Ansätze der Palliativmedizin in der hippokratischen Tradition
Zusammenfassung
Durch die Möglichkeiten der modernen Medizin kann das menschliche Leben verlängert, unter Umständen der Sterbeprozesses dadurch verzögert und die individuelle Lebensqualität verschlechtert werden. Dem Grundsatz „Nil nocere“ zufolge muss oft eine schwierige Entscheidung zwischen einem kurativen oder palliativen Vorgehen getroffen werden. Mit diesem Dilemma setzte sich bereits die Medizin der Antike auseinander, welche vom Ideal der Kalokagathia geleitet den chronisch Kranken nur geringe Akzeptanz entgegenbrachte. Im Unterschied dazu versuchte die hippokratische Medizin den Patienten bis zu seinem natürlichen Tod zu begleiten; auch dann zu helfen, wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist. Der hippokratische Arzt setzte dabei palliativmedizinische Maßnahmen ein, was keinesfalls im Widerspruch zu den ethischen Anforderungen der hippokratischen Medizin und dem Euthanasieverbot stand.
Schlüsselwörter: Palliativmedizin, Hippokrates, Euthanasie, nil nocere
Abstract
Modern medicine offers the possibility of, on the one hand, extending human life and, on the other hand, delaying the dying process and avoiding the deterioration of individual quality of life. According to the principle of “nil nocere”, a difficult decision must be made between taking a curative or palliative approach. This was also the medical dilemma in the ancient world, originating from the ideal of kalokagathia, which gave little acceptance to the chronically ill. Hippocratic medicine, however, tried to support patients until their natural death. It also wanted to help in cases in which a curative approach was no longer possible. The Hippocratic physician used palliative measures — like today — which were not in contradiction to the ethical requirements of Hippocratic medicine and the prohibition of euthanasia.
Keywords: Palliative Care, Hippocrates, Euthanasia, nil nocere
Das Dilemma der modernen Medizin hat der deutsche Philosoph Robert Spaemann schon vor Jahren wie folgt beschrieben: „Die medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung sind so gewaltig erweitert worden, dass die früher einmal sinnvolle Regel, immer alles zu tun, um das Leben eines Menschen zu erhalten, nicht mehr sinnvoll ist.“1 Tatsächlich besitzen wir aufgrund technischer Entwicklung nicht nur die Möglichkeit Leben zu verlängern, sondern wir verfügen auch durch intensivmedizinische Maßnahmen und Ersatz einzelner Organfunktionen über die Mittel, den Sterbeprozess zu verzögern. Die Verführung durch die Macht des Machbaren in Kombination mit der Anwendung eines übertriebenem Fürsorgeprinzips kann so weit gehen, dass Menschen um ihren natürlichen Tod betrogen werden bzw. ihnen ein würdiges Sterben gänzlich verwehrt wird2 – freilich unter den positiven Vorzeichen wie freier Willensbestimmung oder Autonomie. Der Ruf des Vorkämpfers der Euthanasie, C. Killick Millard, in den 1930er Jahren3 nach einer Legalisierung des „Gnadentodes“ bei chronisch Kranken scheint alles andere als verjährt. Die Bindung des Personenbegriffes an Ichbewusstsein und Rationalität4 in der ethischen Diskussion öffnet neue Bahnen für eugenische Ansätze am Anfang und Ende des Lebens.5
Dem ärztlichen Drang, Patienten im Spannungsfeld zwischen Leben und Sterben stets einer Behandlung zu unterziehen, steht die Position der Palliativmedizin gegenüber. Sie ist definiert als ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, welche mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.6 Obwohl sie sich in institutionalisierter Form als Zweig der klinischen Medizin erst in den letzten Dezennien etabliert hat, ist die Palliation bereits seit Jahrhunderten bekannt. Wie aus der Definition hervorgeht, ist die weit verbreitete Assoziation der Palliativmedizin ausschließlich mit sterbenden, meistens onkologischen Patienten, nicht zutreffend. Sie als Gegenpol zur kurativen Einstellung darzustellen, wäre ebenfalls ungenau.
