Fehler, Verantwortung und Vertrauen. Ethische Perspektiven auf eine medizinische Fehlerkultur

Imago Hominis (2011); 18(1): 9-20
Clemens Sedmak

Zusammenfassung

In diesem Text geht es um die Frage nach einer ethisch verantwortbaren Fehlerkultur in der Medizin. Es werden einige Begriffe wie „shifting“, „moralischer Minimalismus“ oder „discontinuitiy of care“ vorgestellt, die den Blick auf die Notwendigkeit schärfen, mit Fehlern aus ethischen und strategischen Gründen offen umzugehen. Im Zusammenhang mit medizinischen Fehlern identifiziert der Autor drei ethische Brennpunkte, die die Entwicklung einer ethisch verantwortbaren Fehlerkultur ermöglichen: eine Ethik der Kommunikation, eine Ethik des Lernens und eine Ethik der Verantwortung.

Schlüsselwörter: Medizinethik, Vertrauen, Fehlerkultur, Gesundheit, Verantwortung

Abstract

This text addresses the issue of a culture of ethics concerning medical errors. The terms “shifting”, “moral minimalism”, or “discontinuity of care” are being described, which sharpen the reader’s perspective on the need to deal openly with errors for ethical and strategic reasons.  In the context of medical errors the author identifies three ethical foci that enable the development of an ethical error management culture: ethics of communication, ethics of learning and ethics of responsibility.

Keywords: Ethics in Medicine, Trust, Error Management Culture, Health, Responsibility


Die folgenden Überlegungen thematisieren eine philosophische Herangehensweise an die Frage nach Fehlern in der Medizin. Ich werde erstens versuchen, einen Beitrag zur Begriffsklärung zu leisten; zweitens wird es mir darum zu tun sein, ein kleines Wörterbuch mit hilfreichen Begriffen für die einschlägige Diskussion vorzustellen; drittens will ich ethische Perspektiven zu medizinischer Fehlerkultur ausweisen. Zuvor will ich zwei Vorbemerkungen machen:

Erstens: Wenn man als Philosoph über medizinische Fehler nachdenkt, wird es schwer sein, eine gewisse Selbstgefälligkeit zu vermeiden, für die ich mich eingangs entschuldigen möchte. Es dürfte sich ähnlich verhalten wie beim Abfassen von Konzertkritiken oder Rezensionen. Über letztere hatte John Updike einmal bemerkt: „It is almost impossible to avoid the tone of being wonderfully right.“ Dafür möchte ich mich bereits im Vorfeld entschuldigen. Zweitens: Wir leben in einer Kultur, die Schwierigkeiten hat, mit Fehlern umzugehen. Kathryn Schulz hat sich jüngst in einem einschlägigen Buch Being wrong mit dem Umgang mit Fehlern in unserer Kultur beschäftigt.1 Wenn Perfektion gefordert ist und Fehler verpönt werden, stehen wir uns in Lernprozessen selbst im Weg – dieses Motiv von „kultivierter Fallibilität“ als Lernfaktor finden wir prominenterweise auch in Karl Poppers Schriften. Wir werden darauf zurückkommen, wie man Fehler mit „Hoffnung und Zukunft“ und nicht so sehr mit „Angst, Vermeidung und Vergangenheit“ verbinden kann.2

1. Begriffliches

1.1. Die Kluft zwischen Sein und Sollen

Fehler implizieren zumindest zwei Momente, wenn sie als solche erkannt werden: Zum einen ein Moment der Durchbrechung, ein Moment der Disruption. Wenn ich erkenne, dass ich einen Fehler gemacht habe, kann ich den eingeschlagenen und bisher verfolgten Handlungsweg nicht einfach fortsetzen. Ich werde in meinem Handlungsfluss durchbrochen und muss mich neu orientieren. Zum anderen finden wir bei Fehlern eine Erfahrung von Widerspruch, von Widerspruch zwischen „Sein“ und „Sollen“. Gerade aus diesem Grund sind im Falle von Fehlern nicht selten Emotionen von Scham und Demütigung anzutreffen. Dies sind Emotionen, die anzeigen, dass eine Kluft zwischen Sein und Sollen aufgebrochen ist, zwischen der Weise, wie ich gemäß eigener oder gemäß an mich herangetragener Standards sein soll, und der Weise, wie ich einzusehen habe, dass ich gehandelt habe oder „bin“. Weder Durchbrechung noch Widerspruch sind handlungs- und identitätsbestärkend, im Gegenteil: Sie machen das notwendig, was Erving Goffman seinerzeit als die Arbeit am Image beschrieben hat.3 So haben wir es auch mit Fragen von Anerkennung, Status, Identität zu tun, wenn wir von Fehlern sprechen.

1.2 Fehler vs. Irrtümer

„Medical errors“ werden in der Regel definiert als „an injury or illness caused by medical management, rather than by the underlying disease condition or condition of the patient.”4 Ein Fehler erzeugt ein ungewolltes Resultat. Es ist ein zweiter und eigener Schritt festzustellen, ob dieses nicht-intendierte Resultat wünschenswert oder nichtwünschenswert ist. Nun kann ein „medical error“ ein „Fehler“ oder ein „Irrtum“ sein. „Fehler“ und „Irrtümer“ könnten insofern voneinander unterschieden werden, als letzere mit einem mentalen Zustand, erstere mit einer Praxis bzw. einer Handlung zu tun haben. Es kommt nicht von ungefähr, dass für „Fehlermachen“ das Bild des Irrweges verwendet wird („fehl gehen“). Fehler entstehen, um in diesem Bild zu bleiben, dadurch, dass man einen Weg verfolgt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, aber entweder der Weg sich als Irrweg herausstellt oder man von diesem Weg abweicht. In beiden Fällen ist das Resultat das Unvermögen, das beabsichtigte Ziel zu erreichen. Freilich setzt dieses Bild voraus, dass es „einen Weg zum Ziel“ gibt, der vielleicht auch noch – wie dies eine Landkarte ermöglicht – angezeichnet und ausgewiesen werden kann. Das muss aber nicht der Fall sein: „In vielen Situationen versuchen wir etwas zum allerersten Mal, weshalb die Wahrscheinlichkeit, etwas falsch zu machen, sehr hoch ist. In solchen Fällen sind ‚Fehler‘ also nahezu unvermeidbar…“5 Wenn es sich so verhält, dass Fehler (nicht nur als Teil des allgemeinen Lebensrisikos) unvermeidbar sind, werden wir mit einer Kultur der Perfektionsversprechen und -ansprüche sorgsam umgehen müssen. Im Gesundheitsbereich wird sich dies etwa auf die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten ebenso auswirken wie auf die Kooperation zwischen Gesundheitssystem und Rechtssystem.

