber Zufälligkeit ist sicher nicht mit Freiheit zu verwechseln.
Hinzu kommt, dass die Versuche, Freiheit über Zufall zu begründen, empirisch fragwürdig sind. Prominente Beispiele für solche Versuche bemühen z. B. die Quantenmechanik, in dessen Theorierahmen ein ultimativer, nicht eliminierbarer Zufall tatsächlich seinen Platz hat. Quantenmechanische Zufallsereignisse, wie sie beim radioaktiven Zerfall stattfinden, sollten nach dieser Auffassung makroskopisch verstärkt werden, bis sie in den Kausalnexus neuronaler Prozesse eingreifen.13 Zufällige Quantenschwankungen, die sich über die Neurochemie und -elektrik fortpflanzen, bis sie die Entscheidungen eines Menschen beeinflussen, würden diesen jedoch zum Spielball für solche Zufälle machen. Nach Roth gibt es zudem wenig Hinweise darauf, dass quantenphysikalische Ereignisse eine größere Bedeutung für kognitive, emotionale und verhaltenssteuernde Prozesse haben.14 Die kleinsten Prozesse, bei deren Zustandekommen Quanteneffekte beteiligt sein könnten, etwa das Öffnen und Schließen von Ionenkanälen der Nervenzellen oder die Entleerung von transmittergefüllten Vesikeln an der präsynaptischen Membran, würden sich durch die Kombination sehr vieler ähnlicher Vorgänge ausmitteln. Ein anderes Beispiel für ähnliche Versuche, den freien Willen ins Gehirn einzuschleusen, ist die von Sir John Eccles vorgeschlagene Beeinflussung sog. Wahrscheinlichkeitsfelder, welche in die Transmitterausschüttung von Synapsen (z. B. des supplementär-motorischen Areals) eingreifen und hierüber das Handeln beeinflussen sollen.15 Ein derartiger Vorschlag ist empirisch nicht belegt und steht mitten in der Problematik des Substanzdualismus. Auch Versuche, die Chaostheorie für eine zufallsgestützte Konzeption von Freiheit heranzuziehen, in denen einerseits auf die Potenzierung von Zufallsschwankungen in nicht integrablen Hamilton-Systemen und andererseits auf die Nichtvorhersehbarkeit chaotischer Dynamik abgehoben wird,16 stehen vor dem gleichen grundlegenden Problem: Sie verwechseln Freiheit mit Zufälligkeit. Darüber hinaus bringen sie Unvorhersehbarkeit und Indeterminismus durcheinander,17 wo sich doch im Verhalten nichtlinearer Systeme Determinismus und Unvorhersehbarkeit eben gerade nicht ausschließen. Da Willensfreiheit Unvorhersehbarkeit des Verhaltens weder zur notwendigen Voraussetzung noch zur zwingenden Folge hat, sind sowohl Unvorhersehbarkeit als auch Indeterminismus keine Garanten der Freiheit; beide sind weder notwendige noch hinreichende Bedingungen dafür.
Ein anderer Weg, den sich ein freier Geist bahnen könnte, um sich aus dem Netz des Determinismus zu befreien, wäre – so könnte man meinen – über die Emergenz des Psychischen aus seinem materiellen Substrat und den dort realisierten physikalisch-biologischen Wirkzusammenhängen möglich. Als psychischer Ordnungsparameter könnte er dann sogar auf Physisches, z. B. auf sein Gehirn zurückwirken und dieses beeinflussen. Dieser Weg der Begründung menschlicher Freiheit würde voraussetzen, dass eine allgemein akzeptable Lösung der Frage, wie aus neuronalen und biochemischen Prozessen Bewusstsein entsteht, vorliegt. Ob man den momentan zur Verfügung stehenden Vorschlägen in diese Richtung18 dieses Potential zugesteht, oder ob man darin lediglich komplexe Beschreibungen der Bedingungen und Voraussetzungen für das Entstehen von Bewusstsein sieht (Ermöglichungs-Erklärungen), ist unseres Erachtens derzeit immer noch Ermessenssache. Zudem enthält dieses Argument die impliziten Voraussetzungen, dass sich (a) emergent entstandene mentale Prozesse von den Gesetzen und Regelhaftigkeiten ihres Funktionierens, wie sie in der Psychologie, der Evolutionsbiologie und den Neurowissenschaften beschrieben werden, lösen könnten, und (b) dass das Bewusstsein gegenüber emotional-unbewussten Prozessen einen großen Spielraum besitzt. Beides ist zu bezweifeln.19 Der zentrale Einwand gegen diese Argumentationsfigur besteht jedoch darin, dass ein Einfluss freier Willensentscheidungen, also rein mentaler Vorgänge, auf neuronale Vorgänge und auf das Handeln nachgewiesen werden müsste. Im Sinne der Emergenzphilosophie würde es sich dabei um das Phänomen der „starken Emergenz“ mit mentaler Top-down-Kausalität handeln, in der Geist-Hirn-Philosophie würde man von „mentaler Verursachung“ sprechen.20 Nachweise und Erklärungsmechanismen hierfür sind derzeit nicht in Sicht.
