Der Verlust des Rituals und die Drogenmisere
Die Großstadtbilder dokumentieren ein Paradox: Verkehrsknotenpunkte sind zweckorientierte Zonen der Stadt und zugleich Orte ihrer Zweckverfremdung. Gegen die geplante Nutzung für öffentlichen Personentransfer siedelten sich in den Ecken, Nischen und im Schutz der Anonymität soziale Unterschichten an, die häufig zur negativen Repräsentation einer Stadt zählen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hielt man dieses Phänomen für die logische Konsequenz der Urbanisierung. Heute steht die öffentliche Fürsorge vor nahezu unlösbaren Problemen und am liebsten scheint sie dieser Herausforderung mit routinierter Gleichgültigkeit zu begegnen. Wegen des sinkenden Budgets bei öffentlichen Ausgaben ist vermutlich keine andere Reaktion zu erwarten. In den Medien ruft man nach der Polizei, die endlich Ordnung schaffen soll, so dass für diese armseligen Menschen die christliche Caritas der letzte Ansprechpartner geblieben ist. Sie nimmt ihre Funktion ernst, steht sie doch in der Tradition von Franz von Sales oder Hildegard Burian.
Mit Bitterkeit musste man während der vergangenen Jahre beobachten, dass der Wohlfahrtsstaat seine soziale Verantwortung immer weniger einlöst. Und zu dieser Unterschicht zählen Obdachlose, Großstadt-Nomaden, Bettler, beschäftigungslose Zuwanderer, Suchtkranke, psychisch Kranke, Straftäter oder Haftentlassene. Sie stehen trotz unterschiedlichster Ursache in der ersten Reihe der Modernisierungsverlierer.
Wie vor 200 Jahren in den Romanen von Charles Dickens gehören diese Deklassierten wieder zum Stadtbild. Einen bedeutenden Anteil an dieser neuen Unterschicht haben die Suchtkranken aller Art. Sie sind Opfer ihrer Abhängigkeit, die vielleicht am Beginn dieser „Karriere“ wie eine kurzlebige Befreiung von den Alltagssorgen aussah. Die Droge war schließlich in den meisten Fällen die Letztursache dieses sozialen Abstiegs in eine zerstörerische „Nicht“-Existenz. Selbst an diesem Tiefpunkt menschlichen Lebens sind dennoch Unterschiede zu erkennen: Während der Alkoholiker sozial anerkannte Drogen zu sich nimmt und daher seine Krankheit noch auf eine relative soziale Akzeptanz stößt, so lebt der Abhängige von Haschisch bis zum Opium zusätzlich in der Gefahr seiner Kriminalisierung. Der Erwerb der Drogen ist eben illegal, die Beschaffungskriminalität gut bekannt und durch einen grauen Markt geregelt; es sind Themen für Psychologen und Juristen, der öffentlichen Fürsorge und der Polizei. Ist damit das Problem lösbarer geword
Rauschmittel im kulturellen Kontext
Für den Soziologen stellt sich hingegen nicht nur die Frage nach der Konsistenz dieser „Subkultur“, die er schließlich als eine Variante allgemeiner „Kultur“ betrachtet, sondern er muss auch dem allgemeinen Phänomen nachgehen, in welchem Verhältnis Drogenkonsum und Gesellschaft stehen. In den Sozialwissenschaften ist die Einsicht geläufig, dass weit früher in jeder „Kultur“ jeweils eine spezielle Droge eine soziokulturelle Funktion besaß. Mittelmeerkulturen kannten von Anfang an Alkohol, wie etwa in der chinesischen Opiate verwendet wurden, oder indianische Hochkulturen ihre Rauschmittel aus diversen Kakteen gewannen. Außerordentlich spannend ist die Ablöse einer Droge durch eine andere, wie dies in der persischen Geschichte in der Zeit der „Islamisierung“ zu beobachten ist. Alkohol geriet in Misskredit und wurde durch Haschisch ersetzt. Es war buchstäblich ein Kulturkampf, der sich bis in die persischen Märchen verfolgen lässt, in denen zumeist die „Alkohol-Götter“ vertrieben werden.
