Abschiednehmen in Würde. Leid, Sterben und Tod aus der Sicht der Logotherapie und Existenzanalyse
Zusammenfassung
Die Beschäftigung mit existentiellen Fragen stellt ein wesentliches Kennzeichen der sinnzentrierten Psychotherapie dar. Der Sinnbegriff und sein Bezug zu Tod und Sterben kann im Rahmen der Thanatopsychologie empirisch nachgewiesen werden. Die integrative Bedeutung des Sinnbegriffs wird in der ganzheitlichen Betrachtungsweise von Leben, Sterben und Tod sichtbar. Im Leiden und Sterben eines Menschen wird seine Würde transparent. Der sinnvolle Umgang mit Leid, Sterben und Tod zeigt sich im Annehmen des Todes, im verantwortungsbewußten Handeln und in einer würdevollen Sterbebegleitung, die Menschen in ihrer existentiellen Not annimmt und sie erleben läßt, daß sie ihren Wert und ihre Würde durch all das Leid und Sterben hindurch bewahren.
Schlüsselwörter: Sinnbegriff, thanatopsychologische Untersuchungen und Sinnerleben, Sinn des Sterbens und des Todes, sinnvoller Umgang mit Leid, Sterben und Tod
Abstract
The occupation with existential questions presents an essential characteristic of the meaning-centred psychotherapy. The conception of sense and its connection with death and dying can be verified empirically within the science of thanatopsychology. The integrative conception of meaning can be envisaged in the overall perspective of life, dying and death. The dignity of man becomes lucent in suffering and death. The meaningful treatment of suffering, dying and death is shown in the acceptance of death. By a responsible manner of acting and by a dignified accompanying of the dying you accept the human person in his existential distress and you help him to experience that he retains value and dignity in his suffering and dying.
Keywords: conception of meaning, thanatopychological investigations and experience of meaning, sense of dying and death, purposeful treatment of suffering, dying and death
I. Einleitung
Die Auseinandersetzung mit dem Leiden, Sterben und dem Tod in unserer Zeit erfolgt auf dem Hintergrund einer ständig zunehmenden Lebenserwartung der Bevölkerung, beeindruckender Fortschritte in der Intensivmedizin und deutlich verbesserter Lebensbedingungen in der westlichen Welt.
Ethik und Politik scheinen mit den rasanten Entwicklungen in Medizin, Biogenetik und Humanbiologie und der zunehmenden Komplexität nicht mehr Schritt halten zu können. Davon zeugen die zunehmende Tendenz zu Polarisierungen, unübersehbare Spannungen und auch Anzeichen von Resignation angesichts der Unüberschaubarkeit und Vielschichtigkeit der Probleme.
Das Wohl einer Gesellschaft wird also zunehmend davon bestimmt, inwiefern es gelingt, angesichts der großen Fortschritte in Medizin, Biologie und ihrer angewandten Techniken das ethische Bewußtsein in demselben Maße weiterzuentwickeln und die darauf gründende Handlungskompetenz entsprechend zu erweitern.
Die sinnzentrierte Psychotherapie kann auf eine lange Tradition in der Beschäftigung mit ethischen und existentiellen Fragestellungen verweisen. Im Folgenden sollen daher der Sinnbegriff, dazu vorliegende empirische Untersuchungen, seine integrative Bedeutung, ethische Aspekte und was dem Menschen trotz seiner Vergänglichkeit im Hinblick auf das Leben, Leiden, Sterben und den Tod Halt verleiht, erörtert und damit in Zusammenhang stehende Fragen beantwortet werden.
II. Der Sinnbegriff, empirische Untersuchungen und seine integrative Bedeutung
Nach Gregory Bateson (1973) und Robert Dilts (1987) wird dem Sinnbegriff im Rahmen von Veränderungsprozessen eine besondere Bedeutung beigemessen.
