Euthanasie – Entwicklungen in Europa
Es ist ein wahrer Krimi, der seit Jahren weltweit auf dem Gebiet der Euthanasie zu verfolgen ist; die jüngsten Entwicklungen spielten sich trotz ihrer ausgesprochenen Brisanz und Aktualität eher im Hintergrund, fernab vom breiten medialen Echo, ab.
Doch werfen wir zunächst einen Blick in die bisherige Geschichte: Schon mehrmals hat man sich im Europarat mit der Thematik der Euthanasie unter unterschiedlichen Vorzeichen beschäftigt: Im Jahr 1999 wurde die „Empfehlung 1418 betreffend den Schutz der Menschenrechte und der Würde todkranker und sterbender Menschen“ als eine Reaktion von Edeltraud Gatterer auf eine Empfehlung aus dem Jahr 1995, die sich in mancher Hinsicht positiv zur Beschleunigung der Herbeiführung des Todes äußerte, mit überwältigender Mehrheit von der parlamentarischen Versammlung des Europarates angenommen. Diese Empfehlung wurde in den Folgejahren mehrmals vom Ministerrat ausdrücklich kommentiert und gutgeheißen. Erneute Brisanz und auch internationale Aufmerksamkeit bekam das Thema der Euthanasie durch die Bemühungen der Britin Diane Pretty, vom Europäischen Gerichtshof (EGH) für ihren Ehemann die Garantie der Straffreiheit zu erlangen, sollte dieser ihr beim Selbstmord, den sie selber aufgrund ihrer Krankheit und der daraus resultierenden Lähmung selbstständig nicht vollziehen konnte, helfen. Der EGH bezog sich in seiner Entscheidung auch direkt auf die Empfehlung 1418, wodurch die Bedeutung dieses Dokumentes nochmals unterstrichen wurde.
Nachdem in der Zwischenzeit im Jahr 2002 in den Niederlanden und in Belgien die Euthanasiegesetze in Kraft getreten sind, die Ärzten, die die Tötung eines Menschen unter bestimmten Voraussetzungen vornehmen, Straffreiheit gewährleisten, wurde im Europarat vom belgischen Senator Philippe Monfils ein Antrag eingebracht, in dem er dazu anhält, sich eine solche Gesetzgebung auch für das übrige Europa ernsthaft zu überlegen. Der Ausschuss für Soziales, Gesundheit und Familie griff das Thema auf internationaler Ebene erneut auf und veranstaltete zu diesem Zweck im Oktober 2002 eine – kritischen Stimmen zufolge recht einseitig besetzte – Expertenanhörung in Paris zum Thema „Euthanasie“. Der Schweizer liberale Abgeordnete Dick Marty wurde im Anschluss daran damit beauftragt, einen Bericht zu verfassen und diesen zur Diskussion und Abstimmung dem Ausschuss vorzulegen. Im September 2003 erfolgte schließlich nach intensiver Debatte und mit nur knapper Stimmenmehrheit (14 gegen 12 Stimmen) die Annahme des Berichtes als Resolutionsentwurf für die Parlamentarische Versammlung des Europarates. In diesem Bericht wurde versucht, den Weg zur Entscheidung für eine europaweite euthanasie-begünstigende Gesetzgebung zu bahnen. Die Kluft zwischen der alltäglichen Praxis und dem Recht müsse geschlossen werden, indem man die strikten gesetzlichen Bestimmungen der gängigen Praxis anpasse. Durch eine gesetzliche Reglementierung wären Auswüchse zu verhindern. Mehrmals wurde das Thema der Euthanasie auf die Tagesordnung der parlamentarischen Versammlung des Europarates gesetzt, doch kurz vorher immer wieder von der Tagesordnung genommen.
Im April 2004 war es dann soweit, dass der Bericht als Vorlage für eine Diskussion im Plenum dienen sollte: nach etwa zweistündiger Debatte wurde der Bericht auf Vorschlag des Ausschusses für Soziales mit 68 zu 33 Stimmen an den Ausschuss zur erneuten Überarbeitung zurückverwiesen mit der Auflage, spätestens bis April 2005 der parlamentarischen Versammlung einen neuen Bericht zur Abstimmung vorzulegen.