Allgemein beschreiben die historischen Darstellungen, dass einerseits im kulturellen Kontext stets die Möglichkeit des „Exzedierens“ aus dem Alltag vorgesehen war, andererseits war der „Exzess“ an komplizierte Regeln und Rituale gebunden. Zur besseren Erklärung dieses Phänomens sind die auf kultischer Grundlage begründeten Fastenzeiten gut geeignet, gleichsam ein Negativbild, in dem ein allgemein geübtes Aussetzen der Einnahme von Drogen vorgeschrieben war. Diese Zeiten sicherten die Rückkehr zur Normalität, zur Reflexion, zur möglichen Neubesinnung. Vielleicht ist das heute wieder im muslimischen Ramadan eine geübte Praxis der Enthaltsamkeit, Askese und Selbstdisziplinierung.
Eine deutliche Veränderung zur Entritualisierung des Drogengebrauchs zeigte sich im Zeitalter des Kolonialismus, der eben die strikte Zuordnung der Droge zur Kultur auflöste. Selbst wenn anzuerkennen ist, dass jede Droge ihre Abhängigen schafft, also insgesamt gefährlich ist und vor Missbrauch nicht eindringlich genug gewarnt werden kann, so war die Ritualisierung das beste Mittel im Kampf gegen die Droge, denn sie zwang zum kontrollierten Genuss und setzte beim Genießer die Fähigkeit zur Selbstkontrolle voraus. Leider boten die indianischen Nomadenkulturen ein negatives Beispiel, denn sie hatten den Konsum von Alkohol weder gekannt, noch konnten sie damit „umgehen“. Dieser Prozess der Penetration einer Bevölkerung durch bislang fremde Drogen verursachte eine Katastrophe.
Entritualisierung: Das Tor zum Missbrauch
In der europäischen Zivilisation war die Verbreitung von Tabak eine adäquate Herausforderung, die zuweilen mit strikten Verboten hätte verhindert werden sollen. Dabei zeigte sich, – trotz der Gefahr, dass immer eine dauerhafte Abhängigkeit „geweckt“ werden kann – Drogen würden deshalb eine verderbliche Wirkung ausüben, da man bspw. über keine Erfahrung im Umgang mit Haschisch verfügte. Und es gab auch keine über die Kultur vermittelte Reglementierung. Der Abenteurer und Entdeckungsfahrer Walter Raleigh hatte im 17. Jahrhundert seine Tabakspfeife in London noch heimlich geraucht, um bei seinen Nachbarn nicht ins Gerede zu kommen. Das gelang erst seinem Diener, der Sir Walter mit einem Kübel Wasser löschen zu müssen glaubte. Weit unbekannter waren Marihuana, Mescalin, Kokain etc., dennoch „wusste“ man von der verheerenden Wirkung, sollte man sich eben nicht mehr von ihnen lösen können. Der Grund für den Missbrauch war relativ leicht zu entschlüsseln: Es hatte nicht nur an Erfahrung gefehlt, sondern das Fehlen des kulturellen Kontexts machte den Drogenkonsum gefährlicher denn je, denn man kannte keine Grenzen und kein „Fasten“ mehr.
Das Fehlen kulturell geregelter Reziprozität kann beim Konsumenten Desorientierung, Fehleinschätzung und schließlich Abhängigkeit verursachen – und es ist oft genug der Fall. Den hier dargestellten Unterschied kann man daran erkennen, dass uns heute ein Arzt belehrt, der tägliche Genuss von Alkohol bahne eine Abhängigkeit, während Priester seit Jahrhunderten täglich etwas Alkohol zu sich nehmen, ohne in den Verdacht zu geraten, alkohol-abhängig zu sein. So ist das Erscheinungsbild der Ritualisierung hervorragend charakterisiert.