Der Einsatz moderner diagnostischer sowie therapeutischer Mittel in der Medizin bietet zwar neue Möglichkeiten der Lebensverlängerung. Ihre Anwendung zu einem nicht geeigneten Moment kann aber unter Umständen die Patienten belasten und ihre Lebensqualität verschlechtern. Das ärztliche Ethos wurde bis in die Moderne durch die hippokratische Tradition bzw. in ihrer konzentrierten Form durch den Hippokratischen Eid geprägt, woran sich auch die Ärzte in ihrem Handeln gebunden fühlten. Der Medizinhistoriker Henry Sigerist schrieb in diesem Zusammenhang: „…wann immer die Medizin auf Abwege geriet, wenn Theorie und Praxis nicht übereinstimmten oder wenn ausgefallene Theorien aufkamen und das Feld zu behaupten begannen, ertönte der Ruf – zurück zu Hippokrates!“7 Im folgenden soll die Fragestellungen erörtert werden, ob die hippokratische Medizin eine Orientierungshilfe für oft schwierige Entscheidungen zwischen kurativer und palliativer Medizin am Krankenbett liefern kann. Bieten ihre Maximen „primum nil nocere“ und „salus aegroti suprema lex“8 überhaupt Raum für palliativmedizinische Überlegungen oder stehen sie dazu im krassen Widerspruch? Ist der Verzicht, bzw. das Beenden von therapeutischen Maßnahmen damit in Einklang zu bringen?
Gesundheitsbegriff in der Antike
Bevor wir unsere Aufmerksamkeit auf die Lehre von Hippokrates selbst lenken, ist ein historischer Exkurs in die Welt der Antike und ihre Einstellung zur Krankheit unerlässlich. Von der Versuchung des Machbaren blieben auch die Ärzte im klassischen Griechenland nicht verschont. Bei Sophokles lesen wir dazu in seinem Drama „Antigone“: „Vor dem Tod allein wird er sich kein Entrinnen schaffen. Aus Seuchen aber, unbewältigbaren, hat er sich Auswege ausgesonnen. In dem Erfinderischen der Kunst eine nie erhoffte Gewalt besitzend, schreitet er bald zum Bösen, bald zum Guten.“9 Die Medizin ist also dazu da, den Menschen von zeitlichen Übeln (Seuchen) zu befreien, kann aber das menschliche Leben, welches einer höheren Gewalt unterliegt (Götter), vor dem Tod nicht bewahren. Der Arzt muss ähnlich einem Richter mit der Seele über die Seelen (als Arzt über die Menschen, d. h. die Gesundheit) urteilen, was ihn auch zum Missbrauch seiner Position (zum Bösen) verleiten kann.10 Dass diese Gefahr nicht nur als eine literarische Metapher gedacht war, sehen wir am Beispiel von Platon in seiner utopischen Schrift „Der Staat“.11 Um die Ausführungen Platons besser zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass der Gesundheitsbegriff der Hellenen stark von dem mosaischen Gesundheitsbegriff divergierte. Im alttestamentlichen Verständnis war die Krankheit eine Folge der gestörten Natur durch die Sünde,12 in der griechischen Medizin jedoch eine Störung des Gleichgewichts der Säfte im Körper und somit entsprechend der humoralpathologischen Lehre Ausdruck der Disharmonie. Im platonischen Schönheitsideal der Kalokagathia war körperliche und seelische Integrität durch Krankheit gestört, denn ohne Gesundheit war Schönheit nicht möglich.13 Daraus ergab sich als Hauptaufgabe des griechischen Arztes die herkömmliche seelische und körperliche Integrität durch Diät, Gymnastik, Arzneimittel und eventuell auch chirurgische Maßnahmen wiederherzustellen. Platon befürwortete, nur Personen zu behandeln, welche an Leib und Seele gut geartet erscheinen. Personen, die als unheilbar eingestufte Defizite aufwiesen, sollte der Arzt sterben lassen. An einer anderen Stelle findet sich sogar die Aufforderung, diese zu töten.14 Somit thematisierte Platon hier sowohl passive wie aktive Euthanasie. Platon ging in seinen utilitaristischen Überlegungen sogar noch einen Schritt weiter, indem er die Nützlichkeit und Berechtigung der menschlichen Existenz an die Bedingung knüpfte, sich als Mitglied einer Gesellschaft zu begreifen und seine Lebensweise danach auszurichten. Wer nicht in der Lage wäre, seine bürgerlichen Pflichten zu erfüllen, dürfte auch keinen Anspruch auf Erhaltung des Lebens erheben.15
In der Antike sind auch erschütternde Beispiele – etwa aus Sparta – überliefert, wo schwache Säuglinge ihrem Schicksal überlassen bzw. gar getötet wurden.16 Was die Einstellung zur Euthanasie betrifft, finden wir neben Platon auch in der Philosophie der Stoa Elemente der aktiven Sterbehilfe. Ihr Einsatz war mit der Bedrohung oder der Aufhebung des vernünftigen Bewusstseins und des sittlichen Handelns durch das physische oder seelische Leiden verknüpft.17 Aristoteles stellte dagegen fest: „Zu sterben, um der Armut, der Liebe oder irgendeinem Schmerz zu entgehen, zeigt nicht Tapferkeit, sondern Feigheit.“18 Im kulturhistorischen Zusammenhang ist es verständlich, dass in einer Gesellschaft, die dem Ideal des „Körperkultes“ huldigte, nur wenig Raum für Schwache, Behinderte und chronisch Kranke blieb.
