Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben
Exzellenzen, verehrte Mitbrüder im bischöflichen und im priesterlichen Dienst, geschätzte Mitglieder der Akademie, sehr geehrte Damen und Herren!
Mit besonderer Freude empfange ich euch aus Anlaß der XV. Ordentlichen Vollversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben. Mein verehrter Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat sie 1994 unter dem Vorsitz eines Wissenschaftlers, Prof. Jerôme Lejeune, errichtet und mit Weitblick die schwierige Aufgabe erkannt, die sie im Lauf der Jahre erfüllen sollte. Ich danke dem Präsidenten, Erzbischof Rino Fisichella, für seine einführenden Worte, mit denen er den großen Einsatz der Akademie für die Förderung und den Schutz des menschlichen Lebens bekräftigt hat.
Seit der Augustinerprior Gregor Mendel Mitte des 19. Jahrhunderts die Vererbungsgesetze bestimmter Merkmale entdeckt hat und somit als Begründer der Genetik gilt, hat diese Wissenschaft wirklich außerordentliche Fortschritte gemacht im Verständnis jener Sprache, welche die Grundlage der biologischen Information ist und die Entwicklung eines Lebewesens bestimmt. Aus diesem Grund nimmt die moderne Genetik einen herausragenden Platz innerhalb der biologischen Disziplinen ein, die beigetragen haben zur erstaunlichen Entwicklung der Kenntnisse über die unsichtbare Architektur des menschlichen Leibes und die zellulären und molekularen Prozesse, die seine vielfältigen Aktivitäten lenken. Die Wissenschaft ist heute so weit, dass sie verschiedene verborgene Mechanismen der menschlichen Physiologie und auch die Prozesse aufgedeckt hat, die mit dem Auftreten einiger erblicher Gendefekte zusammenhängen, sowie die Prozesse, durch die manche Menschen einem größeren Risiko ausgesetzt sind, sich eine bestimmte Krankheit zuzuziehen. Dieses Wissen – Ergebnis der Intelligenz und der Mühe unzähliger Wissenschaftler – erlaubt nicht nur die leichtere, wirksamere und frühere Diagnose genetischer Krankheiten, sondern auch die Entwicklung von Therapien, die dazu bestimmt sind, die Leiden der Kranken zu lindern und in einigen Fällen ihnen sogar die Hoffnung auf Gesundung wiederzugeben. Seitdem des weiteren die Sequenz des gesamten menschlichen Genoms bekannt ist, sind auch Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen und verschiedenen Bevölkerungsgruppen Gegenstand genetischer Untersuchungen geworden, welche die Möglichkeit neuer Erkenntnisse erahnen lassen.
Das Forschungsspektrum ist auch heute sehr offen und täglich eröffnen sich neue Horizonte, die noch weitgehend unerforscht sind. Die Anstrengungen der Wissenschaftler in diesen so rätselhaften und wertvollen Bereichen erfordern besondere Unterstützung; deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Wissenschaften eine Hilfe, die nie fehlen darf, um zu Ergebnissen zu gelangen, die zugleich wirksam sind und einen echten Fortschritt für die gesamte Menschheit mit sich bringen. Diese Komplementarität hilft, das Risiko eines verbreiteten genetischen Reduktionismus zu vermeiden, der dazu neigt, die menschliche Person ausschließlich mit Bezug auf die genetische Information und ihre Interaktion mit der Umgebung zu identifizieren. Es muss betont werden, dass der Mensch immer größer sein wird als all das, was seinen Körper ausmacht; denn er trägt in sich die Kraft des Denkens, das immer nach der Wahrheit über sich selbst und die Welt strebt. Das erinnert an die bedeutungsschweren Worte eines großen Denkers, der auch ein ausgezeichneter Wissenschaftler war, Blaise Pascal: „Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen, um ihn zu zermalmen; ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Doch wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß ja, daß er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts“ (Pensées, 347).