In aller Bescheidenheit bleibt darauf hinzuweisen, dass trotz aller engen Zusammenhänge, die zwischen mentalen Vorgängen (Kognitionen und/oder Emotionen aller Art) und neurophysiologischen Zuständen gefunden wurden und die mit neuen Technologien in beliebiger Detailliertheit aufgeklärt werden können, eine Kausalwirkung von mentalen, also immateriellen Zuständen auf materielle Zustände nicht zu postulieren, messen oder erklären ist. Es handelt sich im strengen Sinne immer um Korrelationen, d. h. zeitgleich auftretende Phänomene, die wir einerseits subjektiv erleben (Perspektive der ersten Person) und über die wir Auskunft geben können (d. h., die wir mit psychologischen Mitteln wie Selbsteinschätzungen oder Interviews erfassen können), und die wir andererseits mit neurobiologischen oder physiologischen Methoden messen (Perspektive der dritten Person). Alle noch so detaillierten psychosomatischen Forschungsbefunde beschreiben Korrelationen, keine Kausalitäten.21
Das Gehirn und sein Wille
Einen Versuch, den Effekt eines mentalen Vorgangs, nämlich einer Willensentscheidung, auf neuronale Vorgänge nachzuweisen, unternahm die Arbeitsgruppe um Libet auf der Grundlage von Messungen des Bereitschaftspotentials (BP).22 Es handelt sich dabei um eine langsame negative kortikale Aktivierung, welche im Bereich des supplementär-motorischen Areals (SMA) und des prä-supplementär-motorischen Areals (prä-SMA) 0,5 bis 2 Sekunden vor der Durchführung einer Bewegung auftritt, während das kortikale motorische Signal erst 50 bis 100 ms vor der Bewegung auftritt.23 Die Frage ist nun, ob eine Willensentscheidung diese neuronalen Vorbereitungsprozesse des Handelns auslöst, oder ob sie diesen erst nachfolgt. Um dies zu klären, wurden Versuchspersonen gebeten, innerhalb eines Zeitraums von etwa 3 Sekunden spontan den Entschluss zu fassen, einen Finger der rechten Hand oder die ganze Hand zu heben. Um den Zeitpunkt des Entschlusses genau zu bestimmen, mussten sie sich die Position eines Punktes, der auf einer Scheibe rotierte, bei Entschlussfassung merken. Gleichzeitig wurden das Bereitschaftspotential mittels EEG sowie der Beginn der Reaktion mittels Elektromyogramm (EMG) gemessen.
Das Resultat war eindeutig: Das Bereitschaftspotential ging dem Willensentschluss in allen Untersuchungsdurchgängen voraus, nicht umgekehrt (im Durchschnitt um 350 bis 550 Millisekunden [ms], Minimum: 150 ms, Maximum: 1025 ms). Bei geplanten Bewegungen trat das Bereitschaftspotential ca. 1000 ms vor Bewegungsausführung (EMG-Signal) auf, bei nicht geplanten, spontanen Bewegungen ca. 500 ms vorher, während das subjektive Erleben des Willensaktes erst ca. 200 ms vorher auftrat. Es sieht also so aus, als ob unsere Willensentscheidungen von nicht bewussten kortikalen und subkortikalen Instanzen des Gehirns vorbereitet würden.24
Aufgrund der weitreichenden philosophischen Konsequenzen dieses Experiments waren die Reaktionen darauf zum Teil sehr heftig und kritisch. Haggard und Eimer versuchten, diese Kritikpunkte aufzugreifen und in einem Folgeexperiment zu berücksichtigen.25 Zum einen erfassten sie neben dem symmetrischen Teil des Bereitschaftspotentials über SMA und prä-SMA noch das asymmetrisch-kontralaterale BP. Dieses, so wird angenommen, repräsentiert die später einsetzende Aktivität des dorsolateralen prämotorischen und motorischen Kortex und ist damit spezifischer für die nachfolgende Bewegung als das symmetrische BP. Dem Einwand, dass das Heben eines Fingers keine Willensentscheidung, sondern lediglich eine hochautomatisierte Reaktion darstellt, begegneten sie durch Einführung einer zusätzlichen „free-choice“-Bedingung: Neben dem Drücken einer einzelnen Taste („fixed choice“) hatten die Versuchspersonen auch eine freie Wahl zwischen zwei Tasten zur Verfügung. Die Autoren fanden jedoch, dass sich der Beginn des lateralisierten (asymmetrischen) BP für „free choice“ und „fixed choice“ nicht signifikant unterschied; er lag bei 798 ms respektive 895 ms vor Reaktionsbeginn. Unabhängig von der Wahlbedingung lag der Beginn des lateralisierten BP signifikant vor dem Zeitpunkt des Willensentschlusses (350 ms). Das symmetrische BP begann erwartungsgemäß deutlich früher und ko-variierte nicht mit einem frühen oder späten Auftreten des Willens-
