Die Tuberkulosebekämpfung im Wandel der Zeiten

Imago Hominis (2004); 11(3): 193-206
Ermar Junker und Gerhard Wallner

Zusammenfassung

Die Entdeckung des Tuberkuloseerregers durch Robert Koch 1882 beendete den Gelehrtenstreit über die Infektiosität der Tuberkulose und die daraus resultierenden seuchenbekämpfenden Maßnahmen: Terror gegen Kranke bis zur Landesverweisung. Bis ins 20. Jahrhundert fehlten wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung; durch den Bedarf an gesunden Soldaten im 1. Weltkrieg wurden solche Maßnahmen jedoch zur wichtigen staatlichen Aufgabe. Nicht exakt analysierbare epidemiologische Vorgänge, die Milderung der Wohnungsnot und die Verbesserung des Lebensstandards, letztlich die Möglichkeit einer wirksamen medikamentösen Therapie machten die Tuberkulose zu einer selten auftretenden Erkrankung.

Schlüsselwörter: Tuberkulose, Epidemiologie, Geschichte, Seuchenbekämpfung

Abstract

Discovery of the Bacillus tuberculosi in 1882 by Robert Koch ended the dispute about the infectiosity of tuberculosis and the appropriate measures against the disease: terrorizing the ill and banning them from the country. Up to the 20th century no causal therapies existed. The need of healthy soldiers in the 1st World War made it an important state task to fight also against tuberculosis. Social improvements, reducing housing shortages, increasing living standards initiated a decrease of the disease, lastly by introducing proper medical treatment.

Keywords: Tuberculosis, Epidemiology, History, Epidemic Treatment


Einleitung

Um eine Infektionskrankheit erfolgreich bekämpfen zu können, sind umfassende Kenntnisse über den Übertragungsvorgang, das Krankheitsbild und den Krankheitsverlauf unumgänglich. Diese Voraussetzungen waren im Tuberkulosegeschehen lange Zeit nicht gegeben. Das unterschiedliche Auftreten, die Krankheitsvielfalt und der sehr variable Krankheitsverlauf vom schwersten Erscheinungsbild mit rasch eintretendem Tod bis zur kaum erkennbaren minimalen tuberkulösen Läsion im Organismus, haben zu vielen falschen Erkenntnissen und wissenschaftlichen Irrtümern geführt. Oft siegte die Theorie über die praktische Erfahrung.

So ist es nicht verwunderlich, dass noch im Jahre 1883 der damalige Vorstand der Laryngologischen Abteilung der Wiener Poliklinik, Johann Schnitzler (1835 – 1893), der Vater des Dichters und Arztes Arthur Schnitzler (1862 – 1931), in der „Wiener Medizinischen Presse“ schrieb, dass die Übertragung der Tuberkulose von einem Individuum auf das andere zu den seltensten Vorkommnissen gehöre. Robert Koch (1843 – 1910) hatte bereits am 24. März 1882 in Berlin seine Entdeckung des Tuberkuloseerregers bekannt gegeben. Der Wiener Pathologe Anton Weichselbaum (1845 – 1920) war Zeuge dieses denkwürdigen Vortrags. Er wies 1884 als Erster die Tuberkelbazillämie als Ursache der disseminierten Miliartuberkulose nach. Leopold Schrötter (1837 – 1908) und Anton Weichselbaum waren vor dem 1. Weltkrieg die bedeutendsten Persönlichkeiten im Kampfe gegen die Volkskrankheit Tuberkulose.

Nichtsdestoweniger vertrat der berühmte Berliner Pathologe Rudolf Virchow (1821 – 1902) die Ansicht, dass der Tuberkel neoplastischen Charakter habe und die Heredität ein wesentlicher Faktor sei. Er unterschied streng zwischen Tuberkulose, Phthise und Skrofulose, lehnte ein einheitliches Tuberkulosegeschehen ab und setzte sich so in wissenschaftlichen Gegensatz zu Robert Koch. Bis zum Jahre 1884 war die Tuberkulose in den medizinischen Statistiken der Stadt Wien in der Rubrik „Miasmatische Erkrankungen“ zu finden.

Prähistorische Funde lassen den Schluss zu, dass die Tuberkulose bei wechselnder Intensität stets ein treuer Begleiter der Menschheit war. Auch in Mitteleuropa hat sie als endemisch auftretende Infektionskrankheit durch Jahrtausende zahlreiche Opfer gefordert.

Zu jeder Zeit wurden Gesundheit, Krankheit und Tod als schicksalhaft, als Gnade oder Strafe höherer Mächte empfunden. Daher geben in den verschiedenen Kulturkreisen Gebete, Beschwörungen, Vermächtnisse, Kirchenspenden oder Opfergaben bis heute Hoffnung auf Erhaltung der Gesundheit oder auf Heilung von einer Krankheit. Nach wie vor stehen als älteste Präventivmaßnahmen Amulette oder Maskottchen hoch im Kurs. Der Glaube, Krankheiten und Seuchen seien eine Strafe Gottes, hat jedoch auch viel Leid über die Menschheit gebracht.

Die Flucht vor den Erkrankten oder das Vertreiben der Kranken aus der Gemeinschaft waren stets probate Vorsorgemaßnahmen. Darüber wird schon aus der Antike berichtet. Nicht nur zu Pestzeiten flohen das Kaiserhaus, höher gestellte Persönlichkeiten, aber auch Ärzte aus den gefährlichen Epidemiegebieten, während die armen Einwohner dem Schutze Gottes anvertraut wurden. Die Leprakranken wurden ausgesegnet und für tot erklärt. Völlig rechtlos vegetierten sie am Stadtrand in den Leprosorien, mussten auffällige Kleider mit Schellen tragen und durften nur zu bestimmten Zeiten betteln gehen.

Das Isolieren ansteckend Kranker ist auch heute noch eine wichtige Maßnahme der Seuchenbekämpfung. Quarantänestationen waren bedeutende Einrichtungen zur Verhinderung der Einschleppung vor allem der Pest. Die vom Kaiser Karl VI. 1728 angeordnete Errichtung eines Pestkordons war die aufwendigste, großzügigste und wirkungsvollste Maßnahme gegen das Eindringen einer Seuche in der Medizingeschichte Österreichs. Dem an der österreichisch-türkischen Grenze mit Wachthäusern und Kontumazanstalten versehenen, von der Kaiserin Maria Theresia später noch weiter ausgebauten, 1500 km langen Pestkordon verdanken die österreichischen Erbländer, dass an deren Grenzen zahlreiche Pestwellen abgehalten werden konnten. 1713 war für Wien das letzte Pestjahr.