Die Kalokagathia und chronisch Kranke
Im Unterschied zu heilbaren Krankheiten, die man als Wunden einstufte, wurden chronische Leiden als substantielle Makel verstanden, die einer Wiederherstellung der Kalokagathia im Wege standen. Solche Patienten wurden doppelt stigmatisiert: neben ihrer Krankheit auch durch die soziale Ausstoßung, falls sie nicht über eine entsprechende familiäre Bindung verfügten. Diese Patienten bildeten vermutlich nicht die primäre Klientel der als Wanderärzte tätigen Praktiker, sodass ihnen oft die nötige ärztliche Hilfe vorenthalten blieb.19 Wie später noch gezeigt wird, scheint die Annahme, dass sich die griechischen Ärzte um chronisch Leidende gar nicht kümmerten, dennoch unzutreffend zu sein. Die Darstellung der Gesundheit nur als hedonistischen Körperkult ohne Bezug auf ihre transzendentale, mystische Wurzel wäre historisch ungenau. Platon selbst führte in seinen utilitaristisch-utopischen Ausführungen den Heilgott Asklepios als Beispiel an und meinte, dass er nur jene Kranken behandle, bei denen eine gute Aussicht auf Heilung bestünde.20 Die Verbreitung des Asklepioskultes im Mittelmeerraum sowie die Einrichtung entsprechender Tempelanlagen, in denen der Heilschlaf praktiziert wurde, unterstreichen diese transzendentale Dimension der Gesundheit.21 Die Medizin verstand sich als hohe Kunst mit mystischen Wurzeln,22 manche Ärzte bezeichneten sich sogar als „Asklepiaden“, d. h. Söhne von Asklepios.23
Dass die tägliche Praxis manchmal von hohen Gedanken abwich, skizzierte schon Aristophanes in seiner Komödie „Plutos“, indem er meinte: „Wo es kein Geld gibt, ist auch keine Kunst.“24 Da wird es durchaus verständlich, warum chronisch Kranke, bei denen die Kalokagathia nicht mehr wiederhergestellt werden konnte, ihrem Schicksal im Einklang mit der Vorsehung überlassen wurden und ihnen sogar das Betreten eines Asklepions verwehrt wurde.25 Medizinische Fähigkeiten über die von den Göttern bestimmten Grenzen hinaus anzuwenden, war in der griechischen Antike undenkbar, somit sollten auch die unheilbar Kranken von der Kunst des Heilens ausgenommen werden.26 Die Ärzte verstanden die Heilkunst primär als eine Téchne, als eine hohe Kunst, eine Art von Handwerk, das auf Heilung ausgerichtet ist. Ein als unheilbar krank eingestufter Patient stand somit außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Arztes. Die Anwendung dieser Kunst bei chronisch kranken Patienten wäre somit einem Kunstfehler gleichzusetzen. Eine solche ablehnende Haltung war durchaus der gesamten Welt der Antike gemeinsam, entsprechende Hinweise finden sich auch in der ägyptischen sowie hinduistischen Medizin.27
Die hippokratische Lehre
Entgegen dieser Haltung musste in der Medizin der späteren Jahrhunderte eine Denkumkehr passiert sein, denn beim römischen Arzt Scribonius Largus lesen wir im 1. nachchristlichen Jahrhundert die Forderung, jedermann auf gleiche Weise zu behandeln.28 Wenn wir diese Forderung zurückverfolgen, finden wir eine auffallende Ähnlichkeit mit der hippokratischen Lehre. Im Hippokratischen Eid stoßen wir auf die Aufzählung von Frauen, Männern, Freien, und Sklaven – also eine unwidersprüchliche Intention, alle Gruppen der damaligen Gesellschaft als Patienten ebenbürtig zu betrachten. Somit erscheint auch die Hypothese berechtigt, dass auch chronisch Kranke und Sterbende impliziert waren.29 Dass sich die hohen ethischen Maximen der hippokratischen Medizin im Laufe von Jahrhunderten durchsetzten, ist keinesfalls selbstverständlich, denn bereits damals schien sich die Majorität der Ärzteschaft nicht danach zu richten. Einigen Meinungen