Natürlich war der Kontakt mit den „neuen“ Drogen von einem pervers anmutenden Interesse an Innovationen begleitet, eben Erfahrungen anderer Art sammeln zu wollen, „Augenzeuge“ diverser Phantasien zu werden oder die Illusion zu erleben, kurzfristig die irdischen Fesseln abwerfen zu können. Obendrein waren bislang unbekannte Drogen recht gute Hilfen in den alten Heilkünsten, in der Anästhesie, in der Chirurgie oder bei psychischen Störungen. Es ist aber nur die halbe Geschichte.
Die Droge als Signum der Emanzipation
Wenn der Kolonialismus diese Vermischungen im Drogenkonsum ermöglicht hat, so entwickelten sich die Gesellschaften – speziell in Europa - innerhalb ihres säkularistischen Selbstverständnisses, was als Emanzipation erfahren wurde. Das hatte zur Folge, dass Drogen außerhalb von Kult, jenseits einer Tradition und außerhalb repräsentativer Institutionen verfügbar wurden. Wenn früher in der Antike ein platonisches Symposion zur Begleitung philosophischer Dialoge Wein vorsah, so mit dem Ziel, mittels gelockerter Zunge die Vertraulichkeit der Gespräche zu fördern. Es war nicht das Ziel der Versammlung, in einem allgemeinen Alkohol-Abusus zu enden. Sollten wir noch wissen, weshalb es Speisegebote gab, so können wir auch annehmen, dass der Drogenkonsum strengen Regeln unterworfen war. Indianer genossen Mescalin nicht täglich, Chinesen rauchten das Opium auch nicht ununterbrochen. Allen Kulturen war es wichtig, dass ein durch Drogen erleichtertes Entfliehen aus dem Alltag gleichzeitig Horizonte öffnete, sei es jener einer Gotteserfahrung, sei es jener, die Hinfälligkeit menschlicher Existenz zu überwinden. Drogen eröffneten auch die Einsicht in Sollensnormen menschlicher Handlungsdispositive, bereiteten gemeinsamen Genuss, stärkten die Zusammengehörigkeit oder gewannen der Wirklichkeit vermeintlich unbekannte Dimensionen hinzu. So sollen jene großen Moscheen, die bis Indien errichtet wurden, die Realisationen von Haschisch-Phantasien sein.
Während der Rückkehr zum Alltag und der Wirklichkeit erkennen wir sofort, dass Emanzipation unter anderem auch den Zugang zu Drogen „liberalisierte“.
Umgehend mussten juristische Grenzen und Verhaltensanweisungen entwickelt werden. Merkmal dieser Entwicklung war der sogenannte Opium-Krieg gegen China, allerdings unter überraschender Veränderung der Vorzeichen. Der Bedarf an Opiaten war in China dramatisch gestiegen und dank Freihandel waren Drogen ein beliebter Gegenstand der Handelsimporte. Das gefiel der chinesischen Regierung überhaupt nicht. Die Einfuhrbeschränkungen stießen auf erbitterten Widerstand Englands und anderer Länder, die im Handel mit China große Chancen sahen. Sie unterstützten daher das Interesse an liberalen Handelsbeziehungen. China unterlag dem Druck, dem die liberalen bürgerlichen Gesellschaften in Europa auch nicht gern nachgegeben hätten. Es war ja inzwischen ein offenes Geheimnis, dass die Repräsentanten kultureller Eliten in Europa im späten 19. Jahrhundert zu Opiaten Zuflucht nahmen, da diese darin das probate Mittel vermuteten, einerseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu entfliehen, andererseits der Gesellschaft eine „Hyperrealität“ durch künstlerische Phantasien entgegenzustellen. Shelley, Baudelaire, Rimbaud oder Trakl waren in diesem Sinn drogenabhängig, wie es denn auch später Freud gegenüber dem Kokain war. Wie auch immer diese Phänomene zu bewerten sind, so hätte man damals vorerst der Meinung sein können, dass außerordentliche Belastungen den Griff zur Droge verständlich machen, wie eben ein Bauer zur Weinflasche greift, um seine Depressionen zu bekämpfen. Neu war aber gemäß der Selbstdarstellungen einiger Künstler, dass sie durch Drogen neue ästhetische „Sollensnormen“ erfuhren, was recht gut in die erweiterte Darstellungswelt der Modernen einzufügen war. Hier im Regress auf soziale „Normalität“ zu antworten, falschen „Selbsterlösungen“ aufzusitzen oder die Ermittlung neuer ästhetischer Erfahrungsqualitäten durch Drogen in den Künsten bürgerlicher Gesellschaft für diese spezielle Gruppe zu tolerieren, ist nicht wirklich ein taugliches Argument.