Tuberkulose in der Antike

Erst die Entdeckung des Tuberkuloseerregers durch Robert Koch beendete den zweitausend Jahre währenden wissenschaftlichen Streit über die Infektiosität dieser Krankheit. Zur hippokratischen Zeit galt die Tuberkulose als ansteckende und höchst gefährliche Erkrankung. In der hippokratischen Schrift wird eine stürmisch einhergehende Tuberkuloseepidemie auf der Insel Thasos beschrieben. Hippokrates (ca. 460 – 370 v. Chr.) lehnte in seinen Abhandlungen über epidemische Krankheiten alle überirdischen Einflüsse ab und betrachtete den Menschen als Glied des Kosmos, dessen Leben vom Wetter, Wind, Wasser, von der Nahrung und der Örtlichkeit beeinflusst wird. Tägliche körperliche Übungen, maßvolles Essen und Trinken, Körperpflege sowie Aufenthalt in klimatisch günstigen Gegenden waren die gesundheitsfördernden Maßnahmen dieser Zeit.

Bei den Römern dürfte die Tuberkulose einen Zustand der stabilisierten Durchseuchung erreicht haben. Lediglich für die wohlhabenden Kranken gab es klimatisch günstige Kurorte zur Behandlung. So schickte Claudius Galenus (129 – 200) die Kranken nach Tabiase am Fuße des Vesuvs. Durch religiöse Prozessionen hoffte man, Seuchen zu verhindern oder zu vertreiben. Die Römer übten die Heilkunde selbst fast nicht aus. Um Kranke oder Behinderte kümmerte man sich wenig, nicht gewünschte Neugeborene wurden beseitigt. Andererseits legten die Römer großen Wert auf persönliche Hygiene und allgemeine sanitäre Maßnahmen, wie den Bau von Wasserleitungen, Abwasserkanälen und die Trockenlegung von Sümpfen.

Bei den Herrscherfamilien der Wandervölker war die Schwindsucht eine häufig zum Tode führende Erkrankung. So starb Attila im Jahre 453 in der Hochzeitsnacht an einem Blutsturz und der große Hunnenzug fand sein Ende. Römisch-byzantinische Würdenträger gaben diesen Stammesfürsten der Völkerwanderung schriftliche Ratschläge für Lungenschwindsüchtige.

Tuberkulose im Mittelalter

Im Mittelalter war die Bevölkerung Zentraleuropas vielen Plagen und Seuchen ausgesetzt. Kriege verwüsteten das Land, Hungersnöte und Seuchen forderten viele Todesopfer. Die Lepra und wahrscheinlich auch die Tuberkulose waren bereits zu bodenständigen, endemisch auftretenden Krankheiten geworden. Die medizinischen Kenntnisse und das hygienische Verhalten hatten einen Tiefstand erreicht. Die medizinischen Kenntnisse der frühen Hochkulturen waren verloren gegangen oder wurden als heidnisch abgelehnt. Die Sanitätsbehörden standen dem Seuchengeschehen hilflos gegenüber. Die Pflanzenheilkunde stand im Vordergrund. Man vertraute auf die Fürsprache der hl. Jungfrau und vieler Heiligen. Im Gegensatz zur Antike führte das im Christentum verankerte karitative Wirken zur Gründung christlicher Hospize, die sich der Langzeitbehandlung der Kranken und der Betreuung der Armen und Schwachen widmeten. Von großer Bedeutung war der Orden der Hospitalbrüder des Heiligen Geistes. Ihre vorbildlichen Einrichtungen waren beispielgebend für viele andere Orden, deren wichtigste humane Aufgabe die Krankenpflege war und heute noch ist.

Damals erreichte die Skrofulose eine besondere Bedeutung als Königskrankheit. Vor allem die französischen und englischen Könige muteten sich eine göttliche Heilkraft zu, die Skrofulösen, die man auch als „Schweinegesichtige“ bezeichnete, durch Handauflegen heilen zu können. Diese Touchierungen erfolgten meistens bei Königskrönungen. Die Berührung geschah auch mit einer Münze, die die Kranken behalten durften. Zur Krönung Ludwigs XIV. kamen so viele Skrofulöse nach Reims, dass, um diesen Obdach zu gewähren und um sanitäre Übelstände zu vermeiden, im Jahre 1645 ein frommes Fräulein ein Isolierspital stiftete. Dieses war das erste Tuberkulosekrankenhaus der Welt. Die letzte offizielle Handauflegung fand im Jahre 1824 durch Karl X., den letzten König von Frankreich, statt. Berühmte Ärzte wie Alibert und Dupuytren sollen die Auswahl der Patienten getroffen haben.

Im Mittelalter waren die therapeutischen Bemühungen mit viel Zauberwerk verbunden. Das Behandlungsangebot war sehr vielfältig und belastend für die Kranken. Präventivmaßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung der Tuberkulose gab es nicht. Die hildegardischen Schriften der Salierzeit stützen sich auf bodenständige Erkenntnisse. Es muss schon damals die Schwindsucht bzw. die Phthise sehr verbreitet und ein bekannter Krankheitsbegriff gewesen sein. So wurde im Leipziger Codex 1119 die „ptysis“ zusammen mit elf anderen ansteckenden Krankheiten angeführt.

Im ausklingenden Mittelalter widmete der berühmte italienische Arzt Girolamo Fracastoro (1478/1483 – 1553) der Phthise in seinem Werk „De morbis contagiosis“ ein eigenes Kapitel. Er schrieb auch ein berühmtes Gedicht über die Syphilis, ein von ihm erfundener Name für diese Geschlechtskrankheit. Er war der Auffassung, dass durch Keime (seminaria) die Krankheiten übertragen werden, und lehnte astral oder miasmatisch bedingte Krankheitsursachen ab.