zufolge galt sie sogar nur für eine aristokratisch empfindende,30 durch den Sittenkodex der Pythagoräer geprägte Gruppe der Ärzte.31 Die Antike war jedenfalls mit sämtlichen Problemen, mit denen sich auch die heutige medizinethische Diskussion befasst, vertraut; die Beihilfe zum Suizid oder die Tötung ungeborenen Lebens waren keine Seltenheit.32 Für unseren Kontext sind vor allem der dritte und vierte Absatz des Eides von Relevanz: „Die diätischen Maßnahmen werde ich treffen zum Nutzen der Leidenden nach meinem Vermögen und Urteil, Schädigung und Unrecht aber von ihnen abwehren.“ Und weiters „Nie werde ich irgend jemandem, auch auf Verlangen nicht, ein tödliches Mittel verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen…“33 Kurz zusammengefasst verpflichtet sich der Arzt darin, zum Nutzen der Kranken zu handeln und alles zu unterlassen, was dem Kranken schaden würde. Von manchen Autoren wird das Grundprinzip „primum nil nocere“ teilweise zu Unrecht als Exempel des ärztlichen Paternalismus betrachtet und als Gegensatz zur Patientenautonomie interpretiert.34 Treffend bezeichnet dies Lichtenthaeler als ein neues Gebot, stets zu nutzen und nie zu schaden.35
Nun wollen wir der Frage nachgehen, inwiefern sich das Prinzip der Schadensvermeidung mit den Elementen der Palliativmedizin vereinbaren lässt.
Der Stellenwert der Prognose
Bereits in der hippokratischen Medizin wurde anhand der Anamnese, der Beobachtung des Patienten, der klinischen Untersuchung und der Erwägung erhobener Befunde eine möglichst exakte Zustandsbeschreibung jedes individuellen Patienten gemacht.36 Eine dieser Beschreibungen, die „Facies hippocratica“, blieb im klinischen Brauchtum für die Nachwelt erhalten („…eine spitze Nase, hohle Augen, eingefallene Schläfen, kalte und contrahirte Ohren, abstehende Ohrläppchen, eine harte, straffe und trockene Stirnhaut…“37) und gilt seither als prognostisch ungünstiges Zeichen. Der Arzt der griechischen Antike versuchte den Kranken in seiner Gesamtheit, auch in seinem sozialen und familiären Umfeld zu erfassen, um anhand der Krankengeschichte und der spezifischen Symptome eine individuelle Prognose für den jeweiligen Patienten zu erstellen.38 Die weitere Verlaufsbeobachtung des Patienten bildete das Fundament für das weitere ärztliche Handeln. Im „Buch der Prognosen“ lesen wir dazu: „Aber auch die Behandlung wird er am besten durchführen können, wenn er den späteren Ausgang der Krankheit vorhersieht.“39 Somit war die Prognose die Grundlage weiterer Therapieentscheidungen, unter Umständen auch die Basis für Therapieverzicht. In sie flossen die Anamnese, also der Blick nach hinten, die erhobenen Befunde, hauptsächlich aus der physikalischen Untersuchung stammend, und die subjektive Erfahrung des Arztes ein. Wie Hippokrates selbst erwähnt, kann unter Umständen eine richtig gestellte Prognose das Vertrauen des Arztes zum Patienten stärken.40 Bei Behandlung trotz einer infausten Prognose diente sie auch dazu, den ungünstigen Therapieausgang vorherzusagen und den Arzt zu entlasten, also ein historischer Vorläufer der Patientenaufklärung.41 Ein hippokratischer Mediziner konnte bei der Therapieentscheidung auch in Bedrängnis geraten, wie zum Beispiel bei der Behandlung komplizierter Frakturen: „Eine offene Ablehnung der Behandlung würde den Arzt als unfähig erscheinen lassen und damit seinen Ruf gefährden. Eine Einrichtung des Bruches aber würde mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tode des Patienten führen“42 In einem solchen Fall erteilte Hippokrates den Rat, sich auf den Behandlungsvertrag nicht immer einzulassen.