In der philosophischen Literatur findet man zwei große Modelle über Fehler und Irrtümer.

1.3 Das Modell des Mangels

Das Modell des Mangels rekonstruiert einen Fehler als einen Mangel an relevantem Wissen oder an einschlägigem Können, wobei es gesollt ist, dass die Person, die den Fehler gemacht hat, über dieses Wissen oder dieses Können verfügt. In einer Kurzform ausgedrückt: Fehler sind Mangel an gesolltem relevantem Wissen oder Können. Dieses Modell hat prominenterweise Descartes vertreten – zu finden in der vierten seiner „Meditationes de prima philosophia“. Ein Fehler wird als „privatio scientiae“, als Mangel an Wissen, das man hätte haben sollen, rekonstruiert. In diesem normativen Moment (Wissen, über das man eigentlich hätte verfügen müssen) liegt ein Moment von Schuld und Verantwortung – und damit die Idee der Vermeidbarkeit des Fehlers. An diese Beobachtung kann man sofort die Literatur über „Hindernisse auf dem Weg zum Wissen“ anschließen – nach Roger Bacon etwa sind es vier große Hindernisse auf dem Weg zum Wissen, die wir bedenken müssen: Die Meinung der vielen, die langandauernde Gewohnheit, die brüchige Autorität, die Eitelkeit.6 Nach Bacon hat es durchaus etwas mit vermeidbarem Versagen zu tun, wenn der Weg zum Wissen von diesen Hindernissen belastet ist. Ähnlich haben sich neben Descartes selbst auch Francis Bacon oder John Locke Gedanken über vermeidbare Hindernisse auf dem Weg zum Wissen gemacht, die durch die Wahrnehmung der eigenen epistemischen Verantwortung überwunden werden können. Für unsere Diskussion können wir die Frage stellen, welche Hindernisse auf dem Weg zum medizinischen Wissen anzunehmen sind und wie diese vermieden werden können. Dieses Modell vom Fehler als Wissensmangel kann mit entsprechenden erkenntnistheoretischen Unterscheidungen vertieft werden.

Welcher Mangel von welcher Art von Wissen liegt vor? Wenn man etwa, um eine berühmte Unterscheidung Bertrand Russells aufzugreifen, zwischen „knowledge by acquaintance“ und „knowledge by description“ unterscheidet, kann man sich fragen, ob ein Fehler aufgrund von mangelndem Erfahrungswissen oder aufgrund von mangelndem Buchwissen erfolgt ist. Diese Unterscheidung ist für die medizinische Praxis, die ja einen handwerklichen Aspekt hat, durchaus relevant. „Knowledge by acquaintance“ ist tiefer und enger mit der Person verbunden und kann schwer gemessen werden.

Wie „erfahren“ ist ein Arzt, eine Ärztin? Diese Frage kann zwar insofern quantitativ angenähert werden, als man die Zahl der Berufsjahre oder der durchgeführten einschlägigen Eingriffe und Behandlungen angeben kann, diese Zahl gibt aber keinen „Wert von Erfahrungswissen“ an. Hier stoßen wir also auf eine Grauzone, die nicht mit der von manchen gewünschten Präzision gehandhabt werden kann; auch das hat Auswirkungen auf den angesprochenen Perfektionsdiskurs. Gleichzeitig ist damit aber auch der für den (Aus-/Fort-)Bildungsbereich entscheidende Diskurs um „Wissenspflichten“ eröffnet, die man sowohl beim medizinischen Personal als auch bei den Patient/inn/en ansiedeln kann.

1.4 Das Modell der Regelverletzung

Das Modell der Regelverletzung beschreibt einen Fehler als „malpractice“, als nicht den Standards entsprechende Praxis, als die Verletzung von entscheidendem Regelwerk, das die Durchführung einer bestimmten Handlungspraxis anleitet.7 Auch kann ein Moment von Schuld und Verantwortung vorliegen, wenn wir es mit fahrlässiger oder gar vorsätzlicher Nichtbeachtung von Standards, die eingehalten werden sollten, zu tun haben. Dieses Verständnis von Fehlern finden wir in der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, der sich bekanntlich ja gerade deswegen gegen die Idee einer Privatsprache zur Wehr gesetzt hatte, weil sie es mangels Kriterien zur Prüfung von Standards nicht erlauben würde, Fehler als solche zu identifizieren.8 Ohne die Idee der Regel gibt es keine Fehler und ohne die Idee von Fehlern auch keine Idee von menschlicher Praxis. Dieses Fehlermodell muss überdies die Unterscheidung von expliziten und impliziten Regeln einbeziehen, die entsprechend zu unterschiedlichen Formen von Fehlern führen könnten. Dieses Modell legt die Idee nahe, dass ein dichtes und explizites Regelwerk die Einführung einer vernünftigen Fehlerkultur erleichtert – ein Motiv, das wir aus der Literatur über Korruptionsbekämpfung kennen. Danach scheinen Fehler unvermeidlich, solange keine verbindlichen Standards eingeführt worden sind.9 Interessant ist überdies, dass man sich bei diesem Modell von Fehlpraxis dafür aussprechen könnte, die Beurteilung, ob eine Verletzung eines Standards vorliegt, Expertinnen und Experten zu überlassen, da es einer professionellen Expertise bedarf, um die Nichtbeachtung komplexer Standards einschätzen zu können.10 Dies würde die Zuschreibung von Verantwortung natürlich erschweren. Der Vorteil des zweiten Modells liegt freilich in der besseren Handhabbarkeit, da ein Regelwerk explizit gemacht und Verhalten auf das Einhalten von Standards hin geprüft werden kann.