Jeder Mensch ist also sehr viel mehr als eine einmalige Kombination von genetischen Informationen, die von seinen Eltern weitergegeben werden. Die Zeugung des Menschen kann nie auf die einfache Reproduktion eines neuen Individuums der menschlichen Spezies reduziert werden, wie dies bei irgendeinem Tier geschieht. Jedes Auf-die-Welt-Kommen eines Menschen ist immer eine neue Schöpfung. Daran erinnern mit tiefer Weisheit die Worte des Psalms: „Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter… Als ich geformt wurde im Dunkeln, … waren meine Glieder dir nicht verborgen“ (139, 13.15). Wenn man in das Geheimnis des menschlichen Lebens eindringen will, ist es also notwendig, dass keine wissenschaftliche Disziplin sich isoliert, indem sie vorgibt das letzte Wort zu haben. Man muss dagegen die gemeinsame Berufung teilen, um auch in der Unterschiedlichkeit der Methoden und der jeder Wissenschaft eigenen Inhalte zur Wahrheit zu gelangen.
Euer Kongress analysiert aber nicht nur die großen Herausforderungen, denen sich die Genetik stellen muss, sondern er erstreckt sich auch auf die Risiken der Eugenik, eine gewiss nicht neue Praxis, die in der Vergangenheit zu unerhörten Formen von echter Diskriminierung und Gewalt geführt hat. Die Missbilligung der Eugenik – von einem Regime gewaltsam angewendet oder auch Folge des Hasses gegen ein Volk oder einen Bevölkerungsteil – ist so tief in den Gewissen verankert, dass sie bindenden Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden hat. Trotzdem tauchen noch in unseren Tagen besorgniserregende Zeugnisse dieser verwerflichen Praxis auf, die sich unter verschiedenen Aspekten zeigt. Sicherlich treten nicht die eugenischen und rassistischen Ideologien auf, die den Menschen in der Vergangenheit gedemütigt und furchtbare Leiden verursacht haben, aber es schleicht sich eine neue Mentalität ein, die dazu neigt, eine andere Auffassung des Lebens und der Menschenwürde zu rechtfertigen, die auf den eigenen Wunsch und das individuelle Recht gegründet ist. Man tendiert also dazu, die Handlungsfähigkeit, Effizienz, Vollkommenheit und physische Schönheit auf Kosten von anderen, als unwürdig betrachteten Dimensionen des Lebens zu bevorzugen. Auf diese Weise wird der Respekt geschwächt, der jedem Menschen gebührt, auch bei Vorhandensein eines Fehlers in seiner Entwicklung oder einer genetischen Krankheit, die im Lauf seines Lebens ausbrechen könnte, und jene Kinder, deren Leben als nicht lebenswert betrachtet wird, werden vom Augenblick ihrer Empfängnis an benachteiligt.
Man muss bekräftigen, dass die durch jedwede Macht begangenen Diskriminierungen von Personen, Völkern oder Ethnien aufgrund der Unterschiede, die auf tatsächliche oder angenommene genetische Faktoren zurückgeführt werden, einen Angriff auf die gesamte Menschheit darstellen. Man muss mit Nachdruck die gleiche Würde jedes Menschen betonen, die sich aus der Tatsache ergibt, dass er ins Dasein getreten ist. Die biologische, psychische, kulturelle Entwicklung oder der Gesundheitszustand dürfen nie zu einem diskriminierenden Element werden. Es ist im Gegenteil notwendig, die Kultur der Annahme und der Liebe zu festigen, die konkretes Zeugnis geben von der Solidarität mit denen, die leiden, und die die Barrieren beseitigt, welche die Gesellschaft oft durch die Diskriminierung derjenigen errichtet, die behindert und krank sind, oder schlimmer noch, indem sie im Namen eines abstrakten Ideals von Gesundheit und physischer Vollkommenheit bis zur Selektion oder zur Zurückweisung des Lebens geht. Wenn der Mensch von seinen frühesten Entwicklungsphasen an auf ein Objekt experimenteller Manipulation reduziert wird, bedeutet das, dass sich die biomedizinischen Technologien der Willkür des Stärkeren ergeben haben. Das Vertrauen in die Wissenschaft darf nicht den Primat der Ethik vergessen lassen, wenn das menschliche Leben auf dem Spiel steht.
Ich vertraue darauf, dass eure Forschungen auf diesem Sektor weitergehen können mit dem erforderlichen wissenschaftlichen Einsatz und der Aufmerksamkeit, den die ethische Instanz erfordert in bezug auf die Problematiken, die für die ganzheitliche Entwicklung der menschlichen Existenz so wichtig und entscheidend sind. Mit diesem Wunsch möchte ich unsere heutige Begegnung abschließen. Ich rufe auf eure Arbeit reiches himmlisches Licht herab und erteile euch allen von Herzen einen besonderen Apostolischen Segen.
Rom, 21. Februar 2009
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