Dieser so genannte 2. Marty-Bericht verwendete auf Vorschlag des Ausschusses als Titel nicht mehr den klaren und eindeutigen Begriff der „Euthanasie“, sondern stattdessen die Formulierung „Assistance to ill persons at end of life“, worunter man – als Nichtsahnender und Unwissender – ein einschlägiges und feuriges Plädoyer für die Forcierung und Unterstützung der Palliativmedizin vermuten hätte können. Gleich zu Beginn des neuen Berichtes wurde auf die ursprüngliche Empfehlung 1418 Bezug genommen und die neue Diskussion und damit auch das vorliegende Papier als sinnvolle und notwendige Erweiterung zu ihr dargestellt. Keinesfalls stehe der neue Bericht im Widerspruch zu der damals mit so großer Mehrheit angenommenen Empfehlung. Der Berichterstatter schlug sodann vor, den verfänglichen oder, wie es in den Erläuterungen heisst, mit düsteren Untertönen beladenen Begriff der Euthanasie durch den deutschen Begriff der Sterbehilfe und auf Englisch durch „Assistance at end of life“ zu ersetzen, wenn auch diese Begriffe ihre Einschränkungen haben. Es folgten Vorschläge und Empfehlungen, in denen die Regierungen aufgefordert werden, eine wirkliche Politik für die Versorgung von Patienten in der letzten Lebensphase auszuarbeiten und umzusetzen. Der Bericht forderte nicht explizit zu einer Übernahme des holländischen und belgischen Leitbildes der Euthanasie auf, rief jedoch zu einer objektiven und tiefgehenden Analyse der Erfahrungen mit der Anwendung der Gesetzgebung in diesen Staaten auf.
Am 27. April 2005 wurde der vorliegende Resolutionsentwurf schließlich nach dreistündiger hitziger Debatte von den Parlamentariern aus den 46 Europaratsländern mit großer Mehrheit (138 gegen 26 Stimmen, 5 Enthaltungen) abgelehnt. Somit behält der so genannte Gatterer-Bericht aus dem Jahr 1999 nach wie vor Gültigkeit.
Wir haben die Entwicklungen der Euthanasie-Gesetzgebung in den Niederlanden und Belgien in den letzten Jahren über die Medien verfolgt: Nachdem die beiden Euthanasiegesetze in den Niederlanden im April 2002 und in Belgien im September 2002 in Kraft getreten waren, gab es in beiden Ländern bis zum heutigen Zeitpunkt zahlreiche Bestrebungen, diese Gesetzgebung weiter auszudehnen. Zunächst erfolgte in den Niederlanden die Miteinbeziehung von Minderjährigen ab dem 16. Lebensjahr, wobei diese Altersgrenze in der Praxis nie wirklich scharf gezogen wurde. So wurde im Einvernehmen mit den Eltern in Ausnahmefällen durchaus auch die Tötung von 12-Jährigen für legal erklärt. Anschließend kamen Bestrebungen auf, das Gesetz auch auf Neugeborene auszuweiten. Das so genannte „Groningen-Protokoll“ listet als Produkt einer Zusammenarbeit von Kinderärzten von acht Universitätskliniken einige Kriterien auf, die von den tötenden Ärzten bei der Neugeborenen-Euthanasie einzuhalten wären. Wesentlicher Motor und Mentor dieser Initiative, die die rechtlichen Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Neugeboreneneuthanasie klären will, ist Eduard Verhagen, Chefarzt der Universitätskinderklinik in Groningen. Die angeführten Kriterien würden jährlich auf 15 bis zwanzig Neugeborene mit schweren Schädigungen in den Niederlanden zutreffen. Im frappanten Kontrast dazu stehen die offiziell gemeldeten Euthanasiefälle: zwischen 1997 und 2004 waren lediglich 22 Fälle registriert worden. Darüber berichtete Mitte Januar die Zeitschrift „Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde“. In all diesen dokumentierten Fällen stellte die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ein. Die medizinische Fachzeitschrift „The Lancet“ brachte im April einen Artikel vom University Medical Centre Rotterdam, demzufolge die Häufigkeit der aktiven Sterbehilfe bei Kindern seit Einführung der neuen, liberaleren Regelungen nicht gestiegen sei.
