Die Bildung eines wahren und rechten Gewissens, ein unverzichtbares Unterfangen
Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie für das Leben
Liebe Brüder und Schwestern!
Es ist für mich eine echte Freude, in dieser so zahlreich besuchten Audienz die Mitglieder der Päpstlichen Akademie für das Leben zu empfangen, die anlässlich der XIII. Vollversammlung zusammengekommen sind; gleiches gilt für all jene, die an dem Kongress zum Thema: „Das christliche Gewissen zur Unterstützung des Rechts auf Leben“, teilnehmen wollten. Ich begrüße Kardinal Javier Lozano Barragán, die anwesenden Erzbischöfe und Bischöfe, die Mitbrüder im Priesteramt, die Referenten des Kongresses und Sie alle, die Sie aus verschiedenen Ländern zusammengekommen sind. Ich begrüße besonders Bischof Elio Sgreccia, Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben, und danke ihm für die an mich gerichteten freundlichen Worte und für die Arbeit, der er sich zusammen mit dem Vizepräsidenten, dem Kanzler und den Mitgliedern des Präsidiums widmet, um die delikaten und umfassenden Aufgaben der Päpstlichen Akademie zu erfüllen.
Das Thema, auf das Sie die Aufmerksamkeit der Teilnehmer und daher auch der kirchlichen Gemeinschaft und der öffentlichen Meinung gelenkt haben, ist von großer Bedeutung: Es ist für das christliche Gewissen eine innere Notwendigkeit, mit den vielfältigen und gewichtigen Motivationen genährt und gestärkt zu werden, die sich für das Recht auf Leben stark machen. Es ist ein Recht, das von allen vertreten werden muss, weil es in Bezug auf die anderen Menschenrechte das Grundrecht ist. Das bekräftigt die Enzyklika Evangelium vitae: „Selbst in Schwierigkeiten und Unsicherheiten vermag jeder Mensch, der in ehrlicher Weise für die Wahrheit und das Gute offen ist, im Licht der Vernunft und nicht ohne den geheimnisvollen Einfluß der Gnade im ins Herz geschriebenen Naturgesetz (vgl. Röm 2, 14-15) den heiligen Wert des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem Ende zu erkennen und das Recht jedes Menschen zu bejahen, daß dieses sein wichtigstes Gut in höchstem Maße geachtet werde. Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruht das menschliche Zusammenleben und das politische Gemeinwesen“ (Nr. 2).1 Dieselbe Enzyklika ruft in Erinnerung: „Besonders verteidigen und fördern müssen dieses Recht die Christgläubigen im Bewußtsein der wunderbaren Wahrheit, an die das II. Vatikanische Konzil erinnert: ‚Der Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.’ Denn in diesem Heilsereignis offenbart sich der Menschheit nicht nur die unendliche Liebe Gottes, der ‚die Welt so sehr geliebt (hat), daß er seinen einzigen Sohn hingab’ (Joh 3, 16), sondern auch der unvergleichliche Wert jeder menschlichen Person“.
Der Christ ist deshalb ständig aufgerufen, aktiv zu werden, um den zahlreichen Angriffen, denen das Recht auf Leben ausgesetzt ist, die Stirn zu bieten. Er weiß, dass er dabei auf Begründungen zählen kann, die tief im Naturrecht verwurzelt sind und daher von jedem Menschen rechten Gewissens geteilt werden können. In dieser Hinsicht ist vor allem nach der Veröffentlichung der Enzyklika Evangelium vitae viel getan worden, damit die Inhalte dieser Begründungen in der christlichen Gemeinschaft und in der Zivilgesellschaft besser bekannt gemacht werden können; man muss freilich eingestehen, dass sich die Angriffe gegen das Recht auf Leben in der ganzen Welt ausgeweitet und vervielfacht und dabei auch neue Formen angenommen haben. So wächst der Druck für die Legalisierung der Abtreibung in den Ländern Lateinamerikas und in den Entwicklungsländern immer stärker, wobei man – unter dem Vorwand der Fortpflanzungsgesundheit – auch auf die Freigabe neuer Formen der chemischen Abtreibung zurückgreift: Die politischen Maßnahmen zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums werden gesteigert, obwohl sie heute auch auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene als schädlich gelten.
Gleichzeitig wächst in den entwickelten Ländern das Interesse an einer immer mehr verfeinerten biotechnologischen Forschung, um subtile und weitreichende Methoden der Eugenik einzuführen, bis hin zu der obsessiven Suche nach dem „perfekten Kind“, was man durch die Verbreitung der künstlichen Fortpflanzung und verschiedener Formen der Diagnose, die dessen Selektion sicherstellen sollen, zu erreichen versucht. Eine neue Welle diskriminierender Eugenik findet Zuspruch im Namen des vermeintlichen Wohls der Individuen; und insbesondere in der wirtschaftlich fortgeschrittenen Welt werden Gesetze zur Legalisierung der Euthanasie gefördert. Das alles geschieht, während auf der anderen Seite die Bestrebungen wachsen, Lebensgemeinschaften zu legalisieren, die eine Alternative zur Ehe darstellen und einer natürlichen Fortpflanzung verschlossen sind. In diesen Situationen zeigt das Gewissen, das von den Mitteln kollektiven Drucks manchmal überwältigt ist, nicht genügend Wachsamkeit gegenüber dem Ernst der anstehenden Probleme, und die Macht der Stärkeren schwächt und lähmt anscheinend auch die Menschen guten Willens.