1.5 Aspekte der Handlung des Fehlermachens

Neben diesen beiden Modellen bietet sich eine wenigstens skizzenhafte systematische Analyse von Fehlern mit Blick auf den Kontext und die „players“ an. Auf diese Weise können „Fragerichtungen“ angegeben werden. Eine solche genauere Analyse von Fehlern könnte sechs Elemente im Blick auf die „Handlung des Fehlermachens“ identifizieren: Subjekt, Inhalt, Opfer, Ursache und Grund, Folgen, Konsequenzen. Ethisch relevant sind im Blick auf Fehler vor allem die Handlungsaspekte, also jene Aspekte, die mit der Praxis des Fehlermachens zu tun haben. Sehen wir uns diese sechs Elemente der Analyse des Fehlermachens in aller Kürze an.

Erstens ist ein Subjekt des Fehlermachens zu nennen. Das kann ein einzelner Mensch, ein Operationsteam oder eine Institution wie das Gesundheitssystem sein. Hier sind auch wichtige Entscheidungen in Bezug auf Verantwortung zu treffen: Wer oder was kann als „Subjekt des Fehlers“ dingfest gemacht werden?

Zweitens hat ein Fehler eine inhaltliche Komponente. Während der Blick auf das Subjekt Antwort auf das „Wer“ des Fehlers liefern soll, geht es in der Frage nach dem Inhalt um das „Was“, um die, wenn man so will, Materialität des Fehlers. Was ist eigentlich schief gegangen? Worin besteht der Fehler? Hier müssen sich, wenn man ernsthaft von einem Fehler, der „gemacht“ wurde, sprechen will, auch Angaben in Form von Propositionen machen lassen.

Drittens können wir die Dimension des „Opfers“ in Betracht ziehen. Wer kommt durch einen Fehler zu Schaden? Diese Frage ist im Kontext der Medizinethik von besonderer Bedeutung. Wer ist der Leidtragende, das „Objekt“ des Fehlers – das Objekt, an dem fehlerhaft gehandelt wurde oder das durch fehlerhaftes Handeln beschädigt worden ist? Das Opfer eines Fehlers kann im klinischen Bereich eine Patientin oder ein Patient sein, aber auch die Steuerzahlerin und der Steuerzahler oder politische Instanzen.

Viertens können wir in einer Analyse des Fehlermachens die Frage nach Ursachen und Gründen stellen. Ursachen haben bekanntlich mit Kausalketten zu tun, im Falle von Gründen suchen wir nach Tiefenschichten menschlichen Handelns. Um ein klischeehaftes Beispiel zu nehmen: Die Ursache für Schmerzen kann ein nach einer Operation zurückgelassener Fremdkörper sein, der Grund dafür, dass der Fremdkörper hinterlassen wurde, kann beispielsweise in der persönlichen Situation des Arztes liegen, der privat belastet ist und Konzentrationsschwächen aufweist. Fehler haben, sofern menschliches Handeln einbezogen wird, nicht nur Ursachen, sondern auch Gründe.11

Fünftens können wir nach einem Fehler auf die „Folgen“ blicken, das sind die Wirkungen, die ein Fehler nach sich zieht. Patientinnen und Patienten können sterben, können zu Schaden kommen, der Ruf eines Krankenhauses kann in Mitleidenschaft gezogen werden, etc.

Sechstens schließlich können wir nach „Konsequenzen“ fragen. Damit sind die Reaktionen auf einen als solchen identifizierten Fehler gemeint, die Konsequenzen also, die aus einem Fehler gezogen werden, etwa in der Frage, was sich in einem Handlungszusammenhang dadurch ändert, dass ein Fehler erkannt und anerkannt wurde.

1.5 Menschliches Versagen, technische Gebrechen und institutionelle Defizite

Auf diese Weise kann man Fehler einer Analyse zuführen, die sich natürlich noch entsprechend verfeinern lässt. Neben zwei Modellen und einer einfachen sechsstelligen Analyse kann auch ein Blick auf den jeweiligen Kontext hilfreich sein, in dem Fehler entstehen. Wenn man auf den Kontext der Fehlerentstehung blickt, kann man menschliche, technische und institutionelle Faktoren unterscheiden, die entscheidend für die Genesis von Fehlern sind. Es gibt menschliches Versagen, technische Gebrechen und institutionelle Defizite.

Menschliches Versagen umfasst Erschöpfung, Stress, Gedächtnisschwächen und Wissenslücken, Kommunikationsdefizite, Konzentrationsmängel, Lernblockaden.

Technische Gebrechen betreffen die Ausrüstung, die Anleitungen, das Zubehör,… die natürlich alle mit Fragen von Kompetenz und Wartung und damit menschlichen Faktoren verbunden sind.

Institutionelle Defizite haben mit Hierarchie, Bestimmungen (etwa: Sicherheit), Ausbildung und Monitoring, Arbeitslastverteilung, Verantwortungsmanagement, Arbeitsbedingungen, Informationsfluss zu tun. Diese drei Typen von Faktoren greifen ineinander. Fehlverhalten oder mangelhafte Resultate lassen sich deswegen selten monokausal erklären. Das macht den Bereich entsprechend komplex und konflikthaft.

1.6 Moralisch relevante und irrelevante Fehler

Schließlich kann die Philosophie noch die Arbeit mit Unterscheidungen für einen geschärften Blick auf Fehler anbieten: Es ist sinnvoll, zwischen „moralisch relevanten“ und „moralisch irrelevanten“ Fehlern zu unterscheiden. Nicht alle Fehler müssen ethisch gewichtet werden. Hier haben wir es in jedem Fall mit Gradualität zu tun, die die moralische Gewichtigkeit eines Fehlers auf einem Kontinuum ansiedelt.12 Ein medizinischer Kunstfehler mit gravierenden Auswirkungen ist von einem Rechenfehler, den eine Volksschülerin bei der Hausübung macht, hinsichtlich der moralischen Relevanz zu unterscheiden. Mit Blick auf das ethische Gewicht eines Fehlers ist auch zwischen „vermeidbaren“ und „unvermeidbaren“, zwischen „reversiblen“ und „irreversiblen“ Fehlern zu unterscheiden. Daraus ergibt sich die Distinktion zwischen „leichten“ und „schweren“ Fehlern. Mit Blick auf den „Ort“ eines Fehlers kann zwischen „Fehlern in der Planung“ (war bereits die Planung fehlerhaft?) und „Fehlern in der Ausführung“ (die Planung war korrekt, aber die Ausführung mangelhaft) unterschieden werden.13

Mit diesen Hilfsmitteln, die ich nur andeuten darf, kann die „moralische Geographie“ des Fehlers umrissen werden. Es ist in jedem Fall der Hinweis auf die Komplexität der Materie zu geben, die in der Regel nicht auf einen einzelnen Grund, eine einzelne Ursache oder einen isolierten „agent“ reduziert werden kann.

