Psychotherapie und Seelsorge – über Grenzen

Imago Hominis (2002); 9(3): 191-194
Manfred Lütz

„Psycho“ ist in. „Psychotherapeutische“ Schulen schießen allüberall wie Pilze aus dem Boden. Bei Lebenstragödien, bei Katastrophen oder auch nur bei banalen Problemen des Alltags – Psychotherapie gilt als Allheilmittel. Zumindest meint man „es könne ja nichts schaden“. Dabei wäre an den alten pharmakologischen Grundsatz zu erinnern, dass Medikamente, die keine Nebenwirkungen haben, wahrscheinlich auch keine Wirkungen aufweisen können. Psychotherapie hat Wirkungen, aber auch Nebenwirkungen. Bei nichtindiziertem oder unsachgemäßem Einsatz kann sie erhebliche Schäden anrichten. Tragisch genug, dass sich inzwischen die Diagnose „Psychotherapiedefekt“ eingebürgert hat. Daher wäre jedenfalls Vorsicht angebracht.

Doch im Bereich der Seelsorge herrscht vielfach ein höchst problematischer Trend, die Bedeutung der Psychotherapie weit zu überschätzen. Amalgame von Seelsorge und Psychotherapie haben Hochkonjunktur. Mancher Seelsorger vermittelt den Eindruck, am besten würde man Seelsorge durch Psychotherapie ersetzen, zumal „psyche" die griechische Übersetzung von „Seele“ sei. Sie ist also höchst aktuell, die Frage nach Nähe und Differenz von Seelsorge und Psychotherapie. Es ist zugleich die Frage nach den Grenzen der Psychotherapie.

1. Hilfreiche Manipulation – eine künstliche Beziehung für Geld

Wenn Psychotherapie der zielgerichtete methodische Einsatz von Kommunikation zur Heilung von Leiden ist, dann hat sie sich auf der einen Seite selbstverständlich abzugrenzen gegenüber einer frei schwebenden Alltagskommunikation. Dies aufzuweisen – oder eben nicht – ist Aufgabe der Therapieeffizienzforschung. Solche Untersuchungen sind damit keine unsittlichen Zumutungen an Psychotherapie, sondern sie sichern der Psychotherapie ihre Eigenart – und übrigens auch das Recht auf Bezahlung, die man für Alltagskommunikation nicht erwarten würde, es sei denn, Psychotherapeuten sähen sich nur noch als die zeitvertreibenden Kammerdiener einer versingelten Überflussgesellschaft.

Die Grenze zur anderen Seite hin wird deutlich, wenn man sich mit so genannten Psychosekten befasst. Die Effizienz der dort betriebenen freiheitsberaubenden Methoden steht drastisch vor aller Augen. Die Frage nach der Seriosität stellt sich hier anders: Psychotherapie oder Religion beziehungsweise Weltanschauung? Zwar ist die Frage spontan oft leicht zu beantworten, alles erinnert da zumeist an Sektenstrukturen.

Doch wenn man in die Lage kommt, dafür präzise Kriterien angeben zu sollen, wird die Sache schwierig. Die Literatur der verschiedenen Therapieschulen geht an dieser Fragestellung weitgehend vorbei. Schlimmer noch, manche Therapierichtungen fördern unter dem Pathos eines unpräzisen Begriffs der „Ganzheitlichkeit“ – in bester Absicht, möglichst gründlich zu helfen – Missverständnisse und Grenzüberschreitungen.

Der Sinn des Lebens, die Liebe eines Menschen und überhaupt das Wichtige im Leben stehen aber nicht in der Kompetenz der Psychotherapie, sie erschließen sich in der freien erschütternden oder beglückenden existenziellen Kommunikation gleichberechtigt von Mensch zu Mensch. Wenn Psychotherapie vielleicht günstigere Rahmenbedingungen für solche Erlebnisse zu schaffen vermag, so darf sie nicht beanspruchen oder auch nur zulassen, mit ihrem Handwerkszeug, nämlich zielgerichteter methodischer Kommunikation, Sinn und Liebe absichtsvoll herzustellen. Heraus kämen dann nur Plastiksinn und Hörigkeit.