Die Entscheidungen zur Palliation im Corpus Hippocraticum
Falls der hippokratische Mediziner zum Schluss kam, dass durch eine kurative Maßnahme der Patient nicht mehr geheilt werden konnte, wurde diese Maßnahme nicht begonnen. In der Schrift Über die Krankheit spricht sich Hippokrates beispielsweise dafür aus, die Epilepsie nur bei „jungen und arbeitsfreudigen Patienten“ zu behandeln, bei „geistigen Defekten sowie nach Schlaganfällen“ die Behandlung aber zu unterlassen.43 Es wäre ungerecht und falsch, Hippokrates retrospektiv ein eugenisches Gedankengut zu unterstellen. Denn auch heute würde man bei einem Patienten mit schwerem Multiinfarktsyndrom und chronischem Krankheitsverlauf, wo keine Aussichten auf Ausheilung bestehen, auf unnötig belastende Therapien verzichten. Repräsentativ ist auch ein Beispiel aus der Onkologie: „Diejenigen, bei welchen sich occulte Carcinome bilden, behandelt man besser nicht, denn wenn man sie behandelt, gehen sie schnell zu Grunde, wenn man sie hingegen nicht behandelt, bleiben sie längere Zeit am Leben.“44 Auch heute würde sich ein klinischer Onkologe vor Anwendung einer Chemotherapie bei einem kachektischen Patienten im fortgeschrittenen Stadium wehren, um damit nicht unnötig dessen Lebenserwartung bzw. -qualität zu beeinträchtigen. Es wäre aber ein Irrtum anzunehmen, dass der Hippokratiker in einem solchen Moment den Patienten alleine zurückgelassen hätte. Allerdings war er als Pragmatiker der Auffassung, dass nichts zu tun besser ist als etwas Falsches zu tun.45 Unter diesem Blickwinkel lassen sich auch manche von therapeutischem Nihilismus und Pragmatismus geprägte Textstellen im Corpus Hippocraticum erklären: „…die Kranken von ihren Leiden gänzlich zu befreien, die schweren Anfälle der Krankheiten zu lindern und sich von der Behandlung derjenigen Personen fern zu halten, welche von der Krankheit schon überwältigt sind.“46 Die Intention „non nocere“ des Arztes darf dabei nicht vergessen werden! Der Hippokratiker wusste jedoch, dass eine richtige Therapie nur zu einem richtigen Zeitpunkt (Kairos) ihre volle Wirkung entfaltet: „Der rechte Augenblick geht rasch vorüber - was heute lebenserhaltend wirkt, kann morgen tödlich sein.“47 Er war sich ferner der Grenzen der Heilkunst durchaus bewusst, wie er selbst formulierte: „…denn alle Kranken gesund zu machen, das ist unmöglich.“48 Generell gibt es im Corpus Hippocraticum zahlreiche Hinweise, dass chronisch Kranke auch behandelt wurden: „Fachgerecht ist es, bei der Behandlung diejenigen Krankheiten, die heilbar sind, bis zur Heilung zu behandeln, von den unheilbaren aber zu wissen, warum sie unheilbar sind, und bei der Behandlung der Patienten, die an derartigen Krankheiten leiden, zu nützen, indem man die Behandlung nach der Heilbarkeit ausrichtet.“49 Der hippokratische Arzt wird damit gleichzeitig zur theoretischen Auseinandersetzung mit der Materie aufgemuntert, ein Ansatz für selbstständige Beobachtung und Forschung im Dienst an den Kranken.50
Wenn die Erkrankung und somit der Zustand eines Patienten als unheilbar eingestuft wurde, kamen die zur Verfügung stehenden unterstützenden und lindernden Maßnahmen zum Einsatz. Neben dem Einsatz von Arzneimitteln, Diät, Gymnastik und klimatischen Aufenthalten wurde von den Hippokratikern vor allem eine Änderung der Lebensweise der Patienten im Dienste der Heilung oder der Verbesserung ihres Zustandes angestrebt.51 Der Arzt war wohl um die Symptomenkontrolle bei chronisch Kranken bemüht, unter dem Gesichtspunkt von „non nocere“ ist aber auch der Therapieverzicht in manchen Fällen zu verstehen, um den Patienten von aggressiven Therapieformen, die es damals gab, zu verschonen und sein Leben nicht unnötig zu verkürzen.52 Ist das nicht ein Ausdruck von richtig gelebtem Fürsorgeprinzip und Achtung vor der Patientenautonomie?