2. Ein kleines Wörterbuch

Fehler in der Medizin können besser lokalisiert und differenziert werden, wenn entsprechende begriffliche Werkzeuge zur Verfügung stehen. Ein „kleines Wörterbuch“ kann den Blick schärfen und bestimmte Aspekte hervortreten lassen. Ich möchte im Folgenden sieben Begriffe ausweisen, die hilfreich für ein tieferes Verständnis von Fehlern in der Medizin sein können:

2.1 Shifting

Der Begriff des „shifting“ – des Umschichtens von Verantwortung; dieser Begriff hängt mit einer Kultur der Selbstverteidigung, des Abstreitens, des Schuldzuweisens zusammen („culture of blaming“). Können wir in den institutionalisierten Kontexten des Gesundheitssystems tatsächlich auf die Dynamik treffen, dass die Verantwortung „vom System auf das Individuum“ („menschliches Versagen auf Mikrobene“) oder „vom Individuum auf das System“ („Mangel an klaren Vorschriften oder Vorsichtsmaßnahmen“) oder innerhalb einer Hierarchie von unten nach oben und – aufgrund des Machtgefälles soziologisch mitunter plausibler – von oben nach unten geschoben wird?14 Jefferey Mullis weist darauf hin, dass der Übergang von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ auch mit einer Form von „shifting“ von Verantwortung verbunden war, durch einen Übergang, „in which liability shifted towards individuals, ushering in an era of relative standards in the determination of fault and accountability.“15 Gleichzeitig findet ein „shifting“ in Richtung formaler Organisationen statt, die sich rechtlich besser schützen können und auf derlei Fälle professionell vorbereitet sind. Dies hat wiederum Konsequenzen für die Qualität der Fehlerkultur.16 Hier setzt sich mehr und mehr der systemische Blick durch, der es dann auch mit sich bringt, dass „Verantwortung“ hin und herbewegt werden kann. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Literatur auch Bedenken finden, der Blick auf das System könne den Blick auf die „individual moral agency“ versperren.17 Der Begriff des „shifting“ weist auf eine fundamentale Frage nach einer Kultur der Verantwortung hin.

2.2 Moralischer Minimalismus

M. P. Baumgartner führt im Zusammenhang mit der Charakterisierung der moralischen Standards in Vororten von US-amerikanischen Städten den Begriff des moralischen Minimalismus ein.18 Damit ist der Versuch gemeint, mit dem gerade noch akzeptablen Minimum das Auslangen zu finden, sich an minimale moralische Standards zu halten und die Latte von moralischen Erwartungen möglichst niedrig anzusetzen. Techniken für „moral minimalism“ inkludieren Wegschauen, Tolerieren, das Vermeiden offener Konflikte. Diesen Phänomenen verdanken die Vororte nach den empirischen Studien von Baumgartner ihre heitere Ruhe – sie sind letztlich Zeichen eine Erosion von Gemeinschaften. Hier kann man sich fragen, inwieweit dieser Begriff nicht auch für die Diskussion um Fehler in der Medizin fruchtbar gemacht werden kann und muss: Vertritt eine Institution, vertritt ein Patient, vertritt ein Arzt einen moralischen Minimalismus?

2.3 Necessary fallibility

In einem klassischen Beitrag zu Fehlern in der Medizin verwenden MacIntyre und Gorovitz den Begriff der „necessary fallibility“.19 Die Idee ist einfach: Wenn im Falle der Pockenimpfung einer von 1200 Geimpften eine fatale Reaktion auf die Impfung zeigt, haben wir es mit einer notwendigen Fehlerhaftigkeit zu tun, die sich aus dem nicht eliminierbaren Restrisiko eines Medikaments ergibt. Ähnlich wie der Hinweis Otto Neumaiers auf die Unvermeidbarkeit von Fehlern bei „neuer Praxis“ hat auch dieser Begriff Auswirkungen auf den Diskurs um Perfektion.

2.4 Honest mistake

Ein m. E. unverzichtbarer Begriff in der Diskussion um Fehlerkultur muss der Begriff des honest mistake sein.20 Der redliche Fehler ist ein Lapsus, bei dem keine Fahrlässigkeit geortet werden kann, der also mit dem allgemeinen und irreduziblen Lebensrisiko in Zusammenhang gebracht werden muss. Wenn man sich vor Augen führt, dass medizinische Diagnosen mithilfe von abduktiven Prozessen ablaufen, ist ein nicht reduzierbares Fehlerrisiko Teil der Methodologie. Und das wiederum könnte bedeuten, dass reife Menschen mit diesem Lebensrisiko gut umgehen können und an andere Menschen und Systeme nicht mit Perfektionsansprüchen herantreten. Die Einsicht in die eigene Fallibilität und Verwundbarkeit vergrößert das Verständnis für „honest mistakes“.

2.5 Discontinuity of care

Der Begriff „discontinuity of care“ weist auf das Phänomen der Spezialisierung hin, bei dem immer mehr Expertinnen und Experten für immer kleinere Bereiche von Gesundheit verantwortlich sind, was einerseits zu einer Vielzahl von Gesprächspartner/innen für den Patienten und die Patientin führt, andererseits das Phänomen der diffusen Verantwortung begünstigt.21 Die Spezialisierung führt zu einer Verengung des „skill“-Portfolios, über das Ärztinnen und Ärzte verfügen. „This makes the… health care system simultaneously more intricate and fragmented, a patchwork of caregiving sewn with bureaucratic thread.“22 Die Abhängigkeit eines Patienten von einem bestimmten Arzt ist signifikant zurückgegangen – Interaktionsdauer, Interaktionsfrequenz und Interaktionsintensität haben abgenommen: „Medical errors are also a result of extreme specialization, as specialists generate more diagnostic hypotheses within their domain than outside, and assign higher probabilities to diagnoses within that domain.”23 Dieser Aspekt bremst die Versuchung, monokausale Zuordnungen vorzunehmen.