entschlusses. Für das lateralisierte BP dagegen war ein solcher Zusammenhang erkennbar: Bei frühen Entscheidungen (ca. 530 ms vor Reaktionsbeginn) startete das BP ca. 906 ms vor Reaktionsbeginn, bei späten Entscheidungen (durchschnittlich ca. 179 ms vor Reaktion) startete es 713 ms vorher, also entsprechend später. Die Ergebnisse bestätigen somit Libets ursprüngliche Resultate. Roth resümiert: Der „... Willensakt tritt in der Tat auf, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat, welche Bewegung es ausführen wird“.26 In ähnliche Richtung gehen Experimente, bei denen Versuchspersonen nach einem Hinweissignal möglichst schnell einen linken oder rechten Knopf drücken müssen. Die entsprechenden Bewegungen haben dabei schon eingesetzt, bevor die Person das subjektive Gefühl der Entscheidung hat.27 Untersuchungen an Makakenaffen ließen erkennen, dass Neurone im Striatum – eine an der limbischen Schleife der Handlungsvorbereitung beteiligte dopaminerge Basalganglienstruktur – bereits 2 bis 3 Sekunden vor Beginn nicht eingeübter Bewegungen feuern.28
Nun kann man sich natürlich fragen, ob die Freiheit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, überhaupt mit einem zeitlich so eingegrenzten Willensakt gleichgesetzt werden kann, wie in den Experimenten von Libet geschehen. Walter sowie Keller und Heckhausen glauben, dass die eigentliche Entscheidung in diesen Untersuchungen bereits gefällt ist, wenn die Versuchspersonen einwilligen, der Instruktion des Experimentators zu folgen.29 Der von Libet gemessene Willensakt habe dann nur noch die Funktion, die bereits geplante Bewegung auszulösen. Dieser Argumentation ist allerdings entgegenzuhalten, dass eine Vorverlagerung des Entscheidungsvorgangs z. B. auf den Zeitpunkt, an dem sich eine Person entschließt, überhaupt an einem Experiment wie diesem teilzunehmen, nichts Grundsätzliches daran ändern würde, dass auch diesem Willensakt ein neuronaler Vorgang vorausgeht.
In völlig anderen Untersuchungen zu Entscheidungsprozessen, z. B. von Bechara et al. oder von Sanfey et al., in denen mit jeweils völlig unterschiedlichen Versuchs- und Messprozeduren gearbeitet wurde, ergaben sich ebenfalls empirische Hinweise darauf, dass die Aktivierung von bestimmten Gehirnregionen das Resultat von Entscheidungen vorhersagen kann.30 In der Studie von Sanfey et al. konnten Probanden faire Angebote eines Anbieters akzeptieren oder unfaire Angebote ablehnen und den unfairen Anbieter damit abstrafen.31 Das Experiment fand unter Bedingungen funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) statt, wobei das Verhältnis der Aktivierung von Insula und dorsolateralem präfrontalem Kortex die Entscheidung (Akzeptieren oder Ablehnen eines Angebots) vorhersagen konnte. In der Studie von Bechara et al. mussten gesunde und gehirngeschädigte Personen für sie vorteilhafte oder unvorteilhafte Karten aus unterschiedlichen Kartenstapeln ziehen, wobei sich ein zunächst sehr lukrativer Kartenstapel im Laufe des Experiments als eher nachteilig erwies. Personen, deren ventromedialer präfrontaler Kortex intakt war, konnten offenbar vegetative Körpersignale (sog. somatic marker) verarbeiten und in geändertes Verhalten (Strategieänderung) umsetzen, wobei messbare vegetative Reaktionen vor einer Veränderung des Verhaltens auftraten, und diese wiederum vor einer bewussten Auskunft über eine Umentscheidung zugunsten anderer Kartenstapel.32 Neuronale bzw. physiologische Prozesse gehen bewussten Strategieentscheidungen offenbar deutlich voraus.33
Es hat im Moment den Anschein, dass man es drehen und wenden kann, wie man will – Entscheidungen und Willensakte ruhen auf neuronalen Prozessen auf, in die vor allem auch emotional relevante Gehirnstrukturen involviert sind. Zudem: Ein freier Wille, der sich über die emotionale Steuerung der Handlungsausführung hinwegsetzen und die Arbeit der emotionsverarbeitenden subkortikalen Systeme stören würde, wäre wahrscheinlich in überlebensrelevanten Situationen sogar lebensgefährlich.