Opiate als Medium künstlerischen Schaffens
Die höheren Grade von Abhängigkeiten erzeugten jedenfalls das für diese Kultur typische Merkmal selbstzerstörerischer Kraft, weshalb sich der Künstler immer häufiger in einer Opferrolle sah oder sich als laizistischer Märtyrer der bürgerlichen Gesellschaft interpretieren konnte. Ja, die Maler und Dichter bekannten ihre Abhängigkeit ein und verteidigten sich damit, ihr Leben nicht anders meistern zu können. Es ist künftig die parallel laufende Tragik künstlerischer Existenz in der Moderne, nämlich „in den Wahnsinn hineinwachsen zu wollen“, wie es Arnold Gehlen in der Kunstsoziologie analysierte. Das taugt zwar nicht für ein Plädoyer für Drogenkonsum, belehrt uns aber über die erschütternde Dimension von Lebensnot. Gottfried Benn, selbst Lyriker und Arzt, hatte aber nicht recht, wenn er argumentierte, die Droge sei schlechthin das Medium für Kunst. Weit eher war und ist sie ein Mittel trügerischer Entspannung nach künstlerischen Schöpfungsprozessen. Es ist ja undenkbar, dass Schubert im alkoholisierten Zustand hätte komponieren können, er hätte ja keine Viertelnote auf die richtige Notenzeile zu setzen vermocht. Und gerade in den Biographien von Komponisten war die Neigung zu Alkohol nahezu typisch, von Bach bis Beethoven, war aber nicht „auffällig“ gewesen, da es sich um eine kulturell tolerierte Droge handelte. Goethe hätte keine Zeile diktieren können, würde er es nach seinem Tageskonsum von etwa zwei Liter Wein gewünscht haben.
Die Suche nach neuen kulturellen Regeln
Damit kommt das Problem der Drogenabhängigkeit gemäß der Überlegung von Gottfried Benn auf eine ganz anderen Stufe zu stehen: Wenn Drogen in der Form von Ästhetisierung und Verdrängung eine offenbar erwünschte Dimension phantasievoller Reflexion eröffnen, wie wird eine Gesellschaft damit umgehen, die dank des Wohlstands und des verbesserten Lebensstandards einen erleichterten Zugang zu Drogen erhält, dank Kolonialismus aus dem Angebot wählen kann, die außerhalb ihrer kulturell vermittelten Tradition stehen, und obendrein einen durchaus vergleichbaren Anspruch geltend machen kann wie früher Künstler oder privilegierte Außenseiter? Sollten Drogen, wie oft nachgewiesen werden kann, eine bessere Bewältigung hoher sozialer Komplexität erlauben, eine alternative „Lebenswelt“ darstellen, lösen sich offensichtlich die bisher verbindlichen sozialen Paradigmata auf. Ein Indiz dafür ist wohl in jenem Leitsatz vormaliger Arbeiterbewegung zu sehen, der heute nicht mehr in diesem Sinn formulierbar erscheint: „Ein denkender Arbeiter trinkt nicht, ein trinkender Arbeiter denkt nicht!“ Mit dieser Parole waren die Arbeiter beim Mai-Aufmarsch in Wien vor 1914 um die Wiener Ringstraße gezogen und der „Arbeiter-Abstinenzen-Bund“ war damals das Merkmal eines kulturell-asketischen Selbstverständnisses.