Jede Psychotherapie ist eine zum Zwecke der Heilung von Leiden manipulative und asymmetrische Beziehung eines methodenkundigen Profis zu einem Heilung suchenden Menschen. Gerade deswegen muss sie streng durch Supervision kontrolliert und sowohl inhaltlich wie zeitlich ausdrücklich begrenzt werden. Psychotherapie ist damit – sogar für psychisch Kranke – stets höchstens die zweitbeste Form der Kommunikation. Die beste Form ist das Gespräch mit Angehörigen, Freunden, Nachbarn, Metzgern und sonstigen ganz „normalen“ Leuten. Erst, wenn das nicht mehr geht, entweder weil die psychische Störung ausgeprägt ist oder weil ein solcher Kontext nicht vorliegt, dann tritt Psychotherapie ein, aber auch nur so lange, bis jene beste Form der Kommunikation wieder möglich ist. Daher muss der Grundsatz gelten: So wenig Psychotherapie wie möglich, so viel wie nötig.

Wenn sich etwas Psychotherapie nennt, das eine Beziehung von der Wiege bis zur Bahre anbietet, handelt es sich nicht um Psychotherapie, sondern um Weltanschauung. Weil die psychotherapeutische Beziehung also eine streng begrenzte ist, die nur mit dem Ziel der Heilung oder Linderung von Krankheitssymptomen aufgenommen wurde, muss der seriöse Psychotherapeut bemüht sein, sie möglichst kurz zu halten. Je länger er die Therapie laufen lässt, desto wichtiger macht er sich und seine Fähigkeiten und desto weniger Respekt zeigt er vor den eigenen Kräften des Patienten. Bemühung um Kürze von Psychotherapie ist daher nicht etwa Oberflächlichkeit oder ökonomische Sparsamkeit und nicht bloß Signum einer bestimmten Therapieeinrichtung, sie ist nach meiner Überzeugung ein ethisches Gebot für jede Psychotherapie, die Menschen befähigen oder ermutigen will zum eigentlichen Leben. Und das ist nicht die künstliche Beziehung in der Therapie, sondern wahrhaft echte Beziehung zu anderen Menschen neben und nach der Therapie. Gute Therapie macht nicht Lust auf Therapie, sondern Lust aufs Leben.

Das Herrschaftswissen des Psychotherapeuten vorausgesetzt, ist Psychotherapie eben auch kein herrschaftsfreier Diskurs im Sinne von Jürgen Habermas. Psychotherapie ist eine künstliche Beziehung für Geld. Wer nicht ehrlich zugibt, dass er den Sinn des Lebens und wahre Liebe für Geld nicht bieten kann, betriebe nichts anderes als existenzielle Zuhälterei.

2. Neurotisches Elend und normales Leid – Kunsthandwerker vor der Gretchenfrage

Doch gerade danach scheinen die Menschen zu suchen. „Ich möchte ganz werden“, war das irreduzible Ziel einer Frau, die mich um Psychotherapie anrief. Während noch Freud bescheiden aus neurotischem Elend normales Leid machen wollte, ertrinken Psychotherapeuten heute in einer Inflation der Sinnerwartung, die ungestüm gegen sie heranbrandet. Ein vergiftetes Angebot, denn dies zu bewältigen sind Psychotherapeuten völlig inkompetent. Das Missverständnis von Psychotherapie als Religionsersatz ist möglicherweise die verhängnisvollste Nebenwirkung von Psychotherapie. Daher ist es für einen Psychotherapeuten nützlich, sich eher als präzise und sorgfältig kontrolliert arbeitender Handwerker am psychischen Apparat, wie Freud sagt, zu verstehen, wobei es einige Mitglieder der Zunft zum Kunsthandwerk bringen mögen. Die Nähe zu den Prinzipien der Handwerkskammer mag am besten davor schützen, sich in der gefährlichen Nähe von Visionären und Künstlern, faszinierenden religiösen Genies und Poeten zu sehen, die den Menschen so viel mehr geben können, als Psychotherapeuten geben dürfen.