2.6 Patterns and perpetuation

Ein hilfreiches sprachliches Instrument in der semantischen Landschaft dürfte das Begriffspaar „patterns and perpetuation“ sein. In Institutionen bilden sich Handlungsmuster heraus, die sich zugunsten der Fehlerbildung verfestigen können. Man könnte in bestimmten Zusammenhängen auch von einer „perpetuation of error“24 sprechen. Es scheint in diesem Zusammenhang hilfreich zu sein, gemeinsam mit Sverre Wide zwischen „einfachen“ Fehlern und „systematischen“ Fehlern zu unterscheiden.25 Einfache Fehler („simple mistakes“) haben keine innere Bedeutung und Tiefe. Wenn jemand vergisst, dass in England auf der linken Straßenseite gefahren wird, so ist dies ein – wie auch immer mit fatalen Konsequenzen behafteter – einfacher Fehler. Wenn jemand aber Opfer der Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System ist, wie es Jürgen Habermas als Pathologie der Moderne beschreibt, so haben wir es mit einem systematischen Fehler zu tun, der Tiefe aufweist. Auch in Institutionen des Gesundheitswesens können sich solche Muster von systematischen Fehlern finden: „Mishaps tend to fall into recurrent patterns“.26 Neben diesem Moment der Wiederholung stoßen wir auch auf ein Moment der Vergrößerung – Fehler bringen Folgefehler mit sich, Fehler bilden Kaskaden.27 Dieses Phänomen übt Druck auf eine institutionalisierte Kultur des verantwortlichen Umgangs mit Fehlern aus: Es scheint angesichts der möglichen Kaskaden klüger, Fehler offen zu legen.

2.7 Kultur der Rechenschaftspflichtigkeit

Unverzichtbar dürfte der Begriff der Kultur der Rechenschaftspflichtigkeit (culture of accountability) sein. Die englische Philosophin Onora O’Neill hat sich in ihren Reith Vorlesungen aus dem Jahr 2002 mit dem Phänomen von Vertrauen und Misstrauen mit besonderer Berücksichtigung des öffentlichen Gesundheitssystems in Großbritannien auseinandergesetzt.28 Onora O’Neill hat darauf hingewiesen, dass eine Kultur des Misstrauens um sich greift, die mit einer bürokratischen Industrie des Controlling einhergeht. Mehr und mehr Beziehungen werden kontraktualisiert, also vertraglich geregelt. Dabei kann die Basis eines Vertrags nicht ein weiterer Vertrag sein, es bedarf auf letzter Ebene des Vertrauens. Vertrauen ist die entscheidende soziale Währung, die in Interaktionen mehr und mehr gefährdet ist. Das entstehende Misstrauen ist aufwändig und kostspielig, hier ist kaum Raum für „honest mistakes“. Die Strategie besteht darin, ein immer dichteres Regelwerk zu stricken und die Zahl der Kontrollebenen zu vermehren. Dies ist mit Blick auf die Fehlerkultur eine fatale Entwicklung, da auf diese Weise sämtliche Interaktionen im Rahmen eines standardisierten Verfahrens stattfinden, was den Spielraum des einzelnen entsprechend verengt und Fehler – augrund der Regelwerke und Kontrollinstanzen – noch stärker gewichtet werden.

Dieses kleine Wörterbuch kann natürlich ergänzt werden, es deutet aber einige neuralgische Punkte der Diskussion an und gibt auch einige Koordinaten an, die für eine Verortung der Diskussion hilfreich sein dürften.

3. Ethische Perspektiven medizinischer Fehlerkultur

Was kann angesichts der skizzierten Analyseinstrumente an ethischen Hilfestellungen angeboten werden? Ethik befasst sich in erster Linie mit dem Bereich des menschlichen Handelns. Dies greift im Bereich einer ethisch verantwortbaren Fehlerkultur aber insofern zu kurz, als wir es auch mit irreversiblen und mitunter unvermeidbaren Fehlern zu tun haben. Hier wird sich eine Ethik auch um einen guten Umgang mit dem Schicksalhaften bemühen müssen. Ethische Fragen hängen stets mit Fragen des guten Lebens im Allgemeinen zusammen. Dass es hier einen Bedarf gibt, über Endlichkeit und Grenzen nachzudenken, liegt auf der Hand. Für die Zwecke der Diskussion von medizinischen Fehlern will ich mich auf drei ethische Brennpunkte beschränken, die eine ethisch verantwortbare Fehlerkultur ermöglichen sollen: Ethik der Kommunikation; Ethik des Lernens; Ethik der Verantwortung.

3.1 Zur Ethik der Kommunikation

Integrität als ethischer Kernbegriff hängt – wie der Begriff der Glaubwürdigkeit – mit Aufrichtigkeit, Offenheit und Ehrlichkeit zusammen. Es ist auch eine Standardforderung in der Literatur, dass (behutsam präsentierte, d. h. den Schandpfahleffekt vermeidende) Transparenz als Orientierungsgröße gefordert wird. Hier bildet sich ein Fokus auf „learning and reporting“ und eine Neukonzeption der „culture of blaming, naming and shaming“ heraus.29 Offenheit im Umgang mit Fehlern wird nicht nur aus ethischen Gründen (Leitbegriff einer Ethik der Redlichkeit), sondern auch aus strategischen Gründen (Mangel an Transparenz birgt großes Risiko und kann langfristig sehr teuer werden) empfohlen. Ethische Forderungen nach Transparenz sind also auch aus rechtlichen und ökonomischen Rücksichten klug: „While some patients will doubtless file suit after being informed of an error, there is little evidence that they are more likely to sue when an error is disclosed. In fact, if they suspect an error is being concealed they may be more likely to pursue legal action, less willing to accept a settlement, and juries more likely to return punitive damages.“30

