Abtreibungsdebatte: ein neuer Fokus

Imago Hominis (2010); 17(1): 59-64
Enrique H. Prat

Die öffentliche Abtreibungsdebatte in Europa ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Dauerbrenner. Paradoxerweise gibt es trotz hitziger Debatten nach wie vor kaum eine gesellschaftliche Kommunikation zu diesem Thema. Die Streitparteien bringen keine Dialogbereitschaft auf. Gebetsmühlenartig wiederholen sie ihre eigenen Argumente, doch keiner ist bereit, auf die Argumente der anderen einzugehen.

Akademisch konnte man Pro- und Kontra-Argumente formulieren und publizieren. Alle Argumente wurden längst in vielen Medien immer wieder durchgekaut. Die Fronten bleiben hart und unbeweglich. Kann das alles gewesen sein? Gibt es einen Ausweg?

Die zwei Ebenen eines Diskurses

Übersehen wird meistens, dass es zwei verschiedene Ebenen gibt, auf denen zu diesem Thema argumentiert wird: die individuell-moralische und die politische. Diese beiden Ebenen des Diskurses zu verwechseln oder zu vermischen, bedeutet den Todesstoß für jede Kommunikation. Das ist auch logisch, wenn man bedenkt, dass politische Ethik eine eigene Rationalität besitzt, die mit jener der allgemeinen Ethik nicht deckungsgleich ist.

Dazu kommt: Persönliche Bekenntnisse oder das, was man im privatem Kreis bzw. innerhalb von Gesinnungs-, Glaubens- oder Interessensgemeinschaften kommuniziert, sind in der Regel nicht unmittelbar für den öffentlichen politischen Diskurs gedacht noch tauglich. Zwischen privater und öffentlicher Ebene zu unterscheiden führt nicht zu einer Doppelmoral, sondern macht deutlich, dass hier besondere Klugheit in der Kommunikation gefordert ist. In einer multikulturellen Gesellschaft treffen ganz verschiedene und heterogene Denkweisen aufeinander, jede mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer Begrifflichkeit und ihren Codes. Zum Teil sind diese untereinander inkompatibel, ja selbst unter denselben Termini versteht jeder etwas anderes. Deshalb braucht es – insbesondere im öffentlichen Diskurs – bei höchst kontroversen Fragen eine umfassende und umsichtige Annäherung der Positionen. Der Dialog muss auf der Basis von gemeinsamen Überzeugungen, so klein sie auch sein mögen, aufgebaut werden, als Ausgangspunkt für einen möglichen fortschreitenden Konsens.

Die Ethik als Moralphilosophie ist natürlich allein der praktischen Wahrheit und ihrer Suche verpflichtet. Die politische Ethik ihrerseits betrachtet immer ein Handeln in einem demokratisch-politischen Kontext. Dabei muss ein optimaler – das heißt, der für alle Beteiligten und Interessen bestmögliche – Konsens das Ziel des politischen Handelns sein.

Moderne konsens-ethische Denker übersehen leider sehr oft die unterschiedliche Rationalität dieser zwei Ebenen: Sie übertragen das im politischen Bereich geltende demokratische Prinzip auf den moralischen Bereich und statuieren damit den Konsens als die moralisch legitimierende Instanz in individualethischen Fragestellungen. Daraus resultieren ein unbefriedigender moralischer Minimalismus und eine Verletzung des Rechtes auf Gewissensfreiheit. Beides geht mit einer Neudefinition und letztlich Pervertierung von Toleranz einher.

Aber auch die Vertreter von rigoristischen individualethischen Positionen übersehen, dass, bei aller Liebe zur Wahrheit, der Konsens ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil des politischen Ethos ist. Ohne Konsens ist kein Zusammenleben möglich. Es stimmt zwar, sofern man auf der Ebene der Individualethik argumentiert, dass der Konsens nicht das Ziel sein darf, sondern eher die Folge des Bemühens um die Wahrheit, die – so unzugänglich sie auch erscheinen mag – immer das Ziel der philosophischen Reflexion ist und bleiben muss. Die Wahrheit zu finden wird oft nicht leicht sein, ein Konsens, der nicht auf dem Boden der Wahrheit steht, ist als Gegenstand der Moralphilosophie auf verlorenem Posten. Das heißt aber gleichzeitig nicht, dass man auf der politischen Handlungsebene die Freiheit der politischen Subjekte nicht respektieren müsste. Man würde in einen Fundamentalismus fallen, wenn im politischen Ethos die Wahrheit vor die Freiheit gestellt würde. Das Ziel der politischen Ethik sollte sein, Wahrheit und Freiheit in Einklang zu bringen.