Reinhard Tausch untersuchte die Sinnkonzeptionen und unterschiedlichen Sinnerfahrungen von 140 Befragten, „denn mir war klar geworden: Erfahrungen von Sinn und Sinnlosigkeit sind sehr bedeutsam für das Erleben und Verhalten, für die seelische Gesundheit von Menschen.“1
Die Untersuchungen zeigten, daß sich Sinnerfahrungen auf seelisch-körperliche Vorgänge auswirken. Auf Übereinstimmungen verweisen auch die Ergebnisse von James C. Crumbaugh und Leonhard T. Maholik (1963) und Elisabeth Lukas (1982). Sie bestätigen insgesamt die Existenz eines „Willens zum Sinn“, der, wenn er frustriert wird, Sinnlosigkeits- und Leeregefühle verursacht.
Für Viktor E. Frankl zählt der Tod neben der Schuld und dem Leid zur tragischen Trias im menschlichen Leben. Die Bewältigung des Todes steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bewältigung des Lebens.
„Woher kommt es, daß sich alles in uns dagegen sträubt? Das rührt daher, daß es gar nicht wahr ist, daß dem Menschen daran liegt, leiblich zu vegetieren; worum es ihm lediglich zu tun ist, das ist letztlich: geistig zu existieren. Er will nicht da sein, da sein um jeden Preis; sondern das, was er wirklich will, ist: sinnvoll sein. Nicht die Dauer der Existenz ist maßgebend und ausschlaggebend, sondern die Sinnfülle der Existenz. Kann doch ein kurzes Leben sinnvoll sein, während ein langes Leben sinnlos bleiben kann. Ja, mehr als dies: gäbe es keinen Tod, wäre das Leben also überhaupt endlos, so wäre es eben darum auch schon sinnlos. Der Mensch könnte alsdann alles und jedes immer wieder aufschieben: ebensogut wie heute könnte er etwas ja auch morgen und übermorgen tun. Es gäbe keinerlei Verpflichtung dazu und keinerlei Verantwortung dafür, den Augenblick zu nützen, um Werte zu verwirklichen und das Dasein mit Sinn zu erfüllen.“2
Die Untersuchungsergebnisse Munnichs (1961, 1966, 1968, 1973, 1984) bestätigen, daß die Einschätzung, ein erfülltes Leben geführt zu haben, eine große Bedeutung für das Annehmen des Todes im Alter hat.
Durlak (1972) überprüfte die Hypothese, ob zwischen dem Sinnerleben und der Furcht vor Tod und Sterben eine negative Beziehung besteht. Bei zwei getrennten Stichproben von Schülern und Studenten stellte er Korrelationen von -.54 und -.68 zwischen dem „Purpose in Life Test“ (PIL) von Crumbaugh & Maholik (1964) und der FODS von Lester (1967) fest. Durlak (1973) wiederholte das Ergebnis bei einer Gruppe älterer Frauen.
Blazer (1973), Bolt (1978) und Drolet (1990) fanden ebenso signifikante negative Korrelationen zwischen dem PIL und der Todesfurcht.
Florian & Snowden (1989) berichten von einem inversen Zusammenhang zwischen der „Fear of Personal Death Scale“ und der Wertschätzung des Lebens. Es läßt sich eine eindeutige Beziehung zwischen Lebenszufriedenheit und Todesfurcht herstellen. Hochängstliche Personen geben weniger Zufriedenheit an als niedrigängstliche (Hickson et al. 1988: Given & Range 1990; White & Handal 1990-91).
Eine deutsche Untersuchung von Kumpf (1976) ergab keine negativen Zusammenhänge zwischen Sinnerleben und Todesfurcht. „Auf zwei Dimensionen traten sogar signifikante positive Korrelationen auf: Je mehr Bedeutung im Leben gesehen wurde, desto größer war die Furcht vor dem Totsein und die Furcht vor der physischen Zerstörung. Möglicherweise drückt sich in der Umkehrung der Beziehung eine qualitative Veränderung des Sinnerlebens von Jugendlichen aus.