Tuberkulose in der Neuzeit

Bereits im 18. Jahrhundert war die Tuberkulose in Europa stark verbreitet. Kranke, vor allem aus England, kamen nach Neapel und Sizilien, um dort Heilung zu finden. Dadurch soll es dort zu einer Tuberkuloseepidemie gekommen sein, die zu drakonischen behördlichen Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung der Tuberkulose führte. Die ersten Anordnungen traf der spanische König Ferdinand VI. im Jahre 1751. Diese waren gegen alle Infektionskrankheiten gerichtet, die Phthisis war als eine Hauptgruppe angeführt. 30 Jahre später erließ Philipp IV. von Neapel und Sizilien ein weiteres Edikt, das sich eng an das spanische anschloss und sich nur gegen die Tuberkulose richtete. Die Überschrift lautete: „Istruzione al Publico sul contagio della Tisichezza“. Es wurde von der Universität Neapel und einem Ärztekollegium ausgearbeitet. Nach diesem Edikt mussten alle Ärzte und Pflegepersonen jeden Verdacht und jede Erkrankung an Schwindsucht melden. Eine Unterlassung wurde mit 100 Dukaten Geldstrafe, mit Kerkerhaft oder Verbannung geahndet. Die Kranken konnten zwangsweise hospitalisiert oder ausgewiesen werden. Die Betten, Kleider und Wäschestücke der Verstorbenen mussten verbrannt werden, aber auch Türen und Fenster, die Fußböden und Wandbelege mussten entfernt sowie Häuser abgerissen werden. Der Besuch von Kranken war verboten. Ähnliche strenge Sanitätsgesetze wurden auch von anderen italienischen Städten und Staaten übernommen. Daher bekam auch der tuberkulosekranke Frédéric Chopin (1810 – 1849) diesen Terror gegen die Kranken zu spüren, als er Heilung suchend eine Mittelmeerreise antrat, überall abgewiesen wurde und erst in einem Kloster auf Mallorca Zuflucht fand. Auf einem Schweinetransportschiff musste er dann nach Barcelona fliehen. Durch einen Blutsturz als Schwindsüchtiger erkannt, setzte er dann seine Flucht nach Paris fort. Willkürakte und Erpressungen dürften bei den damaligen medizinischen Kenntnissen über die Schwindsucht keine Seltenheit gewesen sein.

Im Gegensatz dazu war man in Nord- und Mitteleuropa allgemein der Auffassung, die Phthise sei eine endogen bedingte Krankheit, und man neigte mehr zu der Anschauung, dass eine Infektionskrankheit mit Gewalt allein nicht zu bekämpfen sei. Tragisch war das Schicksal des berühmten französischen Arztes René Théophile Hyacinthe Laennec (1781 – 1826). Er war der Erfinder des Stethoskops. Er vertrat die Auffassung, dass die Tuberkulose eine unheilbare, schicksalhaft verlaufende, endogen bedingte, bösartige, nicht infektiöse Krankheit sei und starb daran.

Auch in der beginnenden Neuzeit gab es im zentraleuropäischen Raum keine wirksamen Maßnahmen zur Verhinderung einer tuberkulösen Erkrankung. Das Behandlungsangebot war sehr vielfältig und stark von der Volksmedizin beeinflusst. Milch verschiedenster Tiere, spezielle Kräuter, Myrrhe, gelber Bernstein, Fuchslunge, Geheimmittel aus menschlichem Blut, Balsamika, Quecksilber und auch Opium kamen zur Anwendung. Später setzte die Zeit der Aderlässe und Blutegelkuren ein, um die falsche „Säftemischung“ zu beseitigen. Viele in der damaligen Zeit entdeckte Substanzen und neue aus Übersee eingeführte Produkte wurden zur Heilbehandlung der Schwindsüchtigen eingesetzt und als erfolgreich gepriesen.

Antikontagionisten gegen Kontagionisten

Die Bemühungen, den Tuberkulösen zu helfen, wurden durch den Streit über die Kontagiosität der Schwindsucht erschwert. Praktische Erfahrungen standen in krassem Gegensatz zu falschen wissenschaftlichen Theorien. Besonders in der Wiener Medizinischen Schule war das alte Gedankengut über Vererbbarkeit, Konstitution und Mangelerkrankung als Entstehungsursache der Tuberkulose tief verwurzelt. Obwohl sich die Kenntnisse über das Krankheitsgeschehen verbesserten (so führte um 1830 Lucas Schönlein (1793 – 1864) den Begriff „Tuberkulose“ in die Wissenschaft ein), gab es weiterhin keine wirksame Therapie oder Schutzmaßnahmen gegen diese Volkskrankheit. Man erkannte die Unzulänglichkeit aller Maßnahmen und resignierte.

Zwangsanstalten für Tuberkulose

An diesem Tiefpunkt erklärte im Jahre 1856 Hermann Brehmer (1826 – 1899) die Tuberkulose für heilbar. Er glaubte an so genannte „immune Orte“, Gebiete, wo die Phthise nicht vorkommen kann, wo sie daher auch heilen muss. Er gründete das Sanatorium „Görbersdorf“, das 1871 eröffnet wurde. Mit seinem Mitarbeiter Peter Dettweiler (1837 – 1904) forderte er eine konsequente Behandlung in einer geschlossenen Anstalt mit langen Liegekuren, straff geführtem strengstem Reglement bei ausgiebigem Gebrauch von Cognac. So nahm das Heilstättengeschehen mit seinen Freiluftbehandlungen seinen Anfang. Weltweit wurden Tuberkulose-Heilstätten errichtet, die meist nur von reichen Leuten aufgesucht werden konnten. Dieses vielfach harte, teilweise erfolgreiche (später von den Sozialversicherungsinstituten übernommene) Behandlungssystem beherrschte über hundert Jahre die Tuberkulosekranken.

Die österreichische Monarchie wurde erst sehr spät von der Heilstättenbewegung erfasst. Die schwer kranken Tuberkulösen lagen in den allgemeinen Krankenhäusern. So beherbergte die Rudolfstiftung in Wien im Jahre 1884 1000 Tuberkulosekranke. Im Jahre 1898 konnte die erste Volksheilstätte, eine vorbildliche Einrichtung, die auch mittellose Kranke aufnahm, bei Alland in der Nähe Wiens eröffnet werden. Es war dies das Lebenswerk von Leopold Schrötter. Nachdem er von der öffentlichen Hand im Stich gelassen worden war, konnte er mit Hilfe des im Jahre 1890 von ihm gegründeten ersten antituberkulösen „Vereins zur Errichtung und Erhaltung einer Volksheilstätte in der Umgebung Wiens“ diese Behandlungsstätte errichten. Er forderte schon im Jahre 1890, dass jedes Individuum ein unbestrittenes Recht auf Behandlung habe und der soziale Kampf gegen die Tuberkulose eine Aufgabe des Staates sei – ein Ziel, das erst nach dem 2. Weltkrieg in Österreich mit Hilfe der Sozialversicherung erreicht werden konnte.