Es hilft alles nichts; jede seriöse Psychotherapierichtung hat sich Gretchens Frage: „Wie hast du’s mit der Religion?“, zu stellen und so präzise wie möglich anzugeben, wo ihre Grenze gegenüber Religion und Weltanschauung liegt. Und sie hat darauf zu achten, dass diese Grenze gewahrt wird, damit über den begrenzten Auftrag der Psychotherapie hinaus der eigene Raum für existenzielle Beziehungen und Erfahrungen gesichert wird – selbst wenn er für einzelne, wie das Allerheiligste des jüdischen Tempels, leer bleibt. Andernfalls würde Psychotherapie letztlich totalitär, denn jeder methodische Zugriff auf den geheimnishaften Kern des Menschen verletzt zutiefst Intimität und Würde des Menschen. Erklärt man das Thema Religion für gleichgültig und reflektiert es daher nicht, treibt es unbemerkt seinen Spuk in der Therapie, da es irgendein „Über-die-Therapie-hinaus“ ja ausdrücklich nicht gibt. Holt man es absichtlich in die Therapie hinein, hat man mit den gleichen Gefahren zu kämpfen. Es bleibt der Respekt vor der Grenze.

Es sei allerdings davor gewarnt, solche Überlegungen allzu vordergründig auf verschiedene Therapierichtungen zu übertragen. Das Thema Psychotherapie und Religion hat die Entwicklung moderner Psychotherapie stets begleitet – freilich mehr beiläufig und oft eher pathetisch als begriffsklar. Sagen wir es knapp: Es muss dahingestellt bleiben, ob das jungsche Denken in seinem bis zu esoterischem Überschwang reichenden religiösen Bilderreichtum den existenziellen Erschütterungen Sören Kierkegaards gültigere Antworten gegeben hätte als die diesbezüglich eher abstinente Nüchternheit Freuds, die sich hier „kein Bild macht". Ob sich wiederum Freud in seinem unbestritten antireligiösen Affekt den weltanschaulichen Plattitüden des Urvaters der Verhaltenstherapie Burrhus Frederic Skinner angeschlossen hätte, dem sich die heutige Verhaltenstherapie in dieser Hinsicht auch nicht mehr verbunden weiß, muss sogar ausdrücklich bezweifelt werden.

3. Psychotherapie und Seelsorge – Beethoven und der psychische Apparat

Victor Frankl war ein genialer Erfinder psychotherapeutischer Techniken. Außerdem hat er die einseitig defizitäre Religionssicht Freuds wirksam in Frage gestellt. Dennoch ist seiner Logotherapie die Gratwanderung nicht immer gelungen, den Sinn des Lebens als wichtig zu beschwören und ihn nicht zugleich auch vermitteln zu wollen. Denn die Rollen des Arztes und des Seelsorgers müssen streng getrennt werden. Zwar sollten Ärzte und Psychotherapeuten Ahnung von und Respekt vor der Seelsorge haben und dann, wenn existentielle Fragen aufkommen, die Professionalität besitzen, an den Seelsorger zu überweisen. Auch Seelsorger sollten sich mit psychopathologischen Phänomenen auskennen, um gegebenenfalls an einen Psycho-Fachmann abzugeben. Aber eine Vermischung beider Rollen wäre eine verhängnisvolle Manipulation und führte schnell zu Guru-Konstellationen. Ein Mensch, dessen tiefe Depression man durch fachlich korrekte Behandlung in vergleichsweise kurzer Zeit beseitigt hat, ist einem Therapeuten verständlicherweise sehr dankbar. Und wenn der Therapeut diesem Menschen dann eine beliebige religiöse Auffassung nahe legt, so wird er geneigt sein, darauf einzugehen. Das aber ist Manipulation im existenziellen Bereich. Die Entscheidung zum Glauben ist eine freie Entscheidung und darf nicht manipuliert werden. Sie kann im Kontakt mit einem guten Seelsorger reifen. Der Arzt darf sie mit seiner Autorität nicht bewirken. Umgekehrt führt die Vermischung von Psychotherapie und Seelsorge zum Beispiel bei einem gewissen Michael Dieterich zu dem höchst fragwürdigen Ergebnis, dass bei dessen „biblisch-therapeutischer Seelsorge“ die Methodenwahl vom Heiligen Geist übernommen wird. Eine solche Sichtweise kann verheerende Folgen haben. Denn wer davon wirklich überzeugt ist, kann eigene Fehler verständlicherweise gar nicht mehr wahrnehmen.