Wenn gesellschaftliche Prozesse dazu geführt haben, daß sich die Werte in den Siebziger-Jahren in Richtung Selbstorientierung, Hedonismus, Eskapismus und Gegenwartsorientierung verschoben (z.B. Leger 1980), dann wäre es erklärbar, warum gerade der Verlust der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen und der Verlust des Körpers, der Basis sinnlicher Erlebnisse, als besondere Bedrohung erlebt werden.“3
Die empirischen Untersuchungen bestätigen die Bedeutung des Sinnerlebens und der Lebenszufriedenheit für die Bewältigung der Furcht vor Tod und Sterben. Andererseits geht eine höhere Bedeutung, die dem Leben geschenkt wird, mit einer größeren Furcht vor dem Totsein einher, was auch mit einem Wertewandel in Zusammenhang gebracht wird. Die integrative Bedeutung des Sinnbegriffs zeigt sich darin, daß Leben, Sterben und Tod eine Einheit bilden und zusammengehören. Zum Sinn des Lebens gehört auch die Grenze in Form des Todes. Der Sinn des Todes wiederum erschließt sich über das einzigartige und einmalige Leben des Menschen. Das Bild von Zaun und Garten veranschaulicht diesen Zusammenhang. Der Zaun ist nur sinnvoll, weil es einen Garten gibt und die Form des Gartens wird nur durch den Zaun erkennbar. – Der Sinn des Sterbens wird im oft schweren Ringen um das Annehmen des Todes sichtbar.
III. Ethische Aspekte
Wie der Mensch mit seinem Leiden, Sterben und dem Tod umgeht, wird damit zur entscheidenden Frage. – Daraus wird auch verständlich, weshalb Viktor E. Frankl der Verwirklichung von Einstellungswerten eine besondere Sinnträchtigkeit beimißt. – Wie der Mensch sein Leiden trägt, wird auch als ein Zeichen der Reife betrachtet.
„Sinnvolles Leiden ist ein Leiden ‘um ... willen’. Indem wir es akzeptieren, intendieren wir es nicht nur, sondern intendieren wir durch das Leiden hindurch etwas, das mit ihm nicht identisch ist: wir transzendieren das Leiden.“4
Der Mensch, der über sich selbst hinauswächst, reift zu sich selbst heran. Trotz widrigster Umstände wie Konzentrationslager und Kriegsgefangenschaft und massiven Einschränkungen seines Schaffens und Erlebens vermag er zu einer inneren Freiheit zu gelangen.
Die Tagebücher von Etty Hillesum, die unter dem Titel „Das denkende Herz“ erschienen sind, stellen ein ergreifendes Zeugnis einer solchen inneren Reifung dar. „Das Leben hier (Anm.: Konzentrationslager Ausschwitz) kostet mich nicht viel von meiner wesentlichen Kraft – körperlich wird man zwar etwas mitgenommen und ist oft bodenlos traurig – aber im Innersten wird man immer stärker.
Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgungen, die zahllosen Grausamkeiten – all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich beginne immer mehr zu begreifen, wie alles zusammenhängt, ohne es bislang jemandem erklären zu können.“5 Im Leiden und Sterben eines Menschen wird seine Würde transparent. Daß es zum Menschsein gehört, ein Leidender zu sein – ein Homo patiens, erschließt sich ihm als wesentliches Merkmal unseres Daseins.
Die Thanotopsychologie (Randolph Ochsmann, 1993) konnte nachweisen, daß Personen, die sich mit dem Tod auseinandersetzen, eher zu einer positiven Bewertung tendieren, weil er Teil ihrer persönlichen Zukunft wird, die sie nicht als Bedrohung sehen wollen (dazu Schneider 1984). Im Gegensatz dazu neigen Personen zur Verdrängung des Todes, die sich mit dieser Thematik nicht beschäftigen.
Wie der Mensch mit Leiden, Sterben und Tod umgeht, betrifft jedoch nicht nur ihn als Person, sondern auch sein unmittelbares Umfeld und das gesellschaftliche System, dem er angehört. Sich den herausfordernden, oft belastenden und drängenden Fragen des „Homo patiens“ zu stellen, kann als notwendige und fortwährende Aufgabe angesehen werden, die dazu beiträgt, einen menschenwürdigen Umgang mit den letzten Fragen des Menschen zu finden.