Doch war Österreich schon ein halbes Jahrhundert früher mit der Errichtung von Behandlungsstätten für unbemittelte Tuberkulöse der Welt beispielhaft vorangegangen. So wurde schon im Jahre 1844 das „Hospital zum Pilgrim“ für unbemittelte Brustkranke in Gleichenberg eröffnet. Im Jahre 1856 konnte in Bad Hall eine Anstalt für skrofulöse Kinder errichtet werden. Im Jahre 1871 wurde ein Verein zur unentgeltlichen Verpflegung Brustleidender auf dem Lande gegründet mit Heimen in Kierling und Roznau. Im Jahr 1888 gelang es dem äußerst verdienstvollen Pädiater Alois Monti (1839 – 1909), auf Vereinsbasis in San Pelagio bei Rovinj ein großartiges Kinderspital für skrofulöse und rachitische Kinder zu bauen. Viele Kinderheime folgten, die – in klimatisch günstigen Gegenden gelegen – den Zweck hatten, gesundheitlich gefährdete Kinder, oft aus tuberkulösem Milieu, durch Wochen und Monate zu betreuen. Erst in den letzten Jahrzehnten haben diese für die Präventivmedizin so wichtigen Einrichtungen an Bedeutung verloren. Sie wurden meist von humanitären Vereinen gegründet, kamen in Krisenzeiten in finanzielle Schwierigkeiten und wurden dann von Gebietskörperschaften oder Sozialversicherungsinstituten übernommen. Mit karitativen Maßnahmen und Almosengeben kann wohl großes Leid gemildert, eine Seuche jedoch nicht wirksam bekämpft werden.

Die Tuberkulose im 18. und 19. Jahrhundert

Im Jahre 1754 ordnete Kaiserin Maria Theresia die erste allgemeine Volkszählung an. Diese „Seelenkonskription“ ergab, dass Wien zu diesem Zeitpunkt 175.460 Einwohner zählte. Die seit damals erstellten Todesursachenstatistiken geben Zeugnis, dass bis nach dem l. Weltkrieg in der Gesamtmortalität die Tuberkulose 20% – 25% betragen hatte.

Die von Westen nach Osten fortschreitende, der Industrialisierung folgende große europäische Tuberkulosewelle hatte im Jahre 1871 in Wien mit 909 Todesfällen auf 100.000 Einwohner ihren Höhepunkt erreicht. Um 1885 hatte Österreich den Gipfel der Tuberkulosesterblichkeit mit 390 auf 100.000 Einwohner. Seither sind innerhalb der Grenzen unseres heutigen Staates 1,2 Millionen Menschen dieser Seuche zum Opfer gefallen. Während der beiden Weltkriege kam es zu einem vorübergehenden Ansteigen der Tuberkulosemortalität (Abbildung I und II).

Nach der Entdeckung des Tuberkuloseerregers durch Robert Koch erfolgte ein völliges Umdenken bei Ärzten, Behörden und in der Bevölkerung. Die Tuberkulose war als gefährliche Infektionskrankheit entlarvt, seuchenhygienische Maßnahmen waren die Konsequenz. Das „Wiener medicinische Doctoren-Collegium“ (J. Hein, E. Kammerer, H. Kowalsky, L. Schrötter, A. Weichselbaum) arbeitete allgemeine und spezielle prophylaktische Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose aus und forderte die Schaffung eines Asyls für Brustkranke. Spezielle Anliegen an die persönliche Hygiene waren Lüftung der Wohnräume, Verwendung von Spuckschalen, desinfizierende Maßnahmen, einstündiges Kochen der Wäsche, Isolierung der Schwerkranken, Entfernung der Säuglinge und Kinder vom Kranken, generelle Vermeidung des Trinkens von Milch perlsüchtiger Kühe, prinzipielle Verwendung nur gekochter Milch oder gekochten Fleisches für Säuglinge und Kinder.

Die Wiener Ärzte hatten damals schon gute Kenntnisse über die Möglichkeit der Verhinderung der Weiterverbreitung der Tuberkulose. Doch die Behörden ließen sich Zeit. Erst mit dem Erlass der k. k. n. ö. Statthalterei vom 10. März 1899 – „Prophylaktische Maßnahmen gegen die Verbreitung der Tuberkulose“ – fanden die Vorschläge der Ärzteschaft teilweise ihre behördliche Basis. Eine landesweite gesetzliche Verankerung erfolgte erst mit dem Erlass des Ministeriums des Inneren vom 14. Juli 1902, der den politischen Landesbehörden Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose befahl und eine beschränkte Anzeigepflicht anordnete. So enthält die Verordnung des k. k. Statthalters im Erzherzogtum Österreich unter der Enns vom 12. Mai 1903 Bestimmungen über die Anzeige- und Desinfektionspflicht, über sanitäre Maßnahmen für die Wohngenossen, über periodische Revisionen von Massenquartieren und Schankbetrieben, über ein Beschäftigungsverbot von ansteckenden Tuberkulösen in Lebensmittelbetrieben oder im Gastgewerbe. Dagegen wurde die Tuberkulose nicht ins Epidemiegesetz 1913 aufgenommen, da zu dieser Zeit fast alle Menschen mit Tuberkulose infiziert waren, wie Sektionsbefunde zeigten.

Tuberkulosebekämpfung als kriegswirksame Maßnahme

Der l. Weltkrieg führte zu einem Ansteigen der Tuberkulose, und kriegsbedingte Maßnahmen erschienen erforderlich. Bei der Gründung der „Österreichischen Vereinigung zur Bekämpfung der Tuberkulose“ im Jahre 1916 wies Universitätsprofessor Hofrat Ritter Jaksch von Wartenhorst darauf hin, dass durch die Tuberkulose 540.000 Soldaten für den Kriegseinsatz verloren gingen. Im darauf folgenden Erlass des Ministeriums des Inneren vom 2. Jänner 1917 werden wichtige Weichen für die Tuberkulosebekämpfung gestellt, Zweck und Aufgaben der Tuberkulosefürsorgestellen sowie Möglichkeiten der sozialen Fürsorge dargelegt. Es wurde angeordnet, nach Infektionsquellen zu forschen und diese unschädlich zu machen sowie die Bevölkerung aufzuklären, wie sie sich selbst vor einer Infektion bewahren könne. Die Tuberkulosefürsorgestellen hätten die Weisungen der obersten Sanitätsbehörde zu beachten und könnten materielle Unterstützung aus Staatsmitteln in Anspruch nehmen. Daraufhin entstanden im ganzen Staatsgebiet viele neue Tuberkulosefürsorgestellen und die vielen privaten Einrichtungen wurden Anstalten der öffentlichen Gesundheitspflege. Dieser wichtige Erlass bildete die Grundlage der Tuberkulosebekämpfung bis zum Jahre 1938.

Nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich wurde die Tuberkulosebekämpfung den staatlichen Gesundheitsämtern als Pflichtaufgabe übertragen. Genaue Vorschriften regelten alle Details der Tuberkulosebekämpfung, die Behandlung der Tuberkulosekranken und deren finanzielle Unterstützung. Bis zum Tuberkulosegesetz 1968 blieben gemäß dem Rechtsüberleitungsgesetz 1945 diese deutschen Rechtsnormen teilweise in Geltung.

