Schlussdokument der 9. Generalversammlung „Ethik der biomedizinischen Forschung aus christlicher Sicht“
1. Die 9. Generalversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben fand vom 24. – 26. Februar im Vatikan statt. Sie widmete sich dieses Jahr einem entscheidenden Thema von großer gesellschaftlicher Bedeutung, nämlich der „Ethik der biomedizinischen Forschung aus christlicher Sicht“.
Es ist offensichtlich, dass sich die Biomedizin besonders in den letzten Jahren auf außerordentliche Weise weiterentwickelt hat, unterstützt von den enormen Fortschritten in Technologie und Computerwissenschaften, die die Möglichkeiten für Versuche an lebenden Wesen, besonders auch am Menschen, stark ausgeweitet haben. Gigantische Durchbrüche haben auf den Gebieten der Genetik, der Molekularbiologie, bei Transplantationen und in den neurologischen Wissenschaften stattgefunden.
Mehr denn je ist heute die biomedizinische Forschung an der Weiterentwicklung der Medizin beteiligt, wie auch der Hl. Vater selbst erst jüngst betonte: „Es ist eine anerkannte Tatsache, dass Verbesserungen bei der Behandlung ernster Erkrankungen in erster Linie auf Fortschritte der Forschung zurückzuführen sind.“1
2. Unter den gegenwärtigen Umständen scheint jede neue Entdeckung der Biomedizin dazu bestimmt zu sein, lawinenartig viele neue Aussichten und Möglichkeiten für Diagnose und Behandlung zahlreicher noch unheilbarer Krankheiten zu eröffnen.
Offensichtlich verlangt der Erwerb wachsender technischer Eingriffsmöglichkeiten in die Umwelt, in andere Lebewesen und nicht zuletzt den Menschen und das Erreichen von entscheidenden und permanenten Resultaten von Wissenschaftern und Gesellschaft insgesamt eine deutlich größere Verantwortung, proportional zu der Schwere der Eingriffe. Daraus folgt, dass die experimentellen Wissenschaften und die Biomedizin selbst, als Werkzeuge in menschlicher Hand, nicht in sich vollkommen sind, sondern dass sie zu bestimmten Zielen hingelenkt werden sollen, und mit der Welt der Werte in Verbindung gebracht werden müssen.
3. Die primäre Kraft dieses kontinuierlichen Prozesses einer „ethischen Orientierung“ ist eindeutig die Person des Menschen. In unteilbarer Einheit von Körper und Seele, charakterisiert sich der Mensch durch seine Fähigkeit in Freiheit und Verantwortlichkeit das Ziel seiner Handlungen zu bestimmen, wie auch die Mittel um es zu erreichen. Sein brennender Wunsch nach Wahrheitssuche, ein Teil seiner Natur und seiner spezifischen Berufung, findet eine unentbehrliche Hilfe in der Wahrheit selbst, Gott, der kommt um den Bedürfnissen der Menschen zu begegnen und der ihnen Sein Gesicht in der Schöpfung enthüllt. So begünstigt und unterstützt Gott also die Anstrengungen des Menschen und befähigt ihn, so viele „Keime der Wahrheit“ in der Wirklichkeit zu erkennen, und schließlich in die Einheit mit der Wahrheit selbst einzutreten, die Er ist.
Im Prinzip gibt es daher für die Erkenntnis der Wahrheit keine ethischen Grenzen; das heißt, es gibt keine „Mauern“ jenseits derer es dem Menschen verboten ist, seine Erkenntniskraft anzuwenden: Weise hat der Hl. Vater den Menschen als den definiert, „der die Wahrheit sucht“2; aber andererseits gibt es sehr wohl genaue ethische Grenzen dafür, wie der Mensch, der nach der Wahrheit sucht, handeln soll, weil „das, was technisch machbar ist, deshalb noch nicht moralisch erlaubt ist“.3 Es ist daher die ethische Dimension des Menschen, die er konkret durch die Entscheidungen seines moralischen Gewissens anwendet, die die existentielle Güte seines Lebens ausmacht.
4. In der Bemühung, die objektive Wahrheit in jeder Kreatur zu erforschen und zu erkennen, fällt den Wissenschaftern, die aufgerufen sind für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Menschen zu arbeiten, auf dem Gebiet der Biomedizin eine besonders wichtige Aufgabe zu: das letzte Ziel jeder Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet muss das ganzheitliche Wohl des Menschen sein. Die verwendeten Mittel müssen die unveräußerliche Würde jedes Menschen als Person, sein Recht auf Leben und seine wesentliche physische Integrität zur Gänze respektieren.