Der Arzt der Nächstenliebe
Dass es bei hippokratischen Ärzten auch eine Form von Sterbebegleitung (nicht Sterbehilfe) gab, lässt sich aus diversen Stellen im Corpus Hippocraticum ableiten, die sich mit der Beschreibung der Krankheitsverläufe bis zum Tod befassen. Der Arzt nahm dabei nicht die Rolle eines passiven Beobachters ein, sondern durchaus eine moderne palliative Haltung, indem er „tröstende Worte, Kühlung, beruhigende Medikamente und die Beseitigung störender Umstände“ einsetzte.53 Dabei spielte die Einstellung des Arztes – helfen, auch wenn man nicht heilen kann – eine wichtige Rolle, indem mit vorhandenen Mittel versucht wurde, den Patienten zu unterstützen. In der Schrift über die „Einrenkungen“ empfiehlt Hippokrates bei komplizierter Tibiafrakur eine konsequente Wundbehandlung, da eine Einrenkung zum Tod des Patienten führen würde. Obwohl keine restitutio ad integrum erreicht werden kann, soll trotzdem eine Behandlung angestrebt werden, um dem Patienten ein Leben mit eingeschränkter Funktion zu ermöglichen.54
Dem hippokratischen Arzt wurde eine persönliche Verantwortung für den Patienten übertragen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in der Schrift über die Epidemien Krankheitsverläufe bis zum Tod aufgezeichnet sind und der Verfasser den Sterbenden bis zu seiner letzten Stunde als seinen persönlichen Patienten betrachtet hat.55 Aus dieser Einstellung resultiert auch das Tötungsverbot, das nicht der gängigen Praxis der Antike entsprach und als dermaßen radikaler Lebensschutz einzigartig ist. Obwohl die Auffassung, die hohe Heilkunst der Medizin als Téchne zu betrachten, den Hippokratikern nicht fremd war,56 scheint anhand der bereits aufgeführten Stellen des Corpus Hippocraticum unbestritten, dass der Arzt auch um eine Umsetzung der Philantropia, also der einfühlsamen Unterstützung und Tröstung der Notleidenden und Kranken bemüht war. Er versuchte „…aus fremden Leiden eigene Sorgen [zu machen].“57 Dies war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Arztbild der Nächstenliebe des christlichen Abendlandes, wobei der Arzt sich um eine selbstlose Hinwendung zum leidenden Nächsten bemüht.
Zusammenfassung
Wie gezeigt wurde, war der hippokratische Arzt trotz aller Einflüsse des Zeitgeistes bereits aufrichtig um eine pallativmedizinische Haltung bemüht, die durchaus mit dem Prinzip von „non nocere“ zu vereinbaren war.
Der Arzt versucht den Patienten in seiner Gesamtheit zu erfassen, er ist nicht nur für somatische Beschwerden zuständig, sondern schließt seine psychischen und geistigen Bedürfnisse ein und betrachtet das gesamte Umfeld des Patienten – er ist aufgrund seiner Einstellung für psychosomatische Zusammenhänge offen.
Der Hippokratiker beachtet nicht nur die Diagnose, sondern richtet die Behandlung nach der individuellen Prognose des Patienten. Er hinterfragt die therapeutischen Konsequenzen für den jeweiligen Kranken und versucht „Evidence-Based-Medicine“ (Fachwissen) mit individueller Anamnese, Diagnose und Prognose zu vereinbaren. Der Arzt soll in der Lage sein, dem Patienten eine individualisierte Prognose zu übermitteln, was mehr als Aufzählen von Risikofaktoren bedeutet.
Eine kurative Behandlung, die zum gegebenen Zeitpunkt nicht mehr indiziert ist, wird auch nicht begonnen. Wenn der Arzt erkennt, dass eine Heilung nicht ansteht, verlässt er den Patienten nicht, sondern versucht ihn mit palliativen Maßnahmen zu unterstützen. Eine unnötige Therapie kann somit auch abgebrochen werden, um den Patienten nicht zu belasten oder seine Lebensqualität nicht zu verschlechtern.