Zu einem Meilenstein der Tuberkulosebekämpfung in Österreich wurde das Tuberkulosegesetz 1968. In diesem Gesetzeswerk werden die Behandlungs- und Meldepflicht geregelt, die Aufgaben und Pflichten der Bezirksverwaltungsbehörden festgelegt, Maßnahmen gegen behandlungsunwillige, die Mitmenschen gefährdende uneinsichtige Tuberkulöse ermöglicht und die Durchführung von Reihenuntersuchungen zur Aufdeckung bisher unerkannter Tuberkulosekranker angeordnet. Die Ausarbeitung dieses Sanitätsgesetzes erfolgte in enger Zusammenarbeit mit der „Österreichischen Gesellschaft für Lungenerkrankungen und Tuberkulose“. In den folgenden Jahren konnten die gesetzlichen Bestimmungen der Entwicklung der Tuberkulose angepasst, der internationale Standard der Tuberkulosebekämpfung gewahrt und nicht mehr notwendige Maßnahmen abgebaut werden.

Erfolgreiche Tuberkulosebekämpfung in schwierigen Zeiten

Nach dem l. Weltkrieg mussten jedoch wegen der großen Zahl von Tuberkulosekranken die Behandlungseinrichtungen erweitert und die Maßnahmen zur Tuberkulosebekämpfung verstärkt werden. Doch stand das unbeschreibliche Wohnungselend im Vordergrund. So wurde Wien zur Metropole der Tuberkulose in Österreich. Sie erhielt den Namen „Wiener Krankheit“. Die gepriesene und viel besungene Kaiserstadt hatte schon vor dem Krieg die kleinsten und teuersten Wohnungen. Im Jahre 1919 hatten nur 8% aller Wohnungen ein eigenes WC und nur 5% eine eigene Wasserleitung. Gas war nur in 14% und das elektrische Licht nur in 7% der Wiener Wohnungen eingeleitet. 73% des Wohnbestandes waren Kleinstwohnungen bis zu 28 m².

In Wien starben während des l. Weltkrieges 46.956 Menschen an Tuberkulose. In den Nachkriegsjahren brachten ausländische Hilfsorganisationen notleidenden Kindern Lebensmittel und Kleider. Allein im Jahre 1920 fanden 34.145 Wiener Kinder liebevolle Aufnahme in der Schweiz, in Deutschland, Italien, Norwegen, Holland, Schweden und der Tschechoslowakei. Der im Jahre 1920 zum Stadtrat ernannte Anatomieprofessor Julius Tandler (1869 – 1936) sagte zu seinem Mitarbeiter Richard Berczeller: „Die TBC ist sicher durch den Koch’schen Bazillus verursacht. Aber in Wirklichkeit ist sie die Krankheit der Armen. Der Bazillus findet den günstigsten Nährboden in den kleinen, dicht gedrängten Arbeiterwohnungen, in die sich kein Sonnenstrahl verirrt.“ Der Kampf gegen den Pauperismus wurde zu einem Feldzug gegen Krankheit und Siechtum. Auch der verdienstvolle Oberstadtphysikus von Wien, Dr. August Böhm (1865 – 1931), stellte fest: „Die Tuberkulose ist eine Wohnungskrankheit. Gesunde, sonnige und luftige Wohnräume sind ein Machtmittel gegen die Tuberkulose“. Doch noch im Jahre 1937 hatten 75% der schwer kranken Tuberkulösen keinen eigenen Schlafraum und 11% kein eigenes Bett, obwohl bis zum Jahre 1934 63.736 „Gemeindewohnungen“ für 220.000 Menschen geschaffen wurden, eine kommunale Leistung, die weltweite Anerkennung fand.

Die Verbesserung des Lebensstandards, die Erziehung zur persönlichen Hygiene, die günstigeren Wohnverhältnisse, die öffentlichen Maßnahmen der Tuberkulosebekämpfung und nicht zuletzt die Fortschritte bei der konservativen und chirurgischen Behandlung dieser Infektionskrankheit, die auch der ärmeren Bevölkerungsschicht nicht versagt war, bildete sich die Tuberkulose in Österreich bis zum 2. Weltkrieg kontinuierlich zurück. Trotz zahlreicher Heilstätten und Tuberkuloseabteilungen war es nicht möglich, alle Kranken stationär zu behandeln. Oft gab man nur den „Leichtlungenkranken“ die Chance, eine Heilstättenbehandlung zu absolvieren, die „Schwerlungenkranken“ blieben in ihren Wohnungen zurück, verstarben dort oder in einem allgemeinen Krankenhaus. So blieb die Wohnung weiterhin die wichtigste Brutstätte der Tuberkulose. 80% aller Neuinfektionen erfolgten im Kindesalter. Dennoch gab es in der Zwischenkriegszeit viele Lichtblicke bei den Bemühungen, die Tuberkulose einzudämmen. Es wurden neue Tuberkulosefürsorgestellen gebaut, bei der Wohnungsvergabe hatten die Tuberkulösen ein Vorrecht und viele neue Behandlungsstätten wurden von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsinstituten geschaffen. Die Lungenheilstätte Baumgartner Höhe und die großen Lungenpavillone im Krankenhaus Lainz und Wilhelminenspital entsprachen dem modernsten Stand der Lungentherapie. Fortschrittliche Sozialgesetze befreiten die Arbeitnehmer vom Almosennehmen im Krankheitsfall. Aus trostlosen Asylen für sterbende Tuberkulöse und aus abgelegenen Isolierbaracken schufen in allen Teilen Österreichs Sozialversicherungsinstitute menschenfreundliche Behandlungsstätten. Durch die bessere Erfassung der ansteckenden Tuberkulösen konnte verhindert werden, dass Pflegekinder oder Wöchnerinnen in deren Wohnungen gelangten. In den Schulen wurden Tuberkulin-Reihentests eingeführt, um die mit Tuberkulose infizierten Kinder feststellen zu können. Tuberkulinproben sollten auch die Aufnahme von an Tuberkulose erkrankten Kindern in allgemeinen Heimen und Horten verhindern und eine Erkennung im Frühstadium mit besseren Heilungsaussichten ermöglichen.

Nur zaghaft erfolgten die ersten Röntgenreihenuntersuchungen zur Aufdeckung bisher klinisch nicht erkannter Tuberkulöser. Mit zahlreichen Aufklärungsschriften informierten die Sanitätsbehörden, Sozialversicherungsträger und antituberkulöse Vereine die Bevölkerung über die Gefahren der Tuberkulose und gaben Verhaltensregeln für ein gesundes Leben. Viel Wert wurde auf Sport, Wandern, Schwimmen, vernünftiges Essen, Alkoholabstinenz und gesunde Freizeitgestaltung gelegt. Da dies auch von der Bevölkerung angenommen wurde, dürfte sich dadurch der allgemeine Gesundheitszustand und die körpereigene Abwehrkraft gegen Tuberkulose gebessert haben.