Ein kulturell vermitteltes Indiz für informelle Regelungen bei Kontakten mit Drogen war früher bei Alkoholkonsum deutlich zu erkennen. Für Jugendliche zählte der Alkoholexzess zum Initiationsritus, um in die Welt der Erwachsenen einzutreten. Dieses Ritual, vor allem bei Studentenorganisationen, ist etwa mit der Ablegung einer Führerschein-Prüfung vergleichbar gewesen. Der folgende Katzenjammer hatte die meisten Teilnehmer an diesen informellen Runden belehrt, künftig vorsichtiger mit dieser Droge umzugehen. Die Nachrichten über das so genannte „Koma-Trinken“ bei Jugendlichen zeigen den Wandel. Es ist darin nicht nur eine Veränderung des Verhaltens zu beobachten, das als Ausdruck der Frustration, der Sinnleere, des Perspektivenverlusts zu interpretieren ist, sondern bestürzend ist der Umstand, dass es zu Wiederholungen kommt, zu sonderbaren selbstreferentiellen Subsystemen der individuellen Selbstaufgabe. Es ist die andere Seite der gleichen Medaille, die uns dann über Drogen oder Doping im Sport informiert, um zu Leistungssteigerungen zu kommen.
Liberalisieren, verbieten, reglementieren?
Nun sind die Empörungen von Kulturpessimisten völlig unangebracht. Die Verbreitung verschiedenster Drogen, die in den vergangenen Jahren auch chemisch hergestellt werden konnten, ist Ausdruck gerade jener „Demokratisierungen“ oder Verbreitungen, die früher nur Künstlerkreise für sich beanspruchten, strikt geheim gehaltene Zirkel und Runden. Sie nun über Poliziierungen am Drogenkonsum zu behindern, wird das Problem nicht lösen. Die eigentliche Frage lautet, wie eine laizistische Gesellschaft, die sogar den Wert der Arbeit zu verlieren droht, einerseits eine „Sinnstiftung“ vornehmen kann, andererseits den Umgang mit Drogen erneut ritualisiert? Würde etwa die mondäne Formel der Beschwörung einer Zivil-Religion für eine Zivilgesellschaft eine diesbezügliche Ritualisierung enthalten?
In den letzten Jahren zeigten die gesellschaftspolitischen Ansätze im Kampf gegen Drogenkonsum zwei Wege. Da ist einmal der Versuch unternommen worden, durch spezielle Prohibitionen die Umkehr eines kapitalistischen Individualismus zu propagieren. Dieser Weg war nicht erfolgreich. Der andere Weg, eine aus Amsterdam bekannte völlige Liberalisierung des Zugangs zu Drogen zu versuchen, brachte auch keinen Erfolg. So waren die gesellschaftspolitischen Vorstellungen schnell erschöpft. Beiden ist ein kontrollierter Umgang mit Drogen nicht gelungen. Eigentlich hätte man seit Chicago 1930 wissen können, dass weder Prohibition noch Liberalisierung das Problem lösen, selbst wenn man in der Entkriminalisierung des Zugangs zur Droge einen Erfolg sah. Im Grunde war deutlich geworden, dass unsere sozialen wie kulturellen Lenkungs- und Steuerungssysteme den Aufgaben nicht mehr gewachsen waren. Und oft zeigte sich die Befürwortung völliger Liberalisierung als Eingeständnis, ein drängendes Problem nicht im Griff zu haben. So wenig nun dieses Detail vormaliger gesellschafts- und sozialpolitischer Anliegen – was etwa die Sozialhygiene noch in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts versucht hatte – lösbar erschien, so kann daraus der Schluss gezogen werden, dass insgesamt dieser Bereich staatlicher Lenkungsaufgabe immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde.
Die Tendenz ist deutlich sichtbar, dass aus der alten sozialen Gesetzgebung eine individuell wirksame Kontrollmaßnahme wurde. So ist eine als „allgemein“ zu verstehende soziale Sicherheit und Gesundheitspolitik nicht mehr in dem Umfang wie vor 15 Jahren gewährleistet, da doch die Auffassung zu siegen scheint, die Qualität des Sozialen würde erhalten bleiben, würde man wegen der gestiegenen Kosten sozialer Leistungskataloge individuelle Konsumneigungen reglementieren und kontrollieren.