IV. Was dem Menschen Halt trotz seiner Vergänglichkeit verleiht
Gibt es so etwas wie Halt angesichts der Vergänglichkeit?
Seit Jahrtausenden geht der Mensch dieser uralten Frage nach. In unübertreffbarer Weise sucht das Buch Hiob angesichts der Geworfenheit unserer Existenz und im Hinblick auf die Frage nach einem letzten Halt nach Antworten. Hiobs Antwort ist letztlich eine metaphysische, religiöse. „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn.“6 Viele Menschen finden einen letzten Halt in Gott, dem sie sich auch in ihren letzten Stunden anvertrauen. „Dein Wille geschehe!“ betete ein Freund bis zu seinem letzten Atemzug. In einer zunehmend säkularisierten Welt stellt sich aber auch die Frage nach Antworten jenseits von Metaphysik und Religion.
Untersuchungen belegen, daß sich religiöse und nichtreligiöse Menschen hinsichtlich des Auftretens und der Bewältigung todbezogener Angst nicht unterscheiden. Allerdings konnten eindeutige Belege für Veränderungen der Einstellungen zum Diesseits und Jenseits als Folge der Konfrontation mit Tod und Sterben erbracht werden (siehe Ochsmann 1993, S.148).
Viktor E. Frankl betrachtet die Vergänglichkeit unter dem Aspekt des „Vergangenseins“: „Für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit; was er übersieht, sind die vollen Scheunen der Vergangenheit. Im Vergangen-sein ist nämlich nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen. Aber nicht nur schaffend füllen wir die Scheunen unserer Vergangenheit, erfüllen und verwirklichen wir Sinn und Werte, sondern auch erlebend und leidend.“7
Während die schöpferischen Werte die aktive Lebensgestaltung in Beruf, Freizeit, Familie, Partnerschaft und Gesellschaft betonen, stehen bei den Erlebniswerten das Erleben, die Hingabe und das Sich-ergreifen-lassen im Vordergrund.
Die höchste Form der Wertverwirklichung geschieht durch die konkrete Umsetzung von Einstellungswerten, wie der Mensch mit Einschränkungen des Lebens, mit Leid, Sterben und Tod umgeht.
In seinem bekannten Fallbeispiel „Frau Linek“ beschreibt Viktor E. Frankl, wie bedeutungsvoll die Würdigung von wertvollen Lebenseinstellungen durch die Mitmenschen ist, und wie auch angesichts von Leid, Tod und Vergänglichkeit Sinn entdeckt werden kann:
„Langsam ging die alte Frau aus dem Hörsaal. Eine Woche später starb sie. Sie starb wie Hiob: satt an Jahren. Während ihrer letzten Lebenswoche aber war sie nicht mehr deprimiert. Im Gegenteil, sie war stolz und gläubig. Anscheinend hatte ich ihr zu zeigen vermocht , daß auch ihr Leben sinnvoll war, ja daß noch ihr Leiden einen tieferen Sinn hatte.“8
Die Therapieziele der sinnzentrierten Psychotherapie wie Stärken der Selbsttranszendenz, Weiterentwicklung der Leidfähigkeit und das Übernehmen von Verantwortung können dazu beitragen, daß Leidende, sterbenskranke Menschen, Angehörige, betreuende Personen und Ärzte Antworten auf die Frage nach der Vergänglichkeit finden. In diesem Zusammenhang sei auch die Hospizbewegung genannt, die sich in besonderer Weise für ein menschenwürdiges Sterben und eine sinnvolle Sterbebegleitung einsetzt.
V. Was verbirgt sich hinter dem Sterbewunsch eines Menschen? – Entspricht er wirklich seinem Wunsch, nicht mehr weiterleben zu wollen, oder ist er vielmehr als Hilferuf zu sehen?