Pionierleistungen der Arbeitsmedizin

Die größte Pionierleistung auf dem Gebiete der Gesundheitsvorsorge erbrachte die Arbeitsmedizin. So beschrieb der Stadtarzt von Annaberg und Hüttenfachmann Georgius Agricola (Georg Bauer, 1494 – 1555) in seinem Werk „De re metallica“ (1546) die Leiden der Bergarbeiter und die Gefahren des Quecksilbers und des Bleis. Schon im theresianischen Österreich wurden Maßnahmen zum Schutze der Bergarbeiter getroffen und Werksbader eingestellt. Trotz zahlreicher arbeitsmedizinischer Bestimmungen für bestimmte Berufe musste der Großteil der Bevölkerung unter äußerst gesundheitsschädlichen Bedingungen ihre Arbeit verrichten. So ist es nicht verwunderlich, dass noch im Jahre 1896 75,0% der Kamm- und Fächermacher im Durchschnittsalter von 31,6 Jahren, die Kleidermacher zu 72,3% im Durchschnittsalter von 29,6 Jahren und die Schuhmacher in 71,2% im Durchschnittsalter von 29,1 Jahren an Tuberkulose verstarben, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, vor allem durch Arbeitnehmerschutzgesetze im 20. Jahrhundert waren wichtige Voraussetzungen für einen Rückgang der Tuberkulose.

Tuberkulosebekämpfung durch Impfungen

Im Jahre 1768 führte der von Maria Theresia herbeigerufene holländische Impfarzt Jan Ingen-Housz (1730 – 1799) die ersten offiziellen Pockenimpfungen in Österreich durch. Die Impferfolge auch bei anderen Infektionskrankheiten gaben Hoffnung, einen Impfstoff gegen Tuberkulose zu finden. Zahlreiche Forscher bemühten sich darum. Den französischen Forschern Guerin und Calmette gelang es, einen anwendbaren Impfstoff herzustellen, und im Jahre 1921 die ersten oralen Impfungen in Paris durchzuführen. (BCG = bacille Calmette-Guerin). Es gab von Beginn an große Widerstände gegen diese Impfung. Durch eine mit einem virulenten Stamm kontaminierte BCG-Kultur kam es im Jahre 1930 zur so genannten „Lübecker Katastrophe“, bei der 72 geimpfte Neugeborene starben.

Beeindruckt von den Bemühungen und Erfolgen in den skandinavischen Ländern, und den Empfehlungen der internationalen Gesundheitsorganisationen nachkommend, wurden im Jahre 1948 die generellen BCG-Impfungen in Österreich eingeführt und bis zum Jahre 1989 4,256.208 Personen, darunter 2,414.925 Säuglinge und Kinder, im gesamten Bundesgebiet geimpft. Da durch den Rückgang der Kindertuberkulose kaum mehr ein Impferfolg zu erwarten war und das Risiko, einen Impfschaden zu erleiden, größer wurde als die Möglichkeit, an Tuberkulose zu erkranken, sprach der Oberste Sanitätsrat im Jahre 1989 die Empfehlung aus, die generellen Säuglingsimpfungen einzustellen und nur mehr gezielte Impfungen bei besonders tuberkulosegefährdeten Personen durchzuführen. In Wien starben drei Kinder an einer BCG-Tuberkulose. Aus epidemologischer Sicht hatte die BCG-Impfung keinen Einfluss auf die Entwicklung der Tuberkulose.

Im 2. Weltkrieg erreichte nach einem langsamen Anstieg die Tuberkulose erst im Jahre 1945 ihren Höhepunkt. Wie nach dem l. Weltkrieg ging die Tuberkulosemortalität, bedingt durch die Übersterblichkeit während der Kriegsjahre, in den ersten Nachkriegsjahren sehr rasch zurück.

Die folgenden Jahre waren gekennzeichnet von einem gemeinsamen, bewundernswerten Bemühen der Sanitätsbehörden, der Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträger, eine baldige Ausrottung der Tuberkulose zu erreichen. Die stationären Tuberkulosebehandlungsstätten wurden auf einen modernen internationalen Standard gebracht, die ambulanten Einrichtungen zur Bekämpfung der Tuberkulose entscheidend verbessert und durch die Einführung wirksamer Tuberkulosemedikamente den Kranken – falls die Zerstörungen in den befallenen Organen nicht zu ausgedehnt waren – eine fast 100%-ige Heilungschance gegeben.

Kampf gegen die Rindertuberkulose

Unter großem Aufwand gelang es auch, die Rindertuberkulose in Österreich nach dem 2. Weltkrieg auszumerzen. Der alte Spruch „Rindertuberkulose = Kindertuberkulose“ verlor seine Geltung. Der Nobelpreisträger Emil Behring (1854 – 1917) schrieb im Jahre 1903/1904 seine zwei berühmt gewordenen Hauptsätze nieder, wonach die Säuglingsmilch die Hauptquelle für die Schwindsuchtentstehung sei und dass die Tuberkulose der Erwachsenen das Ende vom Lied sei, das dem Kinde an der Wiege gesungen wird. Keinesfalls traf dies für Wien zu. A. Ghon (1866 – 1936) konnte durch Sektionsergebnisse beweisen, dass tuberkulöse Primärinfektionen im Bereich des Verdauungstraktes verschwindend selten sind und die Lunge die wichtigste Eintrittspforte ist. Das seltene Auftreten der Darmtuberkulose und der bovinen Stämme in der Wiener Bevölkerung wurde mit der verbreiteten „Sitte“ erklärt, dass Milch ausnahmslos gekocht zum Genuss Verwendung findet. Heute wird die österreichische Bevölkerung durch das Pasteurisieren der Milch und durch regelmäßige Kontrollen der Rinderbestände auf Tuberkulose vor einer primären Darmtuberkulose geschützt.

Tuberkulosebekämpfung heute

Mit der Einstellung der BCG-Impfung hat eine „alte“ Methode wieder an Bedeutung gewonnen: der Mendel-Mantoux-Test.

Mittels dieses Testes, einer intrakutanen Testung mit Tuberkulin, lässt sich die Ansteckung an Tuberkulose nachweisen.