Die therapeutischen Entscheidungen werden von einer individuellen Prognose geleitet. Es wird nicht das unternommen, was möglich ist, sondern das, was sinnvoll erscheint. Die Verführung durch die Macht des Machbaren und ein daraus resultierender unkritischer Einsatz von diagnostischen und therapeutischen Mitteln ohne Berücksichtigung therapeutischer Konsequenz soll hinterfragt werden. Aus heutiger Sicht könnte man aus dieser hippokratischen Grundhaltung beispielsweise ableiten, auf belastende diagnostische Abklärungen zu verzichten, wo eine kurative Therapie nicht mehr durchgeführt werden kann.
Der Arzt ist nicht nur für die Heilung, sondern auch für die Begleitung von chronisch Kranken und ihrer Krankheiten zuständig. Er hat nicht nur einen kurativen, sondern auch einen palliativen, unterstützenden Auftrag, welcher über die somatische Komponente der Erkrankung hinausgeht. Die Reduktion der Palliativmedizin auf terminale, sterbende onkologische Patienten entspricht nicht der hippokratischen Tradition.
Der Arzt versucht die Symptome durch eine breite Palette medizinischer Maßnahmen zu lindern, und lässt sich dabei nicht von einer Ethik der Téchne, sondern von einer Ethik der Menschlichkeit, also einfühlsamer Nächstenliebe zum Kranken leiten. Er ist bemüht zu helfen, auch wenn er nicht heilen kann. Er hat dabei auch die Lebensqualität des Patienten vor Augen.
Dem Arzt ist die Verantwortung für die Wahrung des Lebens bis zu seinem natürlichen Ende übertragen, worauf auch das Euthanasieverbot der hippokratischen Tradition beruht. Diese Haltung ist fern von jeglichem Utilitarismus bzw. Überlegungen über die Wertigkeit des Lebens. Auch dem chronisch Kranken sowie Sterbenden steht die gleiche Würde zu, religiöse Bezüge werden in der hippokratischen Tradition nicht ausgeklammert.
Wie aus dieser kurzen, sicher nicht vollständigen Aufzählung hervorgeht, sind die hippokratische Medizin und ihre Einstellung zum chronisch Kranken oder sterbenden Patienten nicht obsolet. Die auf ihren Grundsätzen beruhende palliative Haltung ist auch für den heutigen Mediziner aktuell: Miteinbeziehung der individuellen Prognose in die Therapie, strenge Indikationsstellung vor kurativen Therapieformen, Sinnorientiertheit, ganzheitliche medizinische Betreuung, Beachtung der Lebensqualität unter Wahrung der Würde der Person, Euthanasieverbot als Achtung vor dem Lebensschutz, Verantwortung für den Patienten bis zu seinem Tod, Einsatz breiter palliativer Mittel sowie die Betonung der Tugenden des Arztes, um nur einige zu nennen. Obwohl uns mehr als zwei Jahrtausende von Hippokrates trennen, sind die von seiner Maxime des „nil nocere“ abgeleiteten Grundsätze als Basis für palliativmedizinische Entscheidungen nach wie vor unentbehrlich und hilfreich.
Referenzen
- Spaemann R., Person ist der Mensch selbst, in Thomas H. (Hg), Menschlichkeit der Medizin, BusseSeewald, Herford (1993), S. 261
- Spaemann R., siehe Ref. 1
- Millard C. K., Euthanasia, London (1931)
- Singer P., Praktische Ethik, Reklam, Stuttgart (1984)
- vgl. von Lutterotti M., Der Arzt und das Tötungsverbot, in: Thomas H. (Hg), Menschlichkeit der Medizin, Busse Seewald, Herford (1993), S. 177f.
- Präambel, in: Satzung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), DGP, Dresden (2010)
- Sigerist H. E., Anfänge der Medizin, Zürich (1963), S. 690
- Vgl. auch Beck M., Hippokrates am Scheideweg, Ferdinand Schöningh, Paderborn (2001), S. 190
- Steger F., Das Erbe des Hippokrates, Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen (2008), S. 86
- vgl. Steger F., siehe Ref. 9, S. 91
- Platon, Hauptwerke, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart (1973)
- NT, Joh. 9,2
- Wolff U., Abschied von Hippokrates, Colloquium Verlag, Berlin (1981), S. 33.; Anm: allerdings scheint dies auch das erstere nicht auszuschließen, bei Homer finden sich auch die Überlegungen die Krankheit als Strafe der Götter, die Gesundheit als Geschenk zu betrachten (vgl. Bergdolt K., siehe Ref. 16, S.25.)