Dennoch hat das subjektive Gefühl eines bewussten Willensaktes seinen Sinn. Das Gefühl der Selbstveranlassung unserer Bewegungen im Willensakt stellt für das Gehirn ein Zeichen für eine ausreichend durchgeführte Integrationsleistung bei der Bewegungs- bzw. Handlungsvorbereitung dar. Vor dem Starten einer Bewegung ist die dorsale und ventrale kortiko-limbische Basalganglienschleife mehrfach zu durchlaufen, zudem müssen sich die exekutiven Zentren der Großhirnrinde zusammen mit dem limbischen System ausreichend damit befasst haben. „In diesem Falle bauen sich das symmetrische und dann das lateralisierte Bereitschaftspotential auf und letzteres gibt den Startschuss für die Ausführung der intendierten Bewegung. Das Gefühl des fiat!, des ich will das jetzt ist demnach die bewusste Meldung dieses neurophysiologischen Vorgangs. Da das Bewusstwerden kortikaler Prozesse einige hundert Millisekunden benötigt, tritt dieses Gefühl mit dieser charakteristischen Verzögerung nach dem Beginn des Bereitschaftspotentials auf“.34 Das Ich entwickelt auf diesem Weg ein Gefühl für die Selbstinitiierung und Selbstkontrolle von Bewegungen. Das Gefühl einer bewusst intendierten Handlung ermöglicht zudem die Kontrolle über eine der Intention gemäße Ausführung der Handlung und das Eintreten der erwarteten Effekte. Die Ablaufsteuerung von Bewegungen erfolgt über Feedbackprozesse, die intern erzeugte Erwartungen über propriozeptive Signale benötigen (Re-Afferenzschleifen), welche unbewusst, in schwierigeren Fällen auch bewusst verarbeitet werden. Damit verschafft sich der Akteur ein Gefühl dafür, ob alles nach seinem Willen läuft.
Selbstkongruenz und personale Freiheit
Ist also Freiheit eine Illusion, die das Gehirn seinem Ich erzeugt, damit es bestimmte Funktionen, welche Selbstbewusstsein, bewusste Planung und Handlungskontrolle erfordern, erfüllen kann? Aus Sicht der Gehirnforschung mag es so aussehen. Kants Kriterien des Anderskönnens, der Intelligibilität und der Urheberschaft scheinen alle drei in Widerspruch zu unseren gegenwärtigen Vorstellungen über die Funktionsweise des Gehirns zu stehen. Die Experimente zum Bereitschaftspotential der Bewegungsinitiierung mögen nur eine von vielen möglichen Operationalisierungen der Willensfreiheit darstellen, und die darin enthaltenen Idealisierungsbedingungen mögen angreifbar sein, doch spricht im Moment nichts für eine mentale Urheberschaft von physiologischen Vorgängen und Verhalten. Auch scheint unser Gehirn nicht nach guten Gründen zu handeln, sondern nach Vorgabe seiner phylogenetischen und ontogenetischen Bedingungen. Erst nachträglich versorgt es dann sein bewusstes Ich mit guten Gründen bzw. Rechtfertigungen. Ob es schließlich auch anders könnte, ist zu bezweifeln, aber es entwickelt ein Gefühl der Wahlfreiheit, welches nicht zuletzt für die moralische Beurteilung von Handlungsfolgen, aber auch für das Gefühl von Selbstwirksamkeit und innerer Kohärenz so wichtig ist. Erleben wir Bewegungen als intern oder extern aufgezwungen (etwa bei einer isolierten Aktivierung des motorischen Kortex ohne Beteiligung der vielen handlungsvorbereitenden Schleifen limbischer und subkortikaler Systeme), so führt dies zu Körperschemastörungen, Störungen des Ich-Erlebens und Erfahrungen von Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Penfields neurochirurgische Patienten, bei denen im Wachzustand eine direkte Stimulation des motorischen Kortex vorgenommen wurde, erlebten die dadurch ausgelösten Bewegungsimpulse durchweg als fremdgesteuert.35
Müssen wir also zu dem Ergebnis kommen, dass Freiheit ein wichtiges Gefühl ist, dem aber faktisch nichts entspricht? Dies hängt von dem Verständnis von Freiheit ab, das man benutzt. Zunächst ist mit dem Gefühl, d. h. mit dem subjektiven Erleben von Freiheit schon sehr viel gegeben. Freiheit bedeutet für mich die Möglichkeit, meine Handlungen entsprechend meiner Intentionen, Überlegungen und Abwägungen umsetzen zu können, ohne äußere und innere Zwänge.36 Dass innere Zwänge auch als freiheitseinschränkend erlebt werden können, machen Erfahrungen des Kontrollverlusts bei Süchten oder der Zwangskrankheit (obsessive compulsive disorder) deutlich. Innere Freiheit bedeutet für viele Menschen, sich