Entscheidender Faktor ist Leadership – es ist eine Frage der Führungsethik, ein Klima zu schaffen, in dem Fehler nicht aus Angst vertuscht werden müssen und das eine Kultur der sinnvollen Transparenz fördert.31 Es ist auch eine Frage des „reporting system“, inwieweit eine solche Kultur aufgebaut werden kann.32 Es kann einerseits auf offizielle, andererseits auf inoffizielle Weise über Fehler berichtet werden. In der Kommunikation ist zu unterscheiden, ob mit der Leitung, mit Kolleginnen und Kollegen, mit Patientinnen und Patienten oder mit Angehörigen über Fehler gesprochen wird. Ein besonderes Problem stellt hier die Statusasymmetrie zwischen Ärztin und Patientin dar.33 Hier ist menschliche Größe gefordert: Gespräche, in denen Fehler thematisiert werden, „can be embarrassing, difficult, distressing and time consuming“.34 Dazu kommt, dass es institutionalisierte Interessen gibt, einen offenen Umgang mit Fehlern zu bremsen. Aus diesen Gründen – institutionelle Hemmungen und Schwierigkeiten in der Umsetzung auf Mikroebene – kann zwischen dem Bekenntnis zu einem redlichen Umgang mit Fehlern und der tatsächlichen Praxis eine Kluft auftreten.35 Das Dilemma zwischen „Fehlerentdecken“ und „Fehlerberichten“ ist auch aus der Business Literatur bekannt.36 Gerade aus diesem Grund ist hier „leadership“ verlangt, die eine Kultur des redlichen Umgangs mit Fehlern schafft, was auch mit einem Klima der Angstfreiheit zu tun hat.

3.2 Zur Ethik des Lernens

Die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, hat unter anderem mit Emotionalität und Involviertheit zu tun. Wenn mir etwas „zu Herzen“ geht, werde ich das Fehlverhalten gründlich untersuchen. Ein berühmtes Beispiel aus der Medizingeschichte ist die Entdeckung von Ignaz Semmelweis, der bekanntlich von 1844 bis 1848 in einem Wiener Krankenhaus mit zwei Geburtsstationen mit dem Umstand konfrontiert war, dass an seiner Geburtenstation wesentlich mehr Frauen verstarben als in der anderen Station. Semmelweis war nicht nur neugierig, sondern auch emotional betroffen und wollte den Dingen auf den Grund gehen.37 Ein entscheidendes Moment in der Hypothesenbildung, die er systematisch betrieb, um die Gründe für die erhöhte Frauensterblichkeit an seiner Station zu eruieren, war der Tod seines Kollegen, der sich nach der Arbeit an einer Leiche selbst tödlich infiziert hatte. Dieses Moment der persönlichen Betroffenheit wirkt entscheidend als Motor für das Anerkennen von Fehlern und das Lernen aus Fehlern. Im Kontext medizinischer Arbeit stehen wir hier vor der Herausforderung, dass Fehler nicht sofort als systemische Faktoren abstrahiert werden. „Es ist ein Unterschied, ob die ‚Fehlerperson‘ die Konsequenzen ihres Tuns am eigenen Körper erfährt oder ob jemand anderer davon betroffen ist und dieser das Ereignis zum Fehler erklärt. Fehlerperson und Fehler diagnostizierende Instanz sind je nach Ereignis ein und dieselbe oder aber unterschiedliche Instanzen… Erarbeitet sich die Fehlerperson die Diagnose in einer prozesshaften Auseinandersetzung, sprechen wir gern von Einsicht oder sogar von Reue. Solche Ergebnisse kommen via Selbstreflexion und/oder Empathie mit Blick auf diejenigen zustande, denen durch den Fehler Schaden und Leiden zugekommen sind.“38

Lernprozesse sind in Institutionen keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: Chris Argrys hat in einem bekannten Aufsatz die Frage diskutiert, warum sich „smart people“ so schwer tun zu lernen.39 Sie tun sich so schwer zu lernen, weil sie sich ungern in verwundbare Situationen begeben, weil sie es gewohnt sind, Situationen kontrollieren zu können, weil sie in einer Kultur aufwachsen, in der Fehler vermieden und werden sollen. Diese Haltungen stehen einer Erneuerung des Denkens entgegen. Gut ausgebildete, erfolgreiche und clevere Menschen („smart people“) sind also mit speziellen Lernhindernissen konfrontiert: Menschen, die sich in der Regel in Situationen befinden, die sie souverän beherrschen, und die gleichzeitig in Kontexten operieren, in denen das Eingeständnis von Unfähigkeit, Inkompetenz und Unwissen problematisch ist, werden sich schwer tun, dazu zu lernen. Auch hier sind wieder sowohl Leadership und Klima als auch menschliche Größe und Redlichkeit gefordert. Dann ist auch ein Lernen in der Zusammenarbeit mit hierarchisch Untergeordneten, etwa mit Studierenden möglich.40 Ein großes Hindernis auf dem Weg zum Lernen ist die Selbsttäuschung. Abbau von Modellen der self deception hat auch etwas mit der Verflachung von Hierarchien, dem Abbau von Statussymbolen und Positionsgütern zu tun. Es gilt zu vermeiden, dass das System zu einer „box“ wird. Es sind gerade Menschen, die innerhalb der Box denken, die sich Selbsttäuschungen hingeben. Das Arbinger Institute hat, aufbauend auf psychologische Forschungen, über den Zusammenhang von Führungsschwäche und Selbsttäuschung nachgedacht.41 Selbsttäuschung mit Allmachtsphantasien, Überlegenheitsphantasien, Machbarkeitsphantasien führen zu respektloser Behandlung von Menschen, einem Mangel an Wertschätzung und schiefen Prioritäten. Menschen, die an Selbsttäuschung leiden, haben falsche (meist überzogene) Auffassungen in Bezug auf sich selbst. Sie neigen dazu, sich selbst und die eigene Leistung zu überschätzen. Sie denken innerhalb einer Box. Dies hat entsprechend Auswirkungen auf das Verschieben von Schuld, auf das Vertuschen von Fehlern, auf den Primat des Selbstschutzes vor dem Schutz der schwächsten Mitglieder eines Systems. Dieses Denken „außerhalb der Box“ erinnert auch daran, dass Fehlerkultur mit Kreativität zu tun hat: Aus Fehlern lernen können wir nur, wenn wir über Alternativen verfügen.42