Da Politik die Kunst des Möglichen ist, wird eine politische Ethik die praktische Wahrheit (das Gute) suchen, dies jedoch im gesellschaftlichen Konsens. Das Gute der politischen Ethik ist nicht die Wahrheit selbst, sondern unter allen Konsensmöglichkeiten jenen Konsens zu suchen und zu verwirklichen, dessen Inhalt der Wahrheit am nächsten kommt. Aus der Sicht einer politischen Ethik ist es daher falsch, in einer bestimmten Frage die Wahrheit als realpolitisches Ziel des Konsenses anzustreben, wenn dadurch die gesellschaftlichen Fronten so aufeinander prallen würden, dass der nun erreichbare Konsens weit hinter dem bliebe, was in einer kommunikativen Atmosphäre möglich sein müsste. Das gerade ist es, was in den meisten Länder Europas und Nordamerikas bei der Abtreibungsdebatte passiert ist. Wäre die falsche Orientierung der Debatte früher erkannt worden, hätte man wohl das Leben vieler Ungeborener retten können.

Ist die Idee des Lebensschutzes nicht konsensfähig?

Warum kann kein gesellschaftlicher Diskurs über die Zulässigkeit der Abtreibung geführt werden? Warum besteht in dieser Frage offenbar ein Unvermögen, miteinander zu kommunizieren?

Die Abtreibungsbefürworter führen eine Argumentation, die auf zwei Thesen beruht:

  1. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau darf nicht angetastet werden.
  2. Was im Uterus der schwangeren Frau entsteht, kann sich zwar später zum Menschen entwickeln, aber in keiner Weise jene Schutzwürdigkeit beanspruchen, die allen Menschen als Personen zukommt.

Der Streitpunkt der rund ein halbes Jahrhundert andauernden öffentlichen Debatte liegt in der zweiten These. Darüber lässt sich in der Regel mit Abtreibungsbefürwortern nicht diskutieren. Weder biologische noch philosophische Argumente werden von ihnen zur Kenntnis genommen. Mit jemandem, der den Embryo als Zellhaufen sehen will und sich weigert, in diesem Haufen eine höhere Ordnung zu suchen und vielleicht zu finden, kann man keinen rationalen Diskurs führen. So bedauerlich und irrational diese Gesprächsverweigerung der Abtreibungsbefürworter erscheinen mag, hat sie aber auch eine gewisse Logik, die von den Abtreibungsgegnern oft übersehen und mit den immergleichen Pro Life-Argumenten bekämpft wird. Wenn die Abtreibung aufgrund dieser These gesetzlich zugelassen bzw. straffrei gestellt wurde, dann hieße alleine schon das Eintreten in diese Debatte für den Abtreibungsbefürworter, dass er möglicherweise zugeben müsste, dass eine Abtreibung Tötung eines menschlichen Lebens ist. Damit würde er die Widersprüchlichkeit des Gesetzes zugeben müssen, wozu er eben nicht bereit ist.

Diese Diskussionsschiene hat in keiner Weise zur Verständigung, sondern nur zu einer Eskalation der Emotionen und zu einer Verrohung der Debatte geführt, die jede Aussicht auf Konsens illusorisch macht.

Nach den langjährigen Erfahrungen müsste der Debatte eine radikale argumentative Wende gegeben werden, um aus dieser Sackgasse herauszukommen. Dafür bietet die erste These einen Ansatz, der bis jetzt völlig vernachlässigt wurde: das Selbstbestimmungsrecht der Frau.

Lebensschützer erklären sich mit dieser These einverstanden, insofern auch sie nicht wollen, dass die Autonomie der Frau eingeschränkt wird. Allerdings hat die Autonomie wie alle anderen Menschenrechte dort eine Grenze, wo diese Freiheit mit der eines anderen Menschen kollidiert.