Auch in Belgien, in dessen Gesetzgebung von Anfang an auch psychische Leiden in die Euthanasieregelung miteinbezogen waren, wird nun die Legalisierung der Euthanasie bei schwer kranken Neugeborenen angestrebt. So berichtete kürzlich „The Lancet“ von einer Analyse der Todesscheine aller Neugeborenen und Kinder in ganz Flandern, die zwischen August 1999 und Juli 2000 gestorben waren. Bei 292 Neugeborenen, welche lebend zur Welt gekommen, aber innerhalb der ersten 12 Lebensmonate gestorben waren, wurde, nach einer Befragung der involvierten Ärzte mittels anonymen Fragebögen, in 57 Prozent der Fälle, also bei 143 Neugeborenen, im Einvernehmen mit den Eltern Sterbehilfe entweder durch Abbruch oder Vorenthalten der Intensivbehandlung, Verabreichung potentiell lebensverkürzender Schmerzmittel oder gezielte medikamentös verursachte Lebensbeendigung vorgenommen.
Und schließlich gibt es nun weitere Bemühungen, das Gesetz auch auf nicht einwilligungsfähige Menschen anwenden zu können. Dass man es mit der Freiwilligkeit und dem ausdrücklichen Verlangen auch bisher nicht ganz so genau genommen hat, zeigen sowohl Theorie als auch Praxis. Eine Ausweitung des Gesetzes auf nicht zustimmungsfähige Menschen würde sicherlich zu einem weiteren Dammbruch in der Euthanasiepraxis führen. Bereits im Mai 2005 wurde nun der erste Fall von Euthanasie an einem Alzheimerpatienten bekannt. Der aktuelle Fall wurde im Euthanasiebericht des Jahres 2004 dokumentiert, der von den fünf zuständigen regionalen Kontroll-Kommissionen des Landes herausgegeben worden war. Bei Durchsicht der Chronologie zeigt sich, dass die Entscheidungsgrundlage im vorliegenden Fall doch nicht eindeutig, sondern im Gegenteil sogar äußerst umstritten war. Der ärztliche Zweitgutachter kam nach Prüfung der medizinischen Lage des Patienten nämlich zum Schluss, dass in diesem Fall kein unerträgliches Leiden vorherrsche, da sich der Mann mit Fortschreiten der Demenz seines Leidens immer weniger bewusst werden würde. Weiters bezweifelte er die Fähigkeit des Mannes, seine eigenen und reiflich überlegten Wünsche auszudrücken. Damit wären bereits zwei der gesetzlich verankerten Kriterien für eine legale Tötung nicht erfüllt. Es folgten im konkreten Fall weitere Gespräche mit Psychologen und Gerontologen, welche in ihrer Stellungnahme darauf hinwiesen, dass der Mann sehr wohl unerträglich leide, da er sich dessen bewusst war, im Verlauf seiner Alzheimer-Erkrankung die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.
Die bisher offiziell verfügbaren Daten über das Ausmaß der Euthanasie in den Niederlanden wecken auch bei offiziellen Gremien des Landes Zweifel über deren Korrektheit. 2002 seien 1882, im Jahr 2003 1815 und im Jahr 2004 1886 Fälle von Euthanasie gemeldet worden. Reina de Valk, die Vorsitzende der Kontrollkommission, geht von einer etwa doppelt so hohen Dunkelziffer von Euthanasiefällen aus.
Mitte April zeigte sich nun auch in Belgien eine neue besorgniserregende Entwicklung. Um die Durchführung von Euthanasien nicht auf die Großbetriebe von Krankenhäusern zu konzentrieren und zu beschränken, wurde für die Hausärzte ein so genanntes „Euthanasie-Kit“ zum Erwerb über etwa 250 belgische Apotheken zugänglich gemacht. Dieses Set beinhaltet als Medikamente Pentothal und Norcuron sowie die für die tödliche Injektion notwendigen Instrumente. Überschüssige Medikamente sollten laut Gebrauchsanweisung wieder an die Apotheken zurückgebracht werden, um jeglichen Missbrauch zu vermeiden. Ende April 2005 wurde im belgischen Parlament darüber diskutiert, dieses Set auf die notwendige letale Medikamentenmenge zu beschränken sowie dessen Preis von bisher 60,– bis 70,– Euro auf erschwingliche etwa 30,– Euro herabzusetzen.