Der Schweizer Schriftsteller Josef Vital Kopp schreibt, an Leukämie erkrankt, in seinem letzten Lebensjahr: „Wenn man sich vor Schmerzen über den Teppich wälzt, den Atem preßt und sich mit äußerster Mühe der Klagen erwehrt, dann taucht die Fata Morgana auf. Jetzt schleunigst sterben, nur rasch fort und weg. Wenn sich dann plötzlich das Blut wieder bekehrt, die Schmerzen sinken und wohlbefindliche Stunden wie aus dem Nichts auftauchen, dann ist man betreten, fast indigniert, daß man nun plötzlich wieder umdisponieren muß.“9
Der Sterbewunsch eines Menschen wurzelt oft in Gefühlen wie Einsamkeit, Verlassenheit, Resignation, Traurigkeit und Sinnlosigkeit.
Der Sterbewunsch löst auch Betroffenheit aus, fordert zu Stellungnahme und zum Mitleiden heraus und erbittet unsere Anteilnahme. Er kann auch als Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit und als Ringen um das Annehmen des Todes betrachtet werden. Unzweifelhaft stellt er einen unüberhörbaren Aufruf an uns Mitmenschen dar, den Menschen in seiner Bedrängnis und existentiellen Geworfenheit anzunehmen. Wahre Anteilnahme versucht die existentiellen Fragen ernst zu nehmen, auch wenn sie belastend sind und Betroffenheit auslösen.
Im Buch Hiob erweisen sich die Helfer nicht nur als hilflos, sondern werden ihm sogar zur Last. Ihre Belehrungen und Ermahnungen erreichen ihn nicht. Der leidende Hiob erwartet nichts so sehr als ihr Erbarmen und ihr Mitleid.
Wie schwer sich selbst professionelle Helfer tun, leidende Menschen und ihr Leid anzunehmen, erlebte ich als Supervisor an einer Therapiestation für Drogensüchtige. Ein Teilnehmer der Supervisionsgruppe berichtete von einem an AIDS erkrankten Mann mittleren Alters, den er auf seinem schweren Weg zu begleiten versuchte. In seinem Bemühen, gemeinsam möglichst viele Sinnmöglichkeiten für die ihm noch verbliebene Zeit zu entdecken, überhörte er die eigentlichen Fragen und wehmütigen Klagen des tief getroffenen Mannes.
Der Sterbewunsch eines Menschen bedeutet eine besondere Herausforderung für seine Angehörigen, Freunde und professionellen Helfer auf dem Hintergrund der konkreten Situation, sein wesentliches Anliegen herauszuhören, ihn in seiner existentiellen Not anzunehmen und ihm, wenn notwendig, Hilfe anzubieten.
VI. In welchem Zusammenhang steht der Sterbewunsch mit der Sinnfrage?
Die Sinnfrage angesichts des Sterbewunsches eines Menschen stellt sich zweifach. Zum einen betrifft sie den Menschen selbst, der diesen Wunsch geäußert hat, und zum anderen seine unmittelbare Umgebung.
Wer in seinem Leben keine Aufgabe, keinen Sinn mehr zu entdecken vermag, dessen Lebenswille beginnt nicht selten abzunehmen. – Umgekehrt zeigen viele Erfahrungen in Konzentrationslagern und auch in der Psychotherapie, daß gute und langfristige Ziele inneren Halt, Mut und Hoffnung verleihen. Viktor E. Frankl berichtet von Häftlingen, die sich allgemein der Hoffnung hingaben, kommendes Jahr zu Weihnachten wieder daheim zu sein. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht. In der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr kam es in diesem Konzentrationslager zu einem Massensterben. Wer in seinem Leben keine Aufgabe mehr sieht, sich nichts mehr erwartet, läuft Gefahr aufzugeben und zu verzweifeln. Wem es jedoch gelingt, die kopernikanische Wendung zu vollziehen und in seinem Leben wieder Aufgaben, Hoffnung und Sinn zu entdecken, weiß sich gehalten und vermag auf die drängenden Fragen seines Lebens zu antworten und sein Leben insgesamt zu ver-antworten.