- vgl. Steger F., siehe Ref. 9, S. 96, mehr dazu: von Engelhardt D., Euthanasie in historischer Perspektive, Zeitschrift für medizinische Ethik (1993); 39: 15-25
- Das Recht auf Leben an gewisse Bedingungen zu binden ist uns nicht ganz fremd, nicht zuletzt durch die Ideologie des Marxismus und Nationalsozialismus.
- Bergdolt K., Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, Verlag C. H. Beck, München (2004), S. 39
- vgl. von Engelhardt D., siehe Ref. 14, S. 17
- Bergdolt K., siehe Ref. 16, S. 37
- vgl. Bergdolt K., siehe Ref.16, S. 40
- vgl. Steger F., siehe Ref. 9 S. 93
- vgl. Wolff U., siehe Ref. 13, S. 34
- vgl. Bergdolt K., siehe Ref. 16, S. 25
- vgl. Sigerist H. E., siehe Ref. 7, S. 723
- Bergdolt K., siehe Ref. 16, S. 31
- vgl. Wolff U., siehe Ref. 13, S. 60
- vgl. Steger F., siehe Ref. 9, S. 88
- vgl. Prioreschi P., Did the Hippocratic physician treat hopeless caces?, Gesnerus (1992); 49: 341-350
- vgl. Bergdolt K., siehe Ref. 16, S. 31
- vgl. Lichtenthaeler Ch., siehe Ref. 33, S. 199
- vgl. Wolff U., siehe Ref. 13, S. 48
- Wolff U., siehe Ref. 13, S. 62, vgl. auch Wittern R., Die Unterlassung ärztlicher Hilfeleistung in der griechischen Medizin der klassischen Zeit, Münchener Medizinische Wochenschrift (1979); 21: 121
- vgl. Edelstein L., Der Hippokratische Eid, Zürich (1969)
- Lichtenthaeler Ch., Der Eid des Hippokrates, Deutscher Ärzte-Verlag, Köln (1984), S.20
- vgl. Arz de Falco A., Zum Verhältnis von hippokratischem Eid und moderner Medizinethik, in: Ausfeld-Hafter B. (Hrsg.), Der hippokratische Eid und die heutige Medizin, Peter Lang Verlag, Bern (2003)
- vgl. Lichtenthaeler Ch., siehe Ref. 33, S. 183f.
- vgl. Golder W., Hippokrates und das Corpus Hippocraticum, Königshausen&Neumann, Würzburg (2007), S. 172
- Hippokrates, Sämtliche Werke, Lüneburg Verlag, München (1895), Bd I, S. 452
- lt. Bergdolt K. siehe Ref. 16, S. 26 kann man eine gewisse Art von psychosomatischen Ansätzen in der griechischen Medizin annehmen.
- Hippokrates, siehe Ref. 37, S. 451
- siehe Ref. 37
- vgl. Wittern R., siehe Ref. 31, S. 732
- siehe Ref. 31
- vgl. Bergdolt K., siehe Ref. 16 S. 41
- Hippocrates, siehe Ref. 37, S. 125
- vgl. Golder, siehe Ref.36, S. 174
- Hippocrates, siehe Ref. 37, S. 7
- Lichtenthaeler Ch., siehe Ref. 33, S. 189
- siehe Ref. 33
- Zit. nach Wittern R., siehe Ref. 31, S. 733
- vgl. Wittern R., siehe Ref. 31, S. 733
- vgl. Wolff U., siehe Ref. 13, S. 32ff.
- vgl. Glaser S., Hippocrates and Proctology, in: Proceedings of the Royal Society of Medicine (1969); 62: 380-381
- Bergdolt K., siehe Ref. 16, S. 41
- vgl. Wittern R., siehe Ref. 31
- vgl. Wittern R., siehe Ref. 31, S. 733
- vgl. Lichtenthaeler Ch., siehe Ref. 33, S. 189
- vgl. Bergdolt K., siehe Ref. 16, S. 31f.
Dr. Jan Stejskal
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