nicht durch instinkthafte Reaktionstendenzen, starke Emotionen, chemische oder psychologische Beeinträchtigungen ihres Denkens und Handelns eingeschränkt zu fühlen. Ähnliches gilt natürlich auch für äußere Zwänge durch Androhung oder gar manifeste Gewalt, moralische Konventionen, rechtliche Vorgaben, materielle Bedingungen oder fehlende Ressourcen. Umgekehrt gibt es die Erfahrung, dass zwar der Handlungsspielraum eines Menschen stark eingeschränkt ist (z. B. bei Querschnittslähmung oder geringen materiellen Ressourcen), aber dennoch ein Gefühl von Freiheit besteht. Wichtig scheint nicht die Bemessung des Spielraums am maximal Möglichen (maximale Intelligenz, maximale Bewegungsfreiheit, optimale Urteilskraft, usw.), was ohnehin außerhalb jeder realistischen Beurteilungsmöglichkeit läge, sondern am Maßstab unserer eigenen Motive, Ideale, Werte und inneren Antriebe. Freiheit entspricht dem Erleben von Kongruenz, das ein Denken und Handeln in Übereinstimmung mit sich selbst und ohne erkennbare Einschränkungen zulässt. Die Erfahrung der Selbstkongruenz wäre gewissermaßen die Eigenlösung bzw. der Attraktor von rekursiven Selbstbeurteilungsschleifen des Handelns und der Volition (vgl. das Konzept der Volitionen zweiter Ordnung nach Frankfurt37). Vielleicht gibt es daher auch intuitiv einen positiven Zusammenhang zwischen innerer Zufriedenheit und Freiheit, sowie einen umgekehrten Zusammenhang zwischen innerer Zufriedenheit und der Wahrnehmung von Handlungseinschränkungen. Moralische Verantwortung bedeutet, Gegebenheiten und Handlungsfolgen ohne starke innere Zwänge (z. B. starke Affekte) reflektieren und abschätzen zu können oder wenigstens zu wollen. Eine Bewertung der Verantwortlichkeit von Überlegungen und Handlungen erfordert Maßstäbe der kognitiven Leistung (Einbezug vieler möglicher Handlungsfolgen), der moralischen Urteilsqualität und der Handlungskompetenz einer Person, und ist daher von dieser selbst oft gar nicht ausreichend zu leisten.
Wie erkennbar, ist ein solches Verständnis von Freiheit und Verantwortung nicht auf Zufälligkeit angewiesen, im Gegenteil: Zufallshandeln würde weder eine Übereinstimmung mit sich selbst und seinen Motiven möglich machen noch eine wenigstens minimale und grob gerasterte Vorhersehbarkeit der Welt, welche für die Entwicklung von Verantwortung wichtig ist. Schließlich steht dieser Freiheit eine deterministische Welt nicht im Wege, denn ob meine Antriebe aus Zufall oder Notwendigkeit (d. h. aus den physikalischen und neurobiologischen Prozessen meiner Phylo- und Ontogenese) entstehen – ich kann mich durch mein eigenes Funktionieren oder aber durch die Umgebung unfrei oder auch frei erleben.
Freiheit ist in einer deterministischen Welt möglich (das ist die in der Literatur bekannte Position der Kompatibilität) und setzt weder Zufall noch Unvorhersehbarkeit noch mentale Verursachung voraus, sondern beruht auf einer bestimmten Reflexion und Bewertung der Realisation von Denk-, Fühl- und Handlungsweisen und Handlungspotentialen gegenüber erlebten oder konstruierten Bedingungen und Einschränkungen derselben. Diese Reflexionen und Bewertungen können problemlos auch als Gehirnprozesse verstanden werden. So gesehen ist es für die Möglichkeit der Existenz von Freiheit unwesentlich, ob das bewusste Gefühl einer willentlichen Entscheidung vor oder nach dem Bereitschaftspotential oder anderen Hirnvorgängen auftritt. Freiheit muss überhaupt nicht mit einem zeitlich punktuellen Willensakt identifiziert werden, sondern bedeutet eben die Möglichkeit des Handelns und Urteilens in Übereinstimmung mit sich selbst.
Es ist vielleicht Ermessenssache, ob man an die Stelle des Freiheitsbegriffs den Begriff der „Autonomie“ setzt, wie Gerhard Roth dies tut, oder nicht.38 Er bezeichnet damit die Fähigkeit unseres ganzen Wesens, innengeleitet und in Übereinstimmung mit unserer Erfahrung und unserem So-Geworden-Sein zu handeln. Dies ist ein Begriff von Automomie, der aus systemtheoretischer Sicht zu eng ist (wo er meint, dass Systeme nicht inputabhängig, sondern strukturabhängig funktionieren), aus psychologischer Sicht aber zu weit. Ein zwingender Grund, den Begriff der Freiheit aufzugeben, besteht jedenfalls, so unsere Einschätzung, nicht.