Genau auf diesem Punkt müsste die argumentative und gleichzeitig kommunikative Wende aufbauen. Der oft sehr mutige Einsatz der Lebensschützer für das Leben des Embryos wurde in der Öffentlichkeit als ein Unverständnis für die Probleme der Frau interpretiert. Daraus wurde eine Gegnerschaft zur Frau gedeutet. Ein Lebensschutz, der nicht ausreichend auf die Lage der Frau achtet, der die Selbstbestimmung der Frau beschneiden will, ist moralisch fragwürdig und, wie man sieht, politisch völlig unwirksam. Ein effizienter Lebensschutz muss also unbedingt zunächst die Autonomie der Frau stärken.

Über einen Lebensschutz, der in erster Linie die Stärkung der Autonomie der Frau im oben erwähnten Sinn auffasst, könnte man sich mit den Abtreibungsbefürworten zumindest theoretisch einigen, vorausgesetzt, sie argumentieren auf der Basis der Menschenrechte. Man kann davon ausgehen, dass diese erste These konsensfähig wäre.

Ansatz einer Abtreibungsdebatte-neu

Die öffentliche Abtreibungsdebatte könnte nüchtern und emotionslos nach dem Muster eines konsensorientierten, iterativen Kommunikationsprozesses nach folgenden vier Regeln geführt werden:

  1. Der Diskurs geht vom bestehenden Konsens aus, so minimal er auch sein mag. Das bedeutet, den Fokus der Debatte von der zweiten auf die erste These der Argumentation zu verschieben.
  2. Die zweite These wird auf keinen Fall direkt in die Diskussion miteinbezogen, da dies den Kommunikationsprozess wieder erlahmen lassen würde.
  3. Es wird versucht, sich in der Kommunikation in diese konsensträchtige These zu vertiefen, bis ein neuer, inhaltlich umfassenderer Konsens erreicht wird.
  4. Der Prozess beginnt wieder von neuem, aufgrund des neuen Konsenses.

Ad 1) Der Ausgangskonsens ist die Selbstbestimmung der Frau. Die Frau muss entscheiden. Man will auf jeden Fall das Beste für die Frau, aber das muss sie selber wollen. Das sollte immer im Vordergrund der Debatte stehen.

Man muss bei der Selbstbestimmung jegliche Art von Willkür- oder „Fehlentscheidung“ in Folge einer selbstverschuldeten, falschen Wahrnehmung der Problemlage ausschließen. Autonomie soll als Selbstgesetzgebung der Vernunft (Kant) verstanden werden. Der Mensch ist nicht schon dann selbstbestimmt, wenn er seine Entscheidung ohne fremden Einfluss trifft, sondern vor allem, wenn er zu seiner Entscheidung stehen kann. Keine Frau wird eine Fehlentscheidung der Vergangenheit deswegen gutheißen, weil sie sie ohne fremden Einfluss getroffen hat. Sie wird sie bedauern, und vor allem wird sie bedauern, dass sie sich nicht richtig hat beraten lassen oder sich nicht den richtigen Rat holen konnte. Zu der Fehlentscheidung wird sie aber nur dann stehen, wenn sie nichts Anderes tun konnte und sich mit niemandem richtig beraten konnte. Sie wird eher sagen, sie habe sich irreleiten lassen von diesen oder jenen Gefühlen, dem Druck, den Umständen oder Personen. Im Grund erklärt sie aber damit, dass es nicht ihre Entscheidung war, es war eigentlich Fremdbestimmung!

Wesentlich in der klugen Entscheidung ist der Moment der Beratung. Der kluge Mensch lässt sich im vertrauten (Familien- und Freundeskreis) und kompetenten Umfeld (Experten) ausführlich und gut beraten, bevor er/sie zum Urteil und dann zum Entschluss kommt. Je mehr jemand unter emotionalem Schock steht, umso mehr muss er/sie auf die richtige Beratung setzen, damit er/sie nichts tut, das er/sie bald bereuen würde.

Ad 2) Da nicht alle Kontrahenten in dieser Debatte den Embryo als Rechtssubjekt anerkennen, soll diese Frage ausgeklammert werden und ein Konsens ohne Beantwortung dieses Aspekts gefunden werden. Es geht dabei nicht nur um eine rein strategische Maßnahme, sondern sie muss auch überzeugend kommuniziert werden. Zum jetzigen Zeitpunkt darüber zu debattieren, hat keinen Sinn. Das bedeutet nicht, dass jemand seine Überzeugungen aufgibt oder versteckt, sondern nur, dass er diese momentan nicht zum Gegenstand der politischen und öffentlichen Diskussion machen will.