Der Staat kontrolliert die Gesundheit seiner Bürger
Dieser Wandel des gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses von Staaten begann mit einer Flut wohlmeinender Einschränkungen, denen anscheinend nicht widersprochen werden kann, mögen sie auch an der sozialen Realität vorbeigehen. Angeblich weiß ja ab jetzt der Gesetzgeber, was sozial verträglich oder unverträglich ist, meint aber damit weniger allgemeine Richtlinien einer künftigen Sozialpolitik, sondern den Katalog gebilligten oder zu kontrollierenden Konsums. Insgesamt fallen alle Drogen unter diese Bestimmungen, demnächst auch Butter oder Schweinefleisch, Zucker oder Schokolade, jedenfalls auch Kaffee und Tee und Schlagobers, sollten es ökonomische Interessen zulassen. Damit werden in naher Zukunft die Drogenabhängigen nochmals zum Opfer: Sie erleiden nicht nur ihr individuelles Schicksal weiterhin, sondern erfahren eine soziale Stigmatisierung. Schließlich werden sie noch als Begründung einer autoritären Politik herhalten müssen, nämlich für die Ausweitung sozialer Gesundheitskontrollen, die es eigentlich schwerer haben sollten, ihre Gesetzgebung und Legitimation für soziale Entmündigungen nachzuweisen. Es ist das Szenario einer laizistischen Gesellschaft in der Endphase des Projekts fehlgeleiteter Aufklärung.
Plädoyer für das Ritual?
Bei sozialem Wandel können die genannten negativen Bestimmungen ebenso in einen Vorteil umschlagen. Es kann daran gedacht werden, dass etwa für die Wiederkehr der Rituale plädiert wird und jene gesellschaftlichen Wertvorstellungen eine unerwartete Attraktivität erringen, aus denen Ritualisierungen abgeleitet werden. In dieser hypothetischen Überlegung wird man allerdings auf Schwierigkeiten stoßen, dass diese neuerlich sich wandelnden „modernen“ Gesellschaften eine Übereinstimmung in ihren Wertvorstellungen reproduzieren müssten und eine verbindliche „Wertorientierung“ eintritt, die nicht auf ein soziales „Subsystem“ beschränkt bleibt, wie es ja gegenwärtig der Fall ist.
Und dennoch: Wenn behauptet werden kann, dass die restriktiven Verordnungen zur Eindämmung des Drogenmissbrauchs keine hemmende Wirkung erzielten, so wird im Umkehrschluss eine Freigabe oder Liberalisierung keineswegs die befürchtete Steigerung von Drogenkonsum verursachen. Der einzige Unterschied wird darin liegen, dass über eine kurze Zeit die Informationen über Drogenmissbrauch den Eindruck hinterlassen, dass die Abhängigkeit gestiegen sei, die problematischen Gewohnheiten um sich greifen, aber es sind nur Effekte, wenn ein Phänomen aus der bisherigen gesellschaftlichen Grauzone ans Tageslicht kommt. Die Grade und die Verbreitung der Abhängigkeiten würden recht bald ein recht „stabiles“ Bild bieten und nicht weiter wachsen. Die Prohibition während der 30er Jahre in den USA, wie schon erwähnt, hatte den Abusus von Alkohol eher Attraktivität verliehen als diesen verhindert. Ebenso kann man die Konsequenzen am Beispiel des Dopings im Sport gut analysieren. Die Kontrollen und strengen Regelungen haben eher die Erzeugung noch besserer, noch schwerer zu identifizierenden Pharmazeutika gefördert als eine Verbannung aus dem Leistungssport erreicht. Sollte man Doping generell freigeben, würde zwar kurzfristig ein Anstieg dieses Gebrauchs zu beobachten sein, doch sehr bald würden nach einiger Zeit die die Gesundheit gefährdenden Medikamente und Praktiken zu einer Umkehr raten, zu einer „Normalisierung“ und „Selbstreinigung“. Die Leistung eines Sportlers würde weit mehr im schiefen Licht erscheinen, sollte er seinen Sieg der Einnahme verschiedener Medikamente verdanken und dadurch dauerhaft seine Gesundheit gefährdet haben. Er hätte nur einen „Pyrrhus-Sieg“ errungen. Die vielen Kontrollen und komplizierten Analyse-Verfahren gegen Doping zeigen nämlich weit eindeutiger das problematische Bild eines Synergie-Effektes: Die Doping-Fahndung regt zu immer subtileren Umgehungen der Regeln an und gleichzeitig leitet sie daraus ihre Legitimation ab.