Um nicht falsch verstanden zu werden, wollen wir zusammen mit Papst Johannes Paul II wiederholen: „Die Kirche respektiert und unterstützt wissenschaftliche Forschung, wenn sie eine wirklich menschliche Zielrichtung aufweist, jede Form der Instrumentalisierung oder Zerstörung des Menschen vermeidet und sich von der Sklaverei politischer oder ökonomischer Interessen fernhält.“4
Aus dieser Perspektive muss den Tausenden von Ärzten und Forschern auf der ganzen Welt, die ihre Energien jeden Tag, großzügig und mit großer Professionalität, dem Dienst an den Leiden und der Behandlung von Krankheiten widmen, größtmögliche Dankbarkeit ausgedrückt werden. Weiters rief der Papst in Erinnerung, dass „alle, Gläubige und Ungläubige, die Anstrengungen der Biomedizin, die nicht nur dazu bestimmt sind, uns mit den Wundern des menschlichen Körpers vertraut zu machen, sondern auch würdige Standards für Leben und Gesundheit der Völker unseres Planeten zu fördern, anerkennen und ihnen aufrichtige Unterstützung ausdrücken“5.
5. Aus den bereits erwähnten Gründen kann und muss man von einer „Ethik der biomedizinischen Forschung“ sprechen, die sich tatsächlich in den letzten 30 Jahren zunehmend entwickelt und zu Wort gemeldet hat. Christliches Denken konnte auch wichtige Beiträge zu dieser Entwicklung liefern, indem es bestimmte neue Probleme im Licht seiner ursprünglichen anthropologischen Sicht zum Vorschein bringt. Historisch können mindestens zwei Themen als Beispiel für die Aufmerksamkeit angeführt werden, die die Gemeinschaft der Christen der Welt der biomedizinischen Forschung widmet: Der Ruf nach Respekt für die Person, wenn er oder sie das Forschungssubjekt darstellt, besonders im Fall der nicht direkt therapeutischen Versuche; und als zweites die Betonung der engen Verbindung zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und dem Individuum, die im gesamten Prozess der Forschung auf dem Spiel steht.
6. So ist es für die Synergie der verschiedenen betroffenen Wissenschaften also notwendig, sich bei der Erarbeitung eines Wegweisers für die biomedizinische Forschung, der die wahre Würde der menschlichen Person respektiert, auf eine gemeinsame Methodik zu einigen, die die komplexe wesentliche Einheit des Menschen in Betracht zieht. Zu diesem Zweck erscheint der Vorschlag der so genannten 3-Ecks-Methode passend. Sie unterscheidet drei Phasen:
Die Darlegung der biomedizinischen Daten; die Prüfung der Konsequenzen für die menschliche Person und die Untersuchung der Werte, die zum Vorschein kommen; und schließlich die Ausarbeitung der ethischen Normen, die die Arbeit derjenigen leiten sollen, die in einer diesbezüglichen Situation stehen, in Übereinstimmung mit den Bedeutungen und Werten, die zuvor identifiziert wurden.
7. Ein weiteres sehr wichtiges Thema in Verbindung mit der biomedizinischen Forschung ist die Frage des therapeutischen und nicht-therapeutischen Experimentierens, und zwar aus dem Blickwinkel seiner Anwendung auf den Menschen. Es beinhaltet viele problematische Aspekte von sowohl wissenschaftlicher als auch ethischer Natur. So ist es zum Beispiel unabdingbar, von den mit dem Versuchsprojekt beschäftigten Forschern einen hohen professionellen Standard und eine Methodik zu verlangen, die strikt anzuwendende Prozesskriterien vorgibt. Außerdem ist es ethisch notwendig, dass die Person, die das Experiment durchführt, und ihre Mitarbeiter totale persönliche und professionelle Unabhängigkeit hinsichtlich möglicher Interessen bewahrt (finanziell, ideologisch, politisch, etc.), die nicht in Verbindung mit dem unmittelbaren Forschungsziel stehen, und zum Besten der betroffenen Versuchsobjekte und eines echten Fortschritts der Menschheit sind.
8. Abgesehen davon möchten wir die Notwendigkeit von ausreichenden Tierversuchen vor einer Anwendung auf den Menschen (der klinischen Phase) unterstreichen, die den Forschern Wissen über mögliche Schäden und Risiken verschaffen, um die Sicherheit der betroffenen Menschen bestmöglich zu garantieren. Natürlich müssen auch Tierversuche unter Beachtung von präzisen ethischen Normen durchgeführt werden, um soweit als möglich die Sicherheit der betroffenen Tiere zu gewährleisten.
9. Besondere Aufmerksamkeit muss auch der Behandlung von menschlichen „Forschungsobjekten", die besonders verletzbar aufgrund ihrer Lebensumstände sind, geschenkt werden, wie das Beispiel der menschlichen Embryos klar zeigt. Aufgrund ihres heiklen Entwicklungsstadiums würden Experimente an ihnen im Lichte der gegenwärtigen technologischen Fortschritte ein sehr hohes – und daher ethisch inakzeptables – Risiko für bleibenden Schaden oder Tod beinhalten.