Ad 3) Wie lässt sich die erste These vertiefen und der Konsens ausbauen? Zunächst sollte man davon ausgehen, dass die Selbstbestimmung als rationale Fähigkeit des Menschen eine gründliche Prüfung von Zielen und Mitteln voraussetzt und dass zur Selbstbestimmung immer eine kompetente und ins persönliche Lebensumfeld der Betroffenen emotional gut integrierte Beratung unumgänglich ist.

Tatsache ist, dass im Normalfall die schwangere Frau, die an eine Abtreibung denkt, vor einer schwierigen Entscheidung steht. Sie befindet sich meistens subjektiv in einer Notsituation und in einem starken emotionalen Schock. Sie bedauert, was zu dieser Situation geführt hat, und dass sie es nicht zu verhindern wusste oder nicht konnte oder wollte. Man kann also im Allgemeinen davon ausgehen, dass eine Abtreibung eine Maßnahme ist, die in der Regel nicht leichtfertig gewählt wird. Wenn eine Frau meint, kein Kind austragen zu können, würde sie freiwillig und vernünftigerweise keine Handlung setzen, von der sie weiß, dass sie 100-prozentig zur Schwangerschaft führt. Wenn man abtreiben lässt, dann deshalb, weil etwas passiert ist, mit dem man nicht gerechnet hat oder vielleicht auch nicht rechnen wollte. Daraus folgt, dass Abtreibung prinzipiell nicht eine Lösung erster Wahl, sondern immer nur eine Lösung zweiter Wahl ist, auf die zugegriffen wird, wenn sonst nichts mehr hilft. Darüber müsste ein breiter Konsens in unsere Gesellschaft vorhanden sein: Abtreibung ist immer nur eine Maßnahme zweiter Wahl, die jeder Betroffene im Nachhinein lieber hätte verhindern wollen. Daraus lässt sich auch folgern, dass es im Sinne einer Unterstützung der Selbstbestimmung der Frau wäre, Leistungen anzubieten, die ihr eine Entscheidung zweiter Wahl, die sie im Tiefsten nicht will, erspart. Die Konsensthese könnte auch so formuliert werden: „Die Selbstbestimmung der Frau in der Notsituation kann am besten unterstützt werden, indem man alles daran setzt, dass keine Frau eine Entscheidung zweiter Wahl treffen muss, die sie im Tiefsten nicht will.

Dass es einen solchen Konsens in unserer Gesellschaft gegeben hat, kann zunächst aus den Aufzeichnungen des Parlamentsarchivs in jener Nationalratsdebatte am 29. November 1973, die dem Beschluss der Fristenregelung vorausgingen, entnommen werden. Wörtlich sagte der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ): „Man muss alles tun, um im Bereich der Politik diesen ganzen Paragraphen so obsolet zu machen, wie dies mit den Mitteln der Politik, der Psychologie und auch der Moral nur geht, um die Frau zu veranlassen, dass sie dann, wenn sie empfangen hat, das Kind behält.“1 Für den Konsens spricht auch das Faktum, dass damals zeitgleich mit dem Fristenlösungsgesetz 1973 ein Entschließungsantrag mit flankierenden Maßnahmen mit Stimmen von SPÖ und ÖVP beschlossen wurde: Von der Regierung wurden als flankierende Maßnahmen zur Fristenlösung „die verstärkte Aufklärung über Empfängnisverhütung, der Ausbau von Familienberatungsstellen, die Erleichterung von Adoptionsmöglichkeiten, die Erhöhung der (inzwischen abgeschafften) Geburtenhilfe, die Erhöhung des Karenzgeldes, der Ausbau der Kindergärten und die Schaffung von modernen Sozialhilfegesetzen“ gefordert.2 Leider wurden dann die geforderten Maßnahmen wegen der Emotionalisierung des Themas und der Verhärtung der Fronten nicht umgesetzt.