3.3 Zu einer Ethik der Verantwortung

Verantwortung besteht vor allem gegenüber den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft. Angesichts steigender Vulnerabilität sind erhöhte Anforderungen an Verantwortung zu formulieren. Es gibt für die europäische Situation Hinweise, dass hohes Alter und niedriger Bildungsstand mit erhöhter Sorge hinsichtlich medizinischer Fehler einhergehen.43 Menschen, die von Armut betroffen sind, haben Hemmschwellen und Schwierigkeiten, den juristischen Apparat in Bewegung zu setzen.44 Verantwortung im Sinne einer „disclosure“ ist nicht genug: Es bedarf auch einer klaren Vermeidungsstrategie auf die Zukunft hin. Verantwortungsvoller Umgang mit Verantwortlichkeit hat mit der Einrichtung klarer Zuständigkeiten zu tun, mit der Förderung kollegialer Verantwortungsstrukturen, mit der Einräumung eines entsprechenden Handlungsraumes für einzelne Individuen, die dann auch die Verantwortung für ihre „agency“ übernehmen. Leise ist auch an die Möglichkeit zur Vergebung zu erinnern: Längst fällige Versuche, eine „Kultur von Vergebung“ in den Kontext des Diskurses um medizinische Fehler einzubringen, hängen auch mit der entsprechenden Kultur der Verantwortung zusammen. Nancy Berlinger hat fünf Schritte aufgelistet, die konstitutiv für eine Kultur der Entschuldigung und der Vergebung sind: (i) Die Anerkennung des Fehlers und der Verantwortung für den Fehler; (ii) die Präsentation einer Erklärung; (iii) der Ausdruck von Bedauern, Scham und Demut; (iv) die Skizzierung und Realisierung von Maßnahmen, die ein Wiederholen des Fehlers unwahrscheinlicher machen; (v) eine Form der Reparation.45 Diese fünf Hinweise sind für einen redlichen Umgang mit Fehlern im Gesundheitssystem entscheidend. Einen Faktor will ich aber noch ergänzen: Es gilt auch, Verantwortung auch von Seiten der Patientinnen und Patienten einzufordern – es gibt eine Verantwortung, im eigenen Gesundungsprozess eine aktive Rolle zu spielen; es gilt angesichts der allgemeinen und irreduziblen Lebensrisiken eine Verantwortung zu zeigen, angemessen (also mit Maß in Bezug auf die eigenen Ansprüche) mit den Unwägbarkeiten und Imperfektionen des Lebens umzugehen. Patientinnen und Patienten haben auch (Handlungs- und Wissens)Pflichten, müssen sich an Regeln halten haben und können entsprechend auch Fehler machen.46

Schlussbemerkung

Die Diskussion um Fehler in der Medizin ist wie jede ans Grundsätzliche rührende Diskussion rückzubinden an eine allgemeine Ethik des menschlichen Lebens. Endlichkeit und Verwundbarkeit sind Signaturen der conditio humana: Wenn die Einsicht in Verwundbarkeit, Fallibilität und Endlichkeit um sich greift – bei medizinischem Personal, Patienten und Angehörigen – ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer guten Fehlerkultur gelungen.