Es sind jedoch nicht nur die beiden Staaten Niederlande und Belgien, die im Zusammenhang mit der Euthanasie von sich hören lassen. Während in zahlreichen Ländern gesetzliche Regelungen der Sterbehilfe diskutiert und zum Teil auch schon verabschiedet wurden, gibt es nach dem von großem medialen Echo begleiteten Fall Terri Schiavo in Kalifornien nun Bestrebungen, ein „Selbstmord-Hilfe-Gesetz“, sprich Euthanasiegesetz, zu verabschieden. Bisher gibt es die Erlaubnis für aktive Sterbehilfe lediglich in einem der 50 US-Bundesstaaten, nämlich in Oregon, wo seit der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe im Jahr 1997 208 Menschen auf Verlangen tödliche Medikamente verschrieben bekamen. Das angestrebte Gesetz in Kalifornien soll bei Vorliegen entsprechender Bedingungen den Medizinern bei Leistung aktiver Sterbehilfe Straffreiheit zugestehen. So darf beispielsweise nur ein unheilbar kranker Einwohner Kaliforniens mit einer Lebenserwartung von weniger als sechs Monaten um aktive Sterbehilfe bitten. Der Wunsch muss zweimal mündlich und einmal schriftlich formuliert werden. In den Erläuterungen des Gesetzentwurfes werden sogar Mustersätze angeführt, die demonstrieren sollen, wie der Patient um aktive Sterbehilfe bitten könne. Auch im Bereich der Medien scheint sich langsam immer mehr eine euthanasie-befürwortende Position einzuschleichen. Nicht zuletzt auch durch die beiden mit Oscars preisgekrönten Filme, die zwar die Euthanasie nicht als eine unumstrittene Handlung darstellen, aber dennoch eine positive Wertung der Tötung auf Verlangen übermitteln und wie ein Euthanasie-Plädoyer anmuten. So stellt der Film „Million Dollar Baby“ von Clint Eastwood das Leben einer jungen Boxerin dar, die nach einer schweren Verletzung von ihrem Trainer aus Mitleid getötet wird. Im spanischen Film „Mar adentro“ von Alejandro Amenabar geht es um die authentische Darstellung des Sterbens von Ramon Sampedro, der nach einem Badeunfall querschnittsgelähmt ans Bett gefesselt den Sterbewunsch äußert und schließlich durch einen von dritter Hand gereichten Zyankalitrunk stirbt.
Niemand wird daran zweifeln, dass die Begleitung terminal kranker und sterbender Menschen eine dringliche Aufgabe unserer Gesellschaft und unseres Gesundheitssystems darstellt. In einer Zeit, in der das Band der Familie sich vielfach zu lösen droht und Menschen in den letzten Augenblicken ihres Lebens oft ganz auf sich gestellt sind, ist die konkrete soziale und politische Auseinandersetzung mit dem Thema der Versorgung sterbender Menschen aktuell und dringlich wie nie zuvor. Doch dürfen wir uns nicht einreden lassen, dass die gesetzlichen Regelungen in Holland und Belgien reale Lösungsvorschläge darstellen. Eine solche Vorstellung würde über das eigentliche Problem hinwegtäuschen. Die Lösungen müssen im Bereich der Palliativmedizin gesucht werden: fachliche Kompetenz, menschliche Wärme, Bereitschaft zur Hilfe, dies müssen die Zielvorgaben in der Betreuung sterbender Menschen sein. Die schleichenden Entwicklungen auf internationaler Ebene in Bezug auf die Euthanasie müssen mit einem sehr wachen und aufmerksamen Auge beobachtet werden. Das allein aber ist zu wenig. Auf gesellschaftspolitischer Ebene wird man sich fragen müssen, warum immer mehr Menschen am Ende ihres Lebens allein ohne Familie dastehen, und sich dann völlig überflüssig vorkommen? Man wird zeigen müssen, dass der individualistisch-materialistische Lebensstil unserer modernen Gesellschaft die Hoffnung auf den Himmel auf Erden weder erfüllt noch erfüllen kann. Es gilt jedenfalls, alle möglichen und notwendigen Mittel einzusetzen, um zu verhindern, dass der Euthanasie auf irgend nur erdenkliche Weise Vorschub geleistet wird, und dass sich die in den Niederlanden und in Belgien bereits gängige Praxis mit all ihren Formen des Missbrauchs auf die anderen Länder ausbreitet.
Dr. Marion Stoll, Imabe-Institut
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
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