Da jeder Vorstoß zur Lösung des Problems Abtreibung in der Öffentlichkeit zu einer Eskalation der Emotionen führte und de facto niedergeschmettert wurde, ist das Bewusstsein, dass dieser Konsens existierte, verschüttet. Diese starken Emotionen haben leider auch die Einsicht in die Tatsache verhindert, dass jeder vernünftige Mensch der erwähnten Konsensthese eigentlich zustimmen müsste, weil sie ebenso rational ist wie die These, dass niemand sich ein Bein amputieren lässt, wenn er nicht in der Notsituation steckt, die dieses Bein für ihn zur Existenzbedrohung werden lässt. Beide sind Entscheidungen zweiter Wahl. Bruno Kreisky ging 1974 sogar viel weiter, als er behauptete, dass nur „sehr arme oder sehr ungebildete Gesellschaften“ Abtreibung als Mittel der Geburtenkontrolle einsetzen. Österreich sei „weder arm noch ungebildet, Gott sei Dank“.3

Zusammenfassend: Der bestehende Konsens ist ein politischer Auftrag an die Gesellschaft, alle jene Maßnahmen zu treffen, die es jeder betroffenen Frau ermöglichen würden, auf eine Handlung zweiter Wahl (Abtreibung) nicht zurückgreifen zu müssen.

Ad 4) Ausgehend von diesem Konsens müsste man einzelne Maßnahmen – die zum Teil bereits oft in der Vergangenheit als flankierende Maßnahmen vorgeschlagen wurden – nüchtern besprechen und letztendlich prüfen. Darunter fallen finanzielle Unterstützungsprogramme für den einzelnen Notfall ebenso wie langfristig angelegte Aufklärungs- und Erziehungsprogramme z. B. über den verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Sexualität. Auch die Rolle des Mannes und des sozialen Umfelds der Frau müssten in diesem Konsens ihren Platz finden. Der Prozess müsste nun wieder beginnen, um ausgehend vom jeweils erreichten Konsens weitere Maßnahmen zu treffen, die zu einem weiteren Konsens führen sollten usw., mit dem erwarteten Effekt, dass immer weniger auf die Abtreibung zurückgegriffen wird.

Abbau der Emotionen: eine Utopie?

Das Haupthindernis für eine nüchterne und vernünftige Abtreibungsdebatte ist die Hyperemotionalisierung des Themas in der Öffentlichkeit, die jede Kommunikation im Keim erstickt. Ein Abbau der Emotionen ist als erstes notwendig, um einen neuen Verständigungsprozess einzuleiten. Das Mittel dazu ist, ganz auf die erste These, nämlich die Achtung der Selbstbestimmung der Frau zu setzen und dies glaubwürdig zu signalisieren. Die zweite These muss vorerst aus der Diskussion ausgeklammert werden, um in der Vertiefung der ersten These möglichst weit voranzukommen.

Es wird Aufgabe von Abtreibungsgegnern und -befürwortern sein, das Vertrauen der jeweils anderen zu gewinnen, indem sie umsichtig nach und nach jene Dialogspartner, die bereit sind, gemeinsam über die Förderung der Selbstbestimmung der Frau in der Frage der Abtreibung nachzudenken, zu diesem kommunikativen Prozess einzuladen – die Erfahrung zeigt, dass es solche Partner gibt . Wenn der Prozess in Gang kommt, kann erwartet werden, dass sich immer mehr Subjekte und Institutionen daran beteiligen werden.

In diesem Prozess ist das Ziel für Staaten, in denen inzwischen die Abtreibung per Gesetz legal oder straffrei ist, zunächst nicht, die Abtreibung zu verbieten und womöglich Frauen zu bestrafen, sondern den Schwangerschaftsabbruch obsolet zu machen, sodass sich niemand mehr dafür entscheidet, obwohl im positiven Recht die Möglichkeit weiter besteht, solange dafür kein Konsens gefunden werden kann.

Ist das Ziel utopisch? Aus heutiger Sicht: Ja.

Nicht utopisch scheint aber, dass dieser kommunikative Prozess gestartet wird und durch die Maßnahmen zur Unterstützung der Selbstbestimmung der Frau langsam, aber kontinuierlich und ohne Druck immer weniger Frauen auf eine Abtreibung zurückgreifen wollen und müssen. Für Christen und sonstige durch ihr Gewissen dem Lebensschutz verpflichtete Menschen wird dieser Konsens zu wenig sein. Für sie bekommt die Hoffnung, dass am Ende dieses Prozesses erstmals ein wirklicher Dialog über die zweite These (Der Embryo ist ein Mensch) möglich wird, ein reales Fundament. Damit leben auch die Chancen für eine Revision der Gesetzeslage auf.

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE
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