„Tatsächlich stellte sich bald heraus, daß jenseits von dem, was die beiden Häftlinge vom Leben zu erwarten hatten - ihr Leben mit ganz konkreten Aufgaben auf sie wartete. ....Auf den einen wartete somit ein Werk, auf den andern ein Mensch. Beide waren demnach gleichermaßen in jener Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit bestätigt, die dem Leben trotz des Leidens einen unbedingten Sinn zu geben vermag.“10
Diesen Erfahrungen kommt auch in der psychotherapeutischen Praxis eine besondere Bedeutung zu. Ein depressiver und von massiven Sinnzweifeln geplagter Patient, der das Fehlen von sinnvollen Zielen in seinem Leben schmerzlich vermißte, ließ sich von diesem Erfahrungsbericht Viktor E. Frankls besonders beeindrucken und sich ermutigen, seine konkrete Sinnsuche wieder aufnehmen. Auch eine Frau bestätigte diese Erfahrungen anläßlich einer Tagung eines Selbsthilfevereins von Dialysepatienten und Nierentransplantierten: „Als mein Lebenswille bereits sehr schwach war, bat mich mein Mann, ich möge doch ihm zuliebe am Leben bleiben.- Diese sinnvolle Aufgabe hat mich tatsächlich am Leben erhalten.“ Der Sinn des Sterbens liegt im Annehmen des Todes. Insofern kann der Sterbewunsch eines Menschen zur sinnvollen Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen und zur Bewältigung von Angst und Furcht vor dem Tod beitragen. Damit wenden wir uns den Sinnangeboten zu, die Angehörige und professionelle Helfer zu vermitteln vermögen.
„Wenn man viele Jahre lang an den Sterbebetten von Kindern und alten Leuten sitzt, ihnen zuhört und sie auch wirklich anhört, werden sie bemerken, daß sie wissen, ob der Tod nah ist. Da sagt ihnen auf einmal jemand auf Wiedersehen, wenn sie noch gar nicht daran denken, daß der Tod schon bald eintreten könnte. Wenn sie aber dann diese Aussage nicht von sich weisen, sondern sitzen bleiben, so sagt ihnen der Sterbende noch alles, was er ihnen mitteilen möchte. Wenn dieser Kranke dann stirbt, haben sie doch ein gutes Gefühl, daß sie vielleicht die einzige Person waren, die seine Worte ernst genommen hatte.“11
Indem wir Anteil nehmen am Leid, dem Menschen das Gefühl geben, wertvoll zu sein, und ihn erleben lassen, daß seine Würde durch all das Leid und Sterben hindurch bestehen bleibt, werden wir dem Ausspruch Viktor E. Frankls gerecht: „Durch das Trösten anderer werden wir selbst getröstet.“12
VII. Der Sinn des Todes als letzte Verwesentlichung des Lebens
Der Sinn bezieht sich nicht auf den Tod als Faktum, sondern darauf, wie wir mit dem Tod umgehen. Im Reifwerden zum Tode hin, im Annehmen des Todes und in der würdevollen Begleitung wird erkennbar, was unter einem sinnvollen Umgang mit dem Tod zu verstehen ist. Der schon einmal erwähnte Dichter Josef Vital Kopp schreibt: „Das Gepäck ist geschnürt, der Seegang wird sanft und man wird nicht fertig, alle Wunder einzuheimsen, die sich bieten.- Das Entscheidende verträgt immer weniger Lärm.“13 Der Sinn des Todes besteht in einer letzten Verwesentlichung des Lebens, die die Würde und Einzigartigkeit der Person transparent werden läßt. Der Tod als unverrückbare Lebensgrenze stellt für den Menschen eine ständige Herausforderung dar, sich seiner immerwährenden Verantwortung bewußt zu werden und danach zu handeln. Die Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln im Leben und das Annehmen des Todes können als Prozesse angesehen werden, die auch von Krisen, einem oftmals unvorstellbarem