So wird man annehmen können, und das lässt sich parallel zum Konzept gesellschaftlicher Moral nach Emile Durkheim konstruieren, dass Gesellschaften die „Neigung“ zum sozialen „Gleichgewicht“ zeigen, selbst wenn eine „Liberalisierung“ in ihrer „Entkriminalisierung“ als Erleichterung des Zugangs zur Droge kritisiert wird. Es wird zwar die Zahl der Abhängigen immer gleich bleiben oder nur geringen Schwankungen unterliegen, es wird aber auch der Umgang mit Drogen viel bewusster gehandhabt werden – nämlich ähnlich den aus der Geschichte bekannten Mustern.
Verbote alleine schaffen keine Nachhaltigkeit
Es darf dabei das damit verbundene soziale Risiko nicht gering geachtet werden. Wenn die Ergebnisse der Untersuchungen korrekt interpretiert werden, so wird der Zugang zur Droge auch durch soziale Phänomene unterstützt, die nur mittelbar mit dem Problem zu tun haben. Die „Qualität“ und die Vorsicht im Umgang mit Drogen werden nachhaltig von sozialen Faktoren und Fakten bestimmt, gerade für Jugendliche, die das Resultat von Mängeln in der Gesellschaft und im politischen System sind. Offensichtlich ist die Überzeugung einer kreativen Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Zukunft außerordentlich gesunken, aus der empfohlenen Individualisierung entwickelte sich eine Singularität und Fragmentierung des gesellschaftlichen Lebens, weshalb die entwickelten Gesellschaften oft nicht in der Lage zu sein scheinen, für jene Sinnstiftungen aufzukommen, deren Verlust den Drogenmissbrauch förderte. Es ist auch die Frage zulässig, ob das „herrschende“ politische und ökonomische System fähig ist, jene Perspektiven zu repräsentieren, die zu einer Partizipation am öffentlichen Leben anregen? Die Schwächung dieser „vergesellschaftenden“ Faktoren, vielfach erfolgt zusätzlich die Dokumentation der Ohnmacht in den Medien, hatte gerade in den zeitgenössischen Gesellschaften die Flucht in die Droge teilweise verursacht und hat daher die Sinnkrise der jungen Menschen zu verantworten. Es ist ja wirklich jene soziale Kälte eingetreten, die es nicht geben könnte, hätte man die politischen Zielvorstellungen der Demokratie ernsthafter zu erfüllen versucht. Im Bewusstsein blieb nur der zu oft falsch verstandene „Rat“ hängen, individuelle Befreiungen zum Gegenstand des „Lebensentwurfs“ zu wählen, in Wirklichkeit war aber nur eine allgemeine soziale Entbindung eingetreten.
Nun lehrt die Geschichte, dass Gesellschaften zumeist einen Ausweg aus ihrem Dilemma fanden, so dazu die Chance geboten wurde; sei es durch eine Rückbesinnung erzielt worden, also die Aufnahme verloren geglaubter Traditionen, sei es durch die überraschende Bereitschaft zur gesellschaftlichen Kreativität. Es ist also zum Pessimismus kein Anlass. Man wird allerdings nicht vorhersagen können, wie hoch die Kosten dieser Krisenbewältigung sein werden.
Univ.-Prof. Dr. Reinhold Knoll
Institut für Soziologie, Universität Wien
Rooseveltplatz 2, A-1090 Wien
Reinhold.Knoll(at)univie.ac.at