Durch die hohe Tuberkulosedurchimpfungsrate (BCG-Impfstoff) in der Vergangenheit war der Mendel-Mantoux-Test nicht so aussagekräftig, da falsch positive oder unklare Reaktionen bei der Auswertung durch die Impfung zu befürchten waren. Nach der Einstellung der BCG-Impfung kann dieses Werkzeug jedoch wieder benützt werden. Das ausschließliche Werkzeug der Vergangenheit, nämlich die Röntgenuntersuchung der Lunge, war sehr gut geeignet, die Erkrankung an Tuberkulose festzustellen. Die moderne Tuberkulosebekämpfung setzt einen Schritt früher an. Mit dem Mendel-Mantoux-Test wird nicht die Erkrankung aufgespürt, sondern schon eine Tuberkuloseinfektion, bevor eine Erkrankung noch ausgebrochen ist (latente Tuberkuloseinfektion oder LTBI).

Für den Arzt stellt die Mendel-Mantoux-Testung im Vergleich zur Befundung eines Röntgenbildes einen erheblichen zeitlichen Mehraufwand dar. Der Mendel-Mantoux-Test erfordert einen sechsmaligen Patientenkontakt: Es wird eine Erstanlegung mittels intrakutaner Spritze durchgeführt. Nach drei Tagen erfolgt eine Ablesung des sogenannten Indurationsdurchmessers des Testergebnisses und eine erste Interpretation. Um sogenannte Boosterreaktionen auszuschließen (d. h. falsch positive Ergebnisse auf Grund einer immunologischen Besonderheit bei zeitlich in begrenztem Abstand durchgeführten Mendel-Mantoux-Tests), muss eine so genannte Zweitanlegung durchgeführt werden. Das heißt, der Patient kommt nach ein bis zwei Wochen zur neuerlichen Anlegung eines Mendel-Mantoux-Tests mittels intrakutaner Injektion und zur Ablesung drei Tage später. Um eine frische Infektion detektieren zu können, ist – bei zunächst negativem Test – nach 6 bis 8 Wochen eine dritte Testung erforderlich, wo wiederum eine Anlegung und eine Ablesung vorgenommen werden müssen. Auf Basis der qualitativen und quantitativen Veränderung der Hautreaktion zwischen der Zweitanlegung und der dritten, kann eine frische Tuberkuloseinfektion (Tuberkulinkonversion) gesichert werden.

Tuberkulinkonverter bedürfen einer „Therapie der LTBI“, das heißt, dem Patienten wird eine Therapie angeboten, die verhindern soll, dass die frische Tuberkuloseinfektion als Erkrankung zum Durchbruch kommt. Die Kriterien für die Durchführung einer derartigen Therapie bedürfen einer komplexen Beurteilung und müssen in eigenen, in der Regel langdauernden Klientengesprächen im Einzelfall diskutiert werden. Das ist dadurch begründet, dass die Therapie insbesondere beim regelmäßigen, auch geringen Gebrauch von Alkohol zu erheblichen Nebenwirkungen im Bereich der Leber führen kann. International sind Todesfälle im Rahmen dieser präventiven Therapien beschrieben. Die Therapie ist auch nicht für jede Altersgruppe gleichermaßen geeignet, so profitieren jüngere Personen, insbesondere Kinder ganz besonders von der Durchführung einer präventiven Therapie der latenten Tuberkuloseinfektion, zumal bei Kindern eine latente Infektion in bis zu 50% zur Erkrankung fortschreitet. Bei Erwachsenen ist das Risiko des Ausbruchs der Erkrankung nach latenter Infektion erheblich geringer, und es ist in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob der Klient von einer Therapie der latenten Infektion profitiert. Ein ständiges Tuberkuloseinfektionsrisiko wie z. B. in bestimmten Berufsgruppen (Personal auf Tuberkuloseabteilungen) führt eine präventive Therapie ad absurdum.

Die behördliche Überwachung der Tuberkulose spielt heute genauso wie früher eine besondere Rolle.

In den industrialisierten Ländern Westeuropas sank die Ausbreitung der Tuberkulose seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bzw. in Zentraleuropa im 19. Jahrhundert bis 1940 kontinuierlich, und zwar noch vor der Entwicklung antituberkulöser Medikamente. Die Verbesserung der Wohnverhältnisse, insbesondere bessere Belüftungsmöglichkeiten der Häuser, Verbesserung der Ernährung, die Pasteurisierung der Milch und die Aufdeckung ansteckender Tuberkulosefälle haben diese Entwicklung bewirkt. Zu einem noch rascheren Absinken der Tuberkuloseerkrankungsrate und Tuberkulosesterblichkeit kam es durch die Entwicklung wirkungsvoller antituberkulöser Chemotherapeutika.

Tuberkulosemedikamente alleine sind kein Garant für eine effektive Tuberkulosebekämpfung. Die Tuberkulosebekämpfung steht und fällt mit einer qualifizierten behördlichen Tuberkuloseüberwachung. Die Einnahme von mehreren Tuberkulosemedikamenten über einen langen Zeitraum (zumindest 3 – 4 verschiedene Medikamente über mindestens 6 Monate) stellt den „modernen mündigen Menschen“ vor Probleme. Die Folge ist mangelnde Therapieadhärenz und daraus resultierend das gefährliche Phänomen der Resistenzentwicklung der Tuberkulosebazillen.

Fällt die Überwachung weg, führt der Weg unweigerlich zu einer Verlangsamung des Absinkens der Tuberkuloseerkrankungsrate oder sogar zur Zunahme der Erkrankungsfälle.

In den Großstädten der Vereinigten Staaten sank zwischen 1953 und 1983 der jährliche Neuzugang an Tuberkulosefällen durchschnittlich um 8%. Von 1985 bis 1992 verzeichneten diese jedoch wieder einen 20%-igen Zuwachs an tuberkulösen Neuerkrankungen. Auch andere entwickelte Länder, so auch Österreich, zeigten insbesondere in Ballungszentren eine analoge Entwicklung. Faktoren, die mit dem Wiederaufleben der Tuberkulose in industrialisierten Ländern in Verbindung gebracht wurden, sind die HIV-Infektion, Migrationsbewegungen, Zunahme der urbanen Obdachlosigkeit und der Drogenmissbrauch. Am stärksten wirkt sich jedoch der Abbau des mit der Tuberkulosebekämpfung befassten öffentlichen Gesundheitswesens und dessen Infrastrukturen aus.

In den Vereinigten Staaten war 1983 die Tuberkulose so gut unter Kontrolle, dass die Tuberkuloseinrichtungen dem Sparstift zum Opfer fielen. Insbesondere in sozial schlecht gestellten Bevölkerungskreisen der Großstädte kam es in der Folge zu einer Verdreifachung der Tuberkuloseerkrankungsrate. Seit Anfang der 90er-Jahre wurden mit erheblichem finanziellem Aufwand öffentlich gestützte Tuberkulosebekämpfungsmaßnahmen wieder eingeführt. Heute lässt sich wieder ein Rückgang tuberkulöser Neuerkrankungen in den betroffenen Regionen registrieren.