Ringen, Sinnlosigkeitsgefühlen und großem Leid gekennzeichnet sind. Reifwerden und persönliches Wachstum beinhalten auch Irrwege, Schmerzen und Leid. Das betrifft auch die Mitleidenden. Ich erinnere mich an den Tod einer an AIDS verstorbenen Mitarbeiterin eines Drogentherapiezentrums in Caltanisetta auf Sizilien. Ich sehe noch deutlich das Bild jener rotblonden, sommersprossigen jungen Frau mit dem Namen Chiara vor mir, die zuvor selbst drogenabhängig war und sich nun sehr für Drogensüchtige einsetzte. Ihr unerwarteter Tod hatte alle, sowohl die Therapeuten als auch die ganze Gemeinschaft tief erschüttert und bewegt. Zugleich verspürte ich aber auch eine ungeheuer starke Solidarität und einen ganz intensiven Gemeinschaftssinn, so als wollten sie erst recht dieser schrecklichen Krankheit und ihren Ursachen trotzen. Als ich die Mutter zum Grab ihrer Tochter begleitete, vertraute sie mir an, daß ihr in den letzten Jahren, seit Chiara in dieser Gemeinschaft arbeitete, ihre Tochter, die sie für verloren hielt, wiedergeschenkt worden sei. Die herzliche und liebevolle Beziehung zu ihrer Tochter während der letzten Monate ihres Lebens sei für sie ein wunderbares Geschenk gewesen, das ihr in ihrer tiefen Trauer großen Trost gespendet habe.
Ein sinnvoller Umgang mit dem Tod wirkt über den Tod hinaus. Er kann zur eigenen Bewältigung des Todes, zu Solidarität und Verantwortungsbereitschaft anleiten.
VIII. Resümee
Die Sinnfrage führt uns zu den Wurzeln unserer Existenz. Wie wir mit Leid, Sterben und Tod umgehen, wird damit zur entscheidenden Frage.
Der Sinn des Leidens liegt in der Verwesentlichung unserer Existenz, die uns die Einzigartigkeit und Würde des Menschen gewahr werden läßt.
Der sinnvolle Umgang mit den letzten Fragen des Menschen kann als lebenslanger Prozeß beschrieben werden, der Aggressionen, Ängste, Ohnmachts-, Sinnlosigkeits- und Verlassenheitsgefühle beinhaltet.
Während sich der Sinn des Sterbens im Annehmen des Todes erschließt, wird der Sinn des Todes in der Einmaligkeit und im Verantworten unseres Lebens erfahren.
Leid, Sterben und Tod stellen eine besondere Herausforderung für die Angehörigen, professionellen Helfer und schließlich für das ganze gesellschaftliche System dar. Eine würdevolle Sterbebegleitung zeigt sich im Anhören und Annehmen der existeniellen Not des Menschen, im Anteilnehmen und Mitleiden. Sie unterstützt damit auch die Bewältigung der eigenen Todesangst und fördert Solidarität und verantwortungsbewußtes Handeln.
Referenzen
- Tausch, Reinhard, Sinn-Erfahrungen, Medizinische Materialien, Heft 86, Bochum 1993, S.1.
- Frankl, Viktor E., Der leidende Mensch, Hans Huber, Bern 1984, S.211.
- Ochsmann, Randolph, Angst vor Tod und Sterben, Hogrefe, Göttingen 1993, S.72.
- Frankl, Der leidende .... S.209.
- Gaarlandt, J.G., Das denkende Herz, Rowohlt, Reinbek 1995, S.210.
- Weiser, Artur, Das Buch Hiob, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1968, S.25.
- Frankl, Viktor E., Logotherapie und Existenzanalyse, Piper, München 1987, S.142.
- Frankl, Viktor E., Ärztliche Seelsorge, Fischer, Frankfurt 1983, S.233.
- Unveröffentliches Manuskript
- Frankl, Viktor E., Ärztliche Seelsorge, 1983, S.112.
- Kübler-Ross, Elisabeth, Über den Tod und das Leben danach, Graphica, Melsbach1987, S.8.
- Frankl, Der leidende .... S.206.
- Unveröffentlichtes Manuskript
Dr. Otmar Wiesmeyr, Psychotherapeut (Existenzanalyse u. Logotherapie)
Lärchenstraße 52, A-4600 Wels