Im Gegenteil. Wenn Freiheit Selbstkongruenz und die Erfahrung von Selbstbestimmung bedeutet, dann stellt die Erkenntnis, dass Willensbildung auf neuronalen Grundlagen beruht und diese voraussetzt, wobei sich dies in einer kausal geschlossenen, deterministischen Welt abspielt, weder eine Gefahr für die Freiheit in einem ontologischen Sinne dar noch liefert sie ein Argument gegen die weitere Verwendung des Begriffs der Freiheit. Wir befinden uns hier in Übereinstimmung mit dem Konzept der personalen Freiheit, wie es Pauen vorgeschlagen hat.39 Entscheidend ist für ihn eine Variante des Prinzips der alternativen Handlungsmöglichkeiten, die nicht eine Unabhängigkeit der Entscheidung von allen inneren und äußeren Bedingungen voraussetzt, sondern die Übereinstimmung mit personalen Merkmalen, insbesondere mit persönlichen Überzeugungen: „Ich hätte anders handeln können, wenn die faktisch vollzogene Handlung meinen personalen Merkmalen widersprochen hätte“.40 Damit bleibt die Grundlage freien Handelns und Entscheidens das so gewordene Selbst, das in Kongruenz mit sich handelt und entscheidet, wobei es selbst oder auch – wenngleich aus einer völlig anderen Perspektive – ein Beobachter von außen über den Grad beeinträchtigender oder limitierender innerer und äußerer Faktoren urteilen kann.
Dieser Begriff von Freiheit enthebt uns nicht der Notwendigkeit, unser Leben selbst zu gestalten, sondern verweist vielmehr darauf. Dass wir in einer kausal geschlossenen Welt leben und unser Gehirn (vielleicht) deterministisch funktioniert, bedeutet nicht, dass wir uns in einen wie auch immer vorbestimmten Gang der Dinge einfach ergeben könnten. Die unendliche Komplexität der Systemzusammenhänge schließt eine Vorhersagbarkeit unseres Lebensweges praktisch aus. Zudem können wir über unser eigenes Verhalten und seine Bedingungen reflektieren und sie in gewissem Umfang sogar kontrollieren – dazu braucht es keine mentale Verursachung durch einen entmaterialisierten Willen, sondern nur die in unseren bewussten Gehirnfunktionen verfügbaren Schleifen der Reflexion und Selbstthematisierung. Sicher gibt es die Einflüsse der Genetik, der Erziehung und früher Bindungserfahrungen, doch können wir uns in keinem Moment darauf zurückziehen und Nachlässigkeit oder unmoralisches Handeln damit entschuldigen. In diesem Sinne ist die Anforderung von Freiheit im Sinne von Selbst- und Fremdverantwortung sowie einer notwendigen aktiven Gestaltung des Lebens existenziell. Mit keiner wie auch immer gearteten Psycho-, Sozio- oder Neuro-Kausalattribution können wir uns aus der Verantwortung stehlen. Im Gegenteil macht uns die Neuroforschung an verschiedenen Stellen unsere Verantwortung für die Gestaltung unseres eigenen Lebens und der Lebensbedingungen unserer Mitmenschen besonders deutlich: z. B. in der Bindungsforschung die Bedeutung, die wir als Bindungspersonen für unsere Kinder haben, in der Spiegelneuronenforschung die Rolle, die unser eigener Emotionsausdruck für das spontane Spiegeln und damit das emotionale Wohlergehen unserer Interaktionspartner hat, in der Forschung zur neuronalen Plastizität und Neurogenese die Wichtigkeit des Schaffens förderlicher Lernbedingungen und eigener mentaler wie körperlicher Aktivität, in der Stressforschung die Verantwortung für (vor allem emotional) stressfreie Lebens- und Arbeitsräume, usw.
Dass der Mensch zur Selbstgestaltung befähigt und zugleich verpflichtet ist, da er mit jeder Handlung zugleich auch über sein eigenes Wesen entscheidet,41 legen aktuelle Forschungen zur Genexpression nahe: Welche Gene aus dem Genom-Potential einer Zelle zur Synthese von Proteinen benutzt werden, hängt in hohem Maße von Umwelteinflüssen und Erfahrungen ab.42 Konkrete Erfahrungen sind es auch, welche über die neuronale Plastizität auf die Mikrostruktur (z. B. synaptische Verdrahtung) und Funktionsweise unseres Gehirns Einfluss nehmen. Somit gelangen wir zu Foucaults Anliegen einer praktizierten Freiheit: Freiheit ist in der Praxis der Lebensführung immer neu zu erarbeiten und existiert nur in ihrer Ausübung.43 Der Anspruch, seine Freiheit gebrauchen zu wissen, ist für Foucault die Grundlage einer Ethik als reflektierte Praxis der Freiheit,44 mit anderen Worten, als Lebenskunst.45
Resumée
Eine weiterreichende (geschweige denn letztgültige) Klärung der Fragen von Willensfreiheit und Verantwortung ist aufs Engste mit der Frage und der (weiteren) Klärung des Verhältnisses von Gehirn und Geist, von mentalen und physischen Vorgängen (früher als Leib-Seele-Problem bekannt46) verwoben. Für dieses Problem gibt es eine Vielzahl von Lösungsszenarien, aber kein allgemein verbindliches. Von den Extremvarianten einer Negierung oder zumindest Relativierung entweder mentaler Zustände (reiner Materialismus) oder physischer Zustände (reiner Idealismus) abgesehen liegen zahlreiche Erklärungsmodelle vor, auf die wir an dieser Stelle nicht annähernd eingehen können.47