Ein völlig neues Verfahren in der Tuberkulsosebekämpfung stellt der „genetische Fingerabdruck“ des Tuberkulosebakteriums dar. Tuberkulosebakterienstämme werden isoliert, kultiviert, und anschließend wird die Nukleinsäure der isolierten Stämme extrahiert und ein DNA-fingerprinting durchgeführt.

Mit diesen Methoden lassen sich beispielsweise Infektionsketten durch sog. „Clustering“ aufdecken. Der Umstand, dass natürlicherweise ein allmähliches genetisches „Rearrangement“, d. h. eine Umorganisation des genetischen Materials erfolgt, lässt Verwandtschaftsverhältnisse von Bakterienstämmen erkennen. Idente Stämme (Clustering) bei unterschiedlichen Personen lassen dann eine gemeinsame Ansteckungsquelle vermuten.

Die auf diese Weise erhaltenen Daten geben Auskunft über Transmissionsmechanismen und Transmissionsketten. Um epidemiologische Zusammenhänge mit großer Wahrscheinlichkeit aufdecken zu können, ist es notwendig, über den Zeitraum von mehreren Jahren einen Großteil der Mykobakte-rienisolate mit der DNA-fingerprinting-Technik zu untersuchen. 1998 wurde in Wien mit RFLP-Untersuchungen (Restriction Fragment Length Polymorphism) begonnen, erste Erkenntnisse über Infektionsketten liegen vor.

Die Tuberkulose morgen

Die Mobilität der Menschen ist ein wesentlicher Faktor für die weltweite Verbreitung von Infektionskrankheiten. Vor 2 Jahrzehnten vertraten Wissenschaftler noch die Ansicht, dass die Tuberkulose in entwickelten Ländern am Beginn des 21. Jahrhunderts ausgerottet sein würde. Die Globalisierung macht solchen Prognosen einen Strich durch die Rechnung: Der Welthandel hat sich seit 1960 versechsfacht. Die Anzahl der Flugpassagiere stieg im selben Zeitraum um das 17-fache. Die Tuberkulose wird auch in der nächsten Zukunft die weltweit häufigste infektiöse Todesursache Erwachsener bleiben. Die WHO schätzt, dass zwischen 2002 und 2020 1 Milliarde Menschen mit Tuberkulose neu infiziert werden.

Auch wohlhabende Nationen werden in der Zukunft von multiresistenten Tuberkulosestämmen heimgesucht werden. Ohne geeignete Maßnahmen bedeutet die Erkrankung mit multiresistenten Tuberkulosebakterien zu fast 100 Prozent ein Todesurteil für den Betroffenen. Mit aufwändigster Behandlung versterben immerhin noch 50 Prozent der Erkrankten. Die Kosten der Tuberkulosetherapie betragen in industrialisierten Ländern etwa Euro 2.000,– pro Fall. Sie steigen aber auf mehr als das Hundertfache, nämlich Euro 250.000,– bei Erkrankten mit multiresistenten Tuberkulosestämmen. Durch geeignete Tuberkulosebekämpfungsprogramme kann die Tuberkulose, insbesondere die multiresistente Tuberkulose, jedoch zurückgedrängt werden. Für viele Länder ist der Schlüssel zur Tuberkulosebekämpfung ein Programm namens DOTS (Directly Observed Treatment, Short-course).

DIRECTLY: Ressourcen sollten direkt darauf gerichtet sein, Personen mit im Mikroskop positivem Sputum (Bakterien durch Färbemethoden nachgewiesen) zu entdecken, denn diese Personen sind ansteckend.

OBSERVED: Patienten müssen beim Schlucken der Medikamente durch beauftragte Personen aus dem Gesundheitswesen oder trainierte Freiwillige observiert werden. Kommt ein Patient nicht zur Behandlung, muss er aktiv gesucht werden.

TREATMENT: Es muss eine komplette Behandlung erfolgen und die Heilung dokumentiert werden. Das heißt, das Sputum wird zumindest nach 2-monatiger Behandlung und am Ende der Therapie „färberisch" auf das Freisein von Tuberkulosebakterien untersucht.

SHORT-COURSE: Die korrekte Dosis und Medikamentenkombination muss über eine korrekte Dauer verabreicht werden: Isoniacid, Rifampizin, Pyrazinamid, Etambutol, Streptomycin.

Diese Behandlungsmethode benützt eine Kombination aus 4 der oben zitierten Antituberkulosa in der initialen Phase der Behandlung und fordert eine kontrollierte Einnahme jeder einzelnen Dosis der Medikamente. DOTS verhindert das Auftreten von resistenten Tuberkulosestämmen. Die Heilungsraten, die derzeit mit DOTS erzielt werden können, betragen auch in den ärmsten Ländern bis zu 95 Prozent.

Nachwort

Nach Schätzungen der WHO muss weltweit jährlich mit mehr als acht Millionen Neuerkrankungen gerechnet werden. Zwei bis drei Millionen Menschen sterben pro Jahr an Tuberkulose. Über 95% aller Tuberkulosefälle treten in den so genannten Entwicklungsländern auf. Armut, medizinische Unterversorgung und die HIV-Epidemie machen die Tuberkulose auch heute noch zu einer der wichtigsten Infektionskrankheiten. Die Entwicklung therapieresistenter Tuberkuloseerreger bringt neue Gefahren auch für die Industrieländer. Nach den letzten offiziellen Berichten erkrankten in Österreich im Jahre 2000 1217 Personen (15,0/100.000 Einwohner) an Tuberkulose. Darunter befanden sich 762 Patienten mit Bazillenausscheidung. Auch Österreich ist von einer Eradikation der Tuberkulose noch weit entfernt. Eine große Rolle spielt die Einschleppungstuberkulose, verursacht durch Flüchtlinge, Immigranten und Asylanten aus noch stark tuberkuloseverseuchten Ländern. So darf auch in Österreich die Tuberkulosebekämpfung in der Zukunft nicht vernachlässigt werden.

Referenzen

  1. Junker E., Vom Amulett zur Vorsorgemedizin, Literas Verlag, Wien (2000)
  2. Junker E., Schmidgruber B., Wallner G., Die Tuberkulose in Wien, Literas Universitätsverlag, Wien (1999)
  3. Junker E., Vom Pestarzt zum Landessanitätsdirektor. 450 Jahre öffentlicher Gesundheitsdienst in Wien, Literas Universitätsverlag, Wien (1998)

Anschrift der Autoren:

Hofrat Dr. Ermar Junker, Vorgartenstraße 158/1, A-1020 Wien
Dr. Gerhard Wallner, Gesundheitsamt der Stadt Wien, Tuberkulosereferat, Schottenring 24, A-1010 Wien

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