Referenzen

  1. Schulz K., Being Wrong. Adventures in the Margin of Error, Harper Collins, New York (2010)
  2. Ich will wenigstens in einer Fußnote erwähnen, dass wir eine medienwirksame Debatte um Perfektionsansprüche in der Erziehung verfolgen können, ausgelöst von Amy Chuas Buch Battle Hymn of the Tiger Mother, The Penguin Press, New York (2011)
  3. vgl. Goffman E., The Presentation of Self in Everyday Life, Anchor, New York (1959)
  4. Grepperud S., Medical Errors: Getting the Incentives Right, Int J Health Care Finance Econ (2005); 5: 307-326, hier: S. 307
  5. Neumaier O., Wer oder was fehlt bei einem Fehler?, in: Neumaier O. (Hrsg.), Was aus Fehlern zu lernen ist in Alltag, Wissenschaft und Kunst, Lit, Münster (2010), S. 9-30, hier: S. 14
  6. vgl. Uhl F., Hindernisse auf dem Weg zum Wissen. Roger Bacons Kritik der Autoritäten, in: Uhl F. (Hrsg.), Roger Bacon in der Diskussion, Peter Lang, Frankfurt/Main (2001), S. 219-235
  7. “Malpractice… requires three elements: the recognized standard of care was not met, harm was done to the patient, and that harm resulted from the failure to meet the standard of care” – Zientek D. M., Medical Error, Malpractice and Complications: A Moral Geography, HEC Forum (2010); 22: 145-157, hier: S. 147
  8. Wittgenstein L., Philosophische Untersuchungen, Blackwell, Oxford (1967), S. 243-315
  9. Neumaier O., siehe Ref. 5, S. 14 f.
  10. Diese These vertreten Alasdair MacIntyre und Samuel Gorovitz (Toward a Theory of Medical Fallibility, J Med Phil 1 (1976); 51-70, hier: S. 67)
  11. Diese Unterscheidung kann man plausibel mit den Einsicthen von Charles Taylor nachvollziehen – Taylor C., Human Agency and Language. Philosophical Papers 1, Cambridge University Press, Cambridge (1985)
    Taylor C., Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers 2, Cambridge University Press, Cambridge (1985)
  12. Es kann hilfreich sein, an einer Klassifikation von Fehlern zu arbeiten; vgl. Kohn L. et al., To Err is Human: Building a Safer Health System, National Academy Press, Washington, DC (1999). Hier finden sich die Unterscheidungen zwischen (sinngemäß) „Medizinmanagementfehlern“ und „medizinischen Fehlern“ bzw. zwischen „serious error“ und „minor error“. Mit solchen Bausteinen kann eine Klassifikation von Fehlern entstehen, die dann auch für die Bewertung von Fehlern grundlegend ist.
  13. vgl. Reading J. T., Human Error, Cambridge University Press, Cambridge (1990)
    Diese Unterscheidung zwischen „error of planning“ und „error of execution“ ist auch in der medizinischen Ethik von Relevanz – vgl. Meyers C., Analysis and Prevention of Medical Errors, Northeast Florida Med (2009); 60(3): 29-31, hier: S. 29: “An error in planning is defined as using the wrong plan to achieve an aim. This can be caused by misdiagnosis or lack of familiarity with treatment options, thus the plan is incorrect. An error in execution occurs when there is a failure of a planned action to be completed as intended. For example, it may be routine for patients in a practice to receive a referral to gastroenterology for a colonoscopy at age 50; however, the referral was not given to the patient. There was a slip or lapse in the process.”
  14. Gloria Ramsey führt in einem Beitrag die Dynamik aus, dem Pflegepersonal in einer “culture of blame” den schwarzen Peter zuzuschieben –Ramsey G., Nurses, Medical Errors, and the Culture of Blame, Hastings Center Rep (2005); 35(2): 20-21
  15. Vgl. Mullis J., Medical Malpractice, Social Structure and Social Control, Sociol Forum (1995); 10: 135-163, hier: S. 143
  16. “Group actors may influence legislation on behalf of physicians, provide mechanisms for the early detection and pacification of malpractice grievances, overlook perceived medical mistakes (whistle-blowing is rare), or otherwise insulate physicians from external negative sanctions” (siehe Mullis J., siehe Ref. 15, S. 145)
  17. Vgl. Pellegrino E. D., Prevention of medical error: Where professional and organizational ethics meet, in: Sharpe V. A. (Ed.), Accountability: Patient Safety and policy reform, Georgetown University Press, Washington, DC (2004), Ch. 5
  18. Baumgartner M. P., The Moral Order of a Suburb, Oxford University Press, New York (1988)
  19. MacIntyre A., Gorovitz S., Toward a Theory of Medical Fallibility, J Med Phil 1 (1976); 51-70
    Die Kategorie der notwendigen Fehlbarkeit wird übrigens mit Hinweis auf mangelnde „Notwendigkeit“ von Brendn Minogue abgelehnt – vgl. Minogue B., Error, Malpractice, and the Problem of Universals, J Med Phil 7 (1982); 239-250
  20. Zientek D. M., siehe Ref. 7, S. 146
  21. Moore C. et al., Medical errors related to discontinuity of care from an inpatient to an outpatient setting, J Gen Int Med (2003); 18: 646-651
    vgl. eine Jahrzehnte zurückliegende Publikation mit ähnlicher Ausrichtung: Zerubavel E., The temporal organization of continuity: The case of medical and nursing coverage, Hum Org (1979); 38: 78-83
  22. Mullis J., siehe Ref. 15, S. 151
  23. La Pietra L. et al., Medical Errors and Clinical Risk Management, Acta Otorhinolaryngol Ital (2005); 25: 339-346, hier: S. 343
  24. Zientek D. M., siehe Ref. 7, S. 150
  25. Wide S., On the Art of Being Wrong: An Essay on the Dialectic of Errors, J Phil Edu (2009); 43: 573-588, v. a. S. 579 f.
  26. La Pietra L. et al., siehe Ref. 23, S. 343
  27. Woolf S. H. et al., A string of mistakes: the cascade analysis in describing, counting, and preventing medical errors, Ann Fam Med (2004); 2: 317-326
  28. O’Neill O., A Question of Trust, Cambridge University Press, Cambridge (2002)
  29. Grepperud S., siehe Ref. 4, S. 308
  30. Zientek D. M., siehe Ref. 7, S. 150
  31. vgl. Reason J. T., Managing the Risk of Organizational Accidents, Ashgate, Burlington, Vermont (1997)
  32. vgl. Garbutt J. et al., Reporting and Disclosing Medical Errors, Arch Ped Adol Med (2007); 161: 179-185
  33. vgl. Mullis J., siehe Ref. 15, S. 142
  34. Ottewill M., Vaughan C., Being open with patients about medical error: challenges in practice, Clin Ethics (2010); 5: 159-163, hier: S. 160
  35. vgl. Gallagher T. H. et al., Disclosing harmful medical errors to patients, Chest (2009); 136: 897-903
  36. Daniel Pietro führt mit seiner Koautorin und seinen Koautoren einen Beispielfall aus dem Sturdy Memorial Hospital in Massachusetts an. Es lag Verdacht auf Fehlverhalten vor, das sich auf Untersuchungsergebnisse einer signifikanten Zahl von Patient/inn/en auswirkte. Aus Sorge um den Ruf der Klinik, die Arbeitsweise der Medien und das Risiko einer Klageflut reagierte das Management vorsichtig. Es zeigte sich jedoch „that communicating directly with our community was our best communications strategy“. Eine „Fehlerkultur“ zeigt sich auch darin, dass man den Patient/inn/en nicht vorgaukelt, ihnen Perfektion bieten zu können; auch hier zeigt sich, dass Redlichkeit und Offenheit die entscheidenden Faktoren sind; Pietro D. et al., Detecting and reporting medical errors: why the dilemma?, Br Med J (2000); 320: 794-796
  37. Es fand sich, dass die Geburtshelfer zwischen Obduktionen und Gebärstation pendelten, ohne sich den „Leichengeruch“ abzuwaschen (Die Herausgeber).
  38. Spychiger M. B., Fehler als Erfahrung. Zur Rolle von Koordination und Diskoordination in bewussten Prozessen, in: Neumaier O. (Hrsg.), Was aus Fehlern zu lernen ist in Alltag, Wissenschaft und Kunst, Lit, Münster (2010), S. 30-54, hier: S. 35
  39. Argrys C., Teaching Smart People How To Learn (Harvard Business Review Classics), Boston, MA (2008)
  40. In einem nur eine Seite umfassenden, aber in der Aussage klaren Beitrag berichten Debra Ahmed und Harminder Sikand, wie der sorgsame Umgang von Mentorinnen/Mentoren mit Studierenden auf beiden Seiten Lerneffekte auslösen kann, gerade was den Umgang mit Fehlern betrifft – Ahmed D. S., Sikand H., Mentoring Mistakes, Am J Nurs (1999); 99(12): 12
  41. The Arbinger Institute, Leadership and Self Deception, The Arbinger Institute, London (2007)
  42. Neumaier O., siehe Ref. 5, S. 1
  43. Europäische Kommission, Medical Errors. Special Eurobarometer 241, Europäische Kommission, Brüssel (2006), S. 12
  44. Mullis J., siehe Ref. 15, S. 147
  45. Berlinger N., After harm: Medical error and the ethics of forgiveness, The Johns Hopkins University Press, Baltimore, MD (2005)
  46. Buetow S., Elwyn G., Are Patients morally responsible for their errors?, J Med Ethics (2006); 32: 260-262

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. MMag. DDDr. Clemens Sedmak
Zentrum für Ethik und Armutsforschung, Universität Salzburg
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Anthropologie und Bioethik
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