Deutlich wurde vielleicht, dass der ethisch notwendige Anspruch an verantwortliches Handeln aufrecht erhalten werden kann, auch wenn es vernünftige Gründe für eine rein naturwissenschaftlicher Erklärung menschlichen Verhaltens geben sollte. Vernunft (hier im Sinne von Wissenschaft) und Verantwortung schließen sich ebenso wenig aus wie Vernunft und Glaube.48
Die Perspektive der ersten Person definiert einen eigenen Phänomenbereich, den des phänomenalen Bewusstseins. Dieser Phänomenbereich, in dem wir uns als Subjekte bewegen und leben, wird durch naturwissenschaftliche Erklärungen ohnehin nicht obsolet, und unterscheidet sich auch grundlegend von dem der dritten Person (Beobachterperspektive auf Gehirn und Verhalten). Es ist dieser Bereich der personalen Erfahrung, der Qualia, in dem wir unsere mentalen wie kommunikativen Prozesse gestalten. Wir tun dies ja nicht durch direkte Eingriffe ins Gehirn (außer in therapeutischen Sondersituationen, etwa bei Medikamenteneinwirkung oder Hirnstimulation, eventuell auch durch die Einnahme von psychotropen Substanzen), sondern durch Vorstellungen, innere Bilder, das Benutzen von Sprache oder Gesten, das Aufsuchen von spezifischen Situationen (die uns z. B. anregen oder entspannen sollen), Übung, usw., mitunter auch durch positive wie negative Sanktionen oder Strafen (z. B. im Falle von Gesetzes- oder anderer Regelübertretungen). Unser Gehirn ist darauf spezialisiert, aus mentalen Vorgängen und Erfahrungen zu lernen, d. h. sich aufgrund seiner neuronalen Plastizität zu verändern. Insofern wären die praktischen Konsequenzen eines Neuro-Determinismus weniger dramatisch, als man annehmen könnte: Auch in diesem Fall ginge es darum, dem Gehirn und natürlich dem gesamten Menschen die Bedingungen für optimales Lernen, für angemessenes Verhalten und moralisch wertvolles Tun zur Verfügung zu stellen, wobei im einen wie im anderen Fall die Frage bleibt, wer darüber verfügt, wer darüber urteilt und wer die Definitionsmacht über Gut und Böse hat. Das ist Gegenstand gesellschaftskritischer wie ethischer Reflexionen – ein Anspruch, aus dem uns keine Neurobiologie dieser Welt entlassen wird.
Referenzen
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Singer W., Wer regiert im Kopf? – Philosophische Implikationen der Hirnforschung. Tagungsband Leopoldina, Nova Acta Leopoldina, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle an der Saale (2010) (in Druck) - Die physikalische Geschlossenheit der Welt ist eine der drei Annahmen, welche das sog. Bieri-Trilemma der Analytischen Philosophie des Geistes konstituieren. Das Trilemma beschreibt aus Sicht der Analytischen Philosophie die zentralen Ungereimtheiten im Verständnis des Verhältnisses von mentalen (also immateriellen) Prozessen und materiellen (physikalisch-chemischen, z. B. neuronalen) Prozessen. Die drei Annahmen lauten: 1. Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene (ontologischer Dualismus), 2. Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam, 3. Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen.
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vgl. auch Pauen M., Grundprobleme der Philosophie des Geistes, S. Fischer, Frankfurt/Main (2001) - Es sei darauf hingewiesen, dass mit dem Begriff „Gesetzmäßigkeit“ oder „Naturgesetz“ mehrere Interpretationen verbunden sein können. Die eine sieht Naturgesetze als zwingende Vorgaben, nach denen sich die Natur in jedem Fall verhält und zu verhalten hat. Sie haben damit ontologischen Status. Die andere sieht Naturgesetze als Versuche, wiederholt beobachtetes Verhalten oder ko-variierende Ereignisse im Sinne von Invarianten in eine Beschreibung zu gießen, welche die Form von Wenn-Dann-Aussagen (statement view) oder mathematischer Strukturen (z. B. deterministische oder stochastische Differenzialgleichungen) (strukturalistische Theorienauffassung) haben kann. Solche „Naturgesetze“ haben die Natur nicht zwingend im Klammergriff, sondern modellieren sie und zeichnen mit möglichst hohem empirischen Gehalt und hoher Treffsicherheit nach, was geschieht. In diesem Sinne kann eine mathematische Psychologie oder eine mathematische Neurowissenschaft mit ganz unterschiedlichem ontologischen und erkenntnistheoretischen Anspruch auftreten. In diesem Übergang von einer ontologischen Auffassung des Neurodeterminismus zu einem modellistischen Zugang, also in einer epistemologischen Wendung, könnte ein harmloser Ausweg aus dem Fliegenglas des Determinsmus-Problems zu finden sein.