Ebenso inakzeptabel ist die Haltung mancher bezüglich der Legitimität von Verlusten der (physischen und genetischen) Integrität des Menschen im Embryostadium, um sie, wenn notwendig, sogar ganz zu zerstören, um anderen menschlichen Wesen zu nützen. Es ist moralisch nie erlaubt, Böses zu tun, um in sich gute Ziele zu erreichen.
Außerdem sollte man sich bewusst sein, dass der Mensch im Embryostadium, obwohl ihm der volle Respekt eines menschlichen Individuums zusteht, nicht in der Lage ist, seine persönliche Zustimmung zu Versuchen zu geben, die ihn einem großen Risiko aussetzen, ohne Chance eines direkten therapeutischen Vorteils für ihn selbst. Deswegen können Versuche am menschlichen Embryo, die nicht direkte Vorteile für seine/ihre Gesundheit zum Ziel haben, nicht als moralisch zulässig angesehen werden.
10. Der gegenwärtige Prozess einer fortschreitenden Globalisierung des gesamten Planeten, dessen Folgen nicht immer positiv erscheinen, treibt uns an, über die biomedizinische Forschung unter den Gesichtspunkten ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Folgen nachzudenken.
Wenn man die wachsende Beschränkung der Ressourcen in Betracht zieht, die für die Entwicklung der biomedizinischen Forschung vorhanden sind, so ist es in der Tat notwendig, großes Augenmerk auf eine gerechte Verteilung zwischen den Ländern zu legen, unter Beachtung der Lebensbedingungen in den verschiedenen Teilen der Erde und der Dringlichkeit der Primärbedürfnisse der ärmsten und am härtesten geprüften Völker. Das heißt, dass allen die Bedingungen und Mindesterfordernisse garantiert werden sollten, so dass sie in den Genuss der Vorteile kommen, die aus der Forschung erwachsen, und dass sie ihre eigene Fähigkeit zu forschen entwickeln und erhalten können.
11. Was die Legislative betrifft, so drücken wir – nochmals – unsere Hoffnung und Empfehlung aus, dass man zu einer internationalen Gesetzgebung mit vereinheitlichtem Inhalt gelangen kann, basierend auf den Werten, die die Natur des Menschen vorgibt. Auf diese Weise könnte man die Ungleichheiten ausschalten, die häufig Missbrauch und Ausbeutung sowohl des Einzelnen wie auch ganzer Völker ermöglichen.
12. Schließlich, unter Anerkennung des enormen Einflusses der Massenmedien auf die Bildung einer öffentlichen Meinung und der wichtigen Rolle, die ihnen durch das Hervorrufen von Erwartungen und Wünschen, die mehr oder weniger fundiert sind, bei der breiten Öffentlichkeit zukommt, erscheint noch notwendiger, dass die Menschen, die sich mit dem biomedizinischen Sektor oder mit Bioethik beschäftigen, eine besonders gute Ausbildung sowohl in der Wissenschaft als auch in der Ethik haben, um die Fakten auf einfache, klare Weise zu kommunizieren, ohne Verwirrung oder Missverständnisse zu stiften.
13. Zum Abschluss möchte die Päpstliche Akademie für das Leben mit großer Freude und einem großen Verantwortungsgefühl ihre Hingabe an die „Sache des Lebens“ erneuern, in ernstlicher und respektvoller Zusammenarbeit mit allen, die auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung beschäftigt sind. Wie auch der Papst selbst in seiner jüngsten Ansprache an die Päpstliche Akademie für das Leben sagte: „Auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung kann die Akademie für das Leben eine Stelle der Bezugnahme und der Erleuchtung sein, nicht nur für christliche Forscher sondern für alle, die auf diesem Gebiet unter dem Gesichtspunkt arbeiten, wirklich das Beste für den Menschen zu tun“.6 Die wichtigste Aufgabe der Akademie besteht nach wie vor darin, der Kirche, der Gesellschaft auf jedem Niveau und besonders der Gemeinschaft der Wissenschafter den ihr zueigen liegenden Dienst zugänglich zu machen, welcher Studium, Bildung und Information umfasst. So soll versucht werden, der gesamten Gesellschaft die Werte aufzuzeigen, die in der Würde des Menschen begründet liegen und unabdingbar sind, wenn wir wirklich das Beste für jeden Menschen und den ganzen Menschen wollen, mit dem Ziel, aus ebendiesen Werten die ethischen Direktiven abzuleiten, die jene in ihren täglichen Mühen anleiten können, die auf diesem Gebiet arbeiten.
24. – 26. Februar 2003
Referenzen
- Johannes Paul II, Ansprache vor den Teilnehmern der 9. Generalversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben, 24. Februar 2003, n. 2; ORE, 5. März 2003, S. 4
- Fides et ratio, n. 28
- Kongregation der Glaubenslehre, Donum Vitae, n. 4
- Ansprache vor den Teilnehmern der 9. Generalversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben, 24. Februar 2003, n. 4; ORE, 5. März 2003, S. 4
- ibid., n. 2
- ibid., n. 3