Echte Seelsorge ist niemals manipulativ-methodisch. Sie ist viel umfassender und reicht viel tiefer als Psychotherapie. Und es besteht eigentlich überhaupt kein Anlass, dass Seelsorger ihr Selbstwertgefühl von irgendwelchen Wochenendseminaren in Psychotherapie ableiten. Die Freiheit des Menschen kann durch psychische Verknotungen in ihrer Ausübung gehindert sein, aber sie ist dennoch niemals das Produkt der Psychotherapie, sondern liegt ihr stets voraus. Sie ist der heilige Boden, der des fremden Menschen Hand entzogen ist, auf dem Würde und Einmaligkeit, Schuld und Verantwortung, Lust und Freude dem Menschen selbst und keinem Therapeuten letztlich zugänglich sind. Diesem Kern des Menschen begegnet man nicht therapeutisch, sondern im Dialog, so wie Martin Buber ihn verstanden hat, in der existenziellen, gleichberechtigten Begegnung von Mensch zu Mensch.

Ein seriöser Psychotherapeut macht also aus seinen Grenzen keinen Hehl und er kann Menschen sehr helfen, wenn er ein Ansinnen, das über die Möglichkeiten der Psychotherapie hinausgeht, höflich, aber bestimmt zurückweist. Die durch Psychotherapie erreichbaren Ziele sind stets begrenzt und oft kann der Psychotherapeut nur eine tragische Entwicklung zeitweilig hilfreich begleiten. Ein guter Psychotherapeut beherrscht seine Technik und überlässt die Ziele dem Patienten. Auf diese Weise enthält er sich jeder weltanschaulichen Präjudizierung. Er kann den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit suggestiv auf die Kräfte und Ziele des Patienten lenken und damit Heilung bewirken, ein Heilsexperte jedoch ist er nicht.

Man mag den seelischen Apparat, für den der Psychotherapeut zuständig ist, mit einer Geige vergleichen. Ohne die Musik Beethovens, Mozarts und der vielen anderen wäre eine Geige nur ein eigenartiges geformtes Hindernis für Ameisen. Erst die Musik macht sie so wertvoll. Mit der „Musik“ aber, mit all dem Schönen, das der Apparat bewirken kann, hat der Psychotherapeut nichts zu tun. Er hat nur die bescheidene Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das eigenartig geformte Instrument wieder Töne hervorbringen kann. Der Melodie eines Lebens aber, die dann wieder erklingt, kann auch er nur staunend lauschen. Auf diese Weise vermag es dem Psychotherapeuten gelingen, handwerklich korrekt verklemmte Türen zu öffnen oder verborgene Türen zu beleuchten. Den Schritt hinaus muss der Patient selbst tun. Und wohin ihn dann dieses spannende Leben führt, das geht nur den Patienten an.

Weiterführende Literatur

  • Vgl. Lütz, Manfred, Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitnesskult, Pattloch Verlag, München (2002)

Anschrift des Autors:

Dr.med.Dipl.theol. Manfred Lütz
Wasserburgstraße 2
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