- z. B. Haken H., Synergetics. Introduction and Advanced Topics, Springer, Berlin (2004)
vgl. auch Mainzer K., Thinking in Complexity. The Complex Dynamics of Matter, Mind, and Mankind, 3rd Edition, Springer, Berlin (1997) - Dass die Möglichkeit „freier“, d. h. hier: nicht durch äußeren Zwang vorgegebener Ordnungsbildung in neuronalen und mentalen Prozessen (z. B. in der Motorik und der Wahrnehmung) im Konzept der Selbstorganisation eine besondere Rolle spielt, macht schon ein älteres Zitat aus der Gestaltpsychologie (Metzger W., Psychologie, 3. Auflage, Steinkopff, Darmstadt (1963)) deutlich, das noch weit vor der naturwissenschaftlichen Ausarbeitung der Synergetik durch Hermann Haken formuliert wurde: „Es gibt – neben anderen – auch Arten des Geschehens, die, frei sich selbst überlassen, einer ihnen selbst gemäßen Ordnung fähig sind. Frei sich selbst überlassenes Geschehen führt darum nicht ausnahmslos zu schlechterer, sondern kann […] auch zu besserer Ordnung führen. Ordnung kann unter Umständen von selbst – ohne das äußere Eingreifen eines ordnenden Geistes entstehen. Sie kann sich unter denselben Umständen auch ohne den Zwang starrer Vorrichtungen erhalten. Sie kann – ja muss – sofern sie nicht auf starren Vorrichtungen beruht, sich unter veränderten Umständen ohne besonderen Eingriff (ohne die Umschaltungen der Mechanisten und ohne die Verkehrsschutzmänner der Vitalisten) ändern. Endlich kann solche Ordnung wegen des Mangels an starren und daher auch schützenden Vorrichtungen zwar leichter gestört werden, aber sie kann sich – und das begründet ihre ungeheuere Überlegenheit über jede Zwangsordnung – nach Aufhebung der Störung grundsätzlich auch ohne weiteres wiederherstellen: Es sind dieselben Kräfte und Bedingungen, denen sie ihre Entstehung, ihre Erhaltung, ihre Anpassung an veränderte Umstände und ihre Wiederherstellung verdankt.
Mit einem Wort: Es gibt – neben den Tatbeständen der von außen geführten Ordnung, die niemand leugnet – auch natürliche, innere, sachliche Ordnungen, die nicht aus Zwang, sondern „in Freiheit“ da sind. Für diese Ordnungen lassen sich ebenso gut Gesetze aussprechen und sichern wie für irgendeine Zwangsordnung. Das heißt: Gesetz und Zwang sind nicht dasselbe; Gesetz und Freiheit schließen sich nicht aus. Es kann an Gebilden und Geschehnissen grundsätzlich ebensowohl gesetzlosen Zwang wie freie Gesetzmäßigkeit, ebensowohl erzwungene Unordnung wie nach Gesetzen sich ordnendes freies Geschehen geben“.
[…] „Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass bei der Anwendung des Grundsatzes nicht etwa vollkommene Festlegung und vollkommene Freiheit als einzige, ausschließliche Möglichkeiten behandelt werden dürfen. Zwischen der vollkommenen Festlegung einer starren Form und der Festlegung eines Geschehens auf eine einzige Bahn einerseits und der völligen Freiheit der Formbildung und des Geschehensverlaufs andererseits liegen unzählige niedere und höhere Grade der Freiheit und der Führung. Aber sowie auch nur mehr als ein Freiheitsgrad, mehr als nur ein möglicher Weg des Geschehens da ist, muss vorfindbare Ordnung mindestens zum Teil innerlich bedingt sein.“ - Popper K. R., Objektive Erkenntnis, Hoffmann und Campe, Hamburg (1973), S. 242
- Der Begriff „Symmetrie“ bezeichnet das Vorliegen von zwei oder mehreren gleichwahrscheinlichen Ordnungszuständen eines Systems, das mit dem Auftreten eines neuen Ordners in einen manifesten Zustand hinein „gekippt“ wird (sog. „Symmetriebrechung“).
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- Ob man sich mit dem Postulat, Hirnprozesse und psychische Vorgänge wären eben wie die zwei Seiten einer Medaille und stünden in einem Identitätsverhältnis zueinander, zufrieden gibt und darin die Lösung des Geist-Materie-Problems zu sehen bereit ist, oder ob man an diese Identitätsrelation kritische Fragen stellen möchte, ist im Moment eine Frage des Standpunkts (vgl. zur Identitätstheorie des Geistes Vogeley K., Repräsentation und Identität. Konvergenz von Hirnforschung und Gehirn-Geist-Philosophie (Erfahrung und Denken, Band 77), Duncker & Humblot, Berlin (1995)).
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Univ.-Prof. Dr. Günter Schiepek
Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung
Christian-Doppler-Universitätsklinik
Ignaz-Harrer-Straße 79, A-5020 Salzburg
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