Der Fall Schiavo aus medizinischer Sicht

Imago Hominis (2005); 12(2): 139-140
Christoph Gisinger

Die Auseinandersetzung um den Tod von Teresa „Terry“ Maria Schiavo am 31. März 2005 hat die Medien-Berichterstattung der ganzen Welt beherrscht und viele Menschen tief bewegt. Was ist das Besondere an diesem Fall und wie würde sich ein solcher Fall in Österreich darstellen?

Terry Schiavo erlitt am 25. Februar 1990 einen Herzstillstand (Kammerflimmern), vermutlich infolge Hypokaliämie bei bekannter Bulimie. Aus der dadurch verursachten hypoxisch-ischämischen Encephalopathie resultierte ein apallisches Syndrom (Wachkoma). Dabei handelt es sich um einen Zustand, bei dem die lebenswichtigen vegetativen Funktionen (Kreislauf, Atmung) voll erhalten sind. Da jedoch der Schluckakt nicht funktioniert, ist die Ernährung über eine Magensonde erforderlich. Bei den Patienten können Wach- und Schlafphasen unterschieden werden. Im wachen Zustand haben sie die Augen geöffnet, sie sind jedoch – im Stadium des Vollbildes dieses Syndroms – nicht in der Lage zu fixieren oder sonst mit der Umgebung bewusst Kontakt aufzunehmen. Bei guter Pflege können Patienten im Vollbild des apallischen Syndroms viele Jahre überleben. Meist trägt gute Pflege und Betreuung – selbst nach Monaten und Jahren – dazu bei, dass eine mehr oder weniger ausgeprägte Verbesserung (Unterscheidung in acht Remissionsphasen) erreicht werden kann.

Laut Sachverständigengutachten (abweichende Gutachten wurden von den Eltern und Geschwistern der Patientin beigebracht und seitens der Gerichte in der Beweiswürdigung wegen nicht ausreichender Fundierung ausgeschieden) scheint bei Terry Schiavo ein Vollbild eines apallischen Syndroms ohne Remissionstendenz bestanden zu haben. Gestützt auf eine in den USA seit vielen Jahren bestehende Judikatur wurde die Sondenernährung auch in diesem Fall als medizinische „Therapie“ betrachtet, die bei Nicht-Zustimmung des Betroffenen oder seines Bevollmächtigten beendet werden muss. Tatsächlich dürfte es in den USA alljährlich in vielen ähnlich gelagerten Fällen genau zu solchen Entscheidungen kommen. Das Besondere am Fall Terry Schiavo war zusätzlich der Konflikt zwischen dem Ehemann der Patientin, Michael Schiavo, und der Familie Schindler, den Eltern und Geschwistern der Patientin. Auf Grund einer besonderen gesetzlichen Regelung des Bundesstaates Florida hat in solchen Fällen die Beurteilung und Entscheidung durch den Ehepartner größeres Gewicht. Eine Regelung, die in der politischen Auseinandersetzung auch nicht in Frage gestellt wurde. Somit entsprach die schließlich durch die Gerichte bestätigte Entscheidung, die Magensonde zu entfernen und dadurch das Leben von Terry Schiavo zu beenden, der Rechtssituation und langjährigen Judikatur in den USA.

Gibt es ähnlich gelagerte Fälle auch in Österreich? Wie hätten wir entschieden? Wie häufig wird bei uns eine Sondenernährung beendet?

Insgesamt werden in Österreich jährlich rund siebzig apallische Syndrome neu diagnostiziert, insgesamt 400 Patienten mit apallischem Syndrom oder in einer Remissionsphase werden in Österreich betreut. Im Haus der Barmherzigkeit betreuen wir durchschnittlich 28 Patienten auf einer Spezialstation. Häufigste Ursachen des apallischen Syndroms sind die Folgen von Unfällen, Reanimationen nach kardiovaskulären Ereignissen, Vergiftungen oder Operationskomplikationen. Es handelt sich also um plötzlich eintretende medizinische Notfälle, die ausnahmslos intensivmedizinisch betreut worden sind. Eine Betreuung, die immer auch irgendeine Form der „künstlichen“ Ernährung, meist mittels Magensonde, umfasst.

Somit ergibt sich bei diesen Patienten so gut wie nie die Frage, ob eine Sondenernährung neu begonnen werden muss, sondern, ob eine bestehende Ernährung abgebrochen werden soll. Im Unterschied zu den USA wird in Österreich – so wie auch in den meisten anderen Ländern Europas – Ernährung als ein Grundrecht angesehen und nicht als eine medizinische „Therapie“. Die Verweigerung der Nahrungszufuhr – egal mit welcher Methode – wäre gleichzusetzen mit der Verweigerung diverser anderer Pflege- und Betreuungsleistungen, wie z. B. Umlagerung zur Decubitusprophylaxe, Inkontinenzpflege und andere.

Gemeinsam mit allen in Österreich im Bereich Wachkoma arbeitenden Kollegen ist es meine tiefe Überzeugung, dass keine noch so aussichtslose medizinische Prognose uns das Recht gibt, eine an sich mögliche und effektive Nahrungszufuhr abzustellen. Insofern würde ein Fall Terry Schiavo in Österreich anders ausgehen. Naturgemäß gibt es aber auch bei uns Situationen, in welchen das Ausmaß von diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen bei diesen Patienten diskutiert werden muss. Unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Patientenwillens und nach Einbeziehung der Angehörigen und des gesamten Betreuungsteams kann hier die Letztentscheidung nur durch den behandelnden Arzt erfolgen, bei Konflikten allerdings immer nach dem Grundsatz: „in dubio pro vita“.

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Christoph Gisinger
Haus der Barmherzigkeit
Seeböckgasse 30a, A-1160 Wien
Christoph.Gisinger(at)hausderbarmherzigkeit.at

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