Deshalb bedarf es noch dringender des Appells an das Gewissen, insbesondere an das christliche Gewissen. „Das Gewissen“ – sagt der Katechismus der Katholischen Kirche – „ist ein Urteil der Vernunft, in welchem der Mensch erkennt, ob eine konkrete Handlung, die er beabsichtigt, gerade ausführt oder schon getan hat, sittlich gut oder schlecht ist. Bei allem, was er sagt und tut, ist der Mensch verpflichtet, sich genau an das zu halten, wovon er weiß, daß es recht und richtig ist“ (Nr. 1778).2 Aus dieser Definition geht hervor, dass das Gewissen, wenn es in der Lage sein soll, das menschliche Verhalten richtig zu leiten, vor allem auf dem festen Fundament der Wahrheit gründen muss; das heißt, es muss erleuchtet werden, um den wahren Wert der Handlungen und die Beschaffenheit der Bewertungskriterien zu erkennen, so dass es das Gute vom Bösen zu unterscheiden weiß – auch dort, wo das soziale Umfeld, der kulturelle Pluralismus und die sich überschneidenden Interessen nicht von Nutzen sind.
Die Bildung eines wahren – weil auf der Wahrheit gegründeten – und eines rechten Gewissens – weil es dazu bestimmt ist, den Geboten der Wahrheit widerspruchslos, getreu und kompromisslos zu folgen – ist heute ein schwieriges und delikates, aber unverzichtbares Unterfangen. Und es ist ein Unterfangen, das leider durch verschiedene Faktoren behindert wird. Gerade in der derzeitigen Phase der so genannten postmodernen Säkularisierung, die durch diskutierbare Formen der Toleranz gekennzeichnet ist, wächst nicht nur die Ablehnung der christlichen Tradition, sondern man misstraut auch der Fähigkeit der Vernunft, die Wahrheit wahrzunehmen, und entfernt sich von der Freude am Nachdenken. Um frei zu sein, müsste sich nach Ansicht mancher das individuelle Gewissen sogar sowohl der Bezüge zur Tradition entledigen als auch jener Bezüge, die auf die Vernunft gegründet sind. So hört das Gewissen, das ein auf die Wahrheit der Dinge ausgerichteter Akt der Vernunft ist, auf, Licht zu sein, und wird ein einfacher Hintergrund, auf den die Mediengesellschaft die widersprüchlichsten Bilder und Impulse projiziert.
Es bedarf einer neuen Erziehung zur Sehnsucht nach der Erkenntnis der authentischen Wahrheit, zur Verteidigung der eigenen Wahlfreiheit gegenüber den Verhaltensweisen der Masse und den Verlockungen der Werbung, um die Leidenschaft für die moralische Schönheit und die Klarheit des Gewissens zu nähren. Das ist die delikate Aufgabe der Eltern und der Erzieher, die ihnen zur Seite stehen; und es ist die Aufgabe der christlichen Gemeinschaft gegenüber ihren Gläubigen. Was das christliche Gewissen, sein Wachstum und seine Nahrung betrifft, darf man sich nicht mit einem flüchtigen Kontakt mit den grundlegenden Glaubenswahrheiten in der Kindheit begnügen, sondern es bedarf eines Weges, der die verschiedenen Etappen des Lebens begleitet und den Geist und das Herz für die Annahme der grundlegenden Verpflichtungen öffnet, auf die sich die Existenz sowohl des einzelnen wie der Gemeinschaft stützt. Nur so wird es möglich sein, die Jugendlichen zum Verständnis der Werte des Lebens, der Liebe, der Ehe und der Familie hinzuführen. Nur so wird man sie dazu bringen können, die Schönheit und Heiligkeit der Liebe, die Freude und die Verantwortung zu schätzen, Eltern und Mitarbeiter Gottes in der Weitergabe des Lebens zu sein. Wenn eine kontinuierliche und qualifizierte Bildung fehlt, wird die Urteilsfähigkeit bei den Problemen, vor die uns die Biomedizin im Bereich der Sexualität, des beginnenden Lebens und der Fortpflanzung stellt, noch problematischer; gleiches gilt für die Weise des Umgangs mit Patienten und den schwachen Gruppen der Gesellschaft und deren Pflege.
Es ist sicher notwendig, über die diese Themen betreffenden moralischen Kriterien mit den beruflich als Ärzte und Juristen tätigen Personen zu reden, um sie zur Ausarbeitung eines kompetenten Gewissensurteils und, falls notwendig, auch zu einer mutigen Verweigerung aus Gewissensgründen zu verpflichten. Aber eine gleiche Dringlichkeit im Ausbildungsprozess der Jugendlichen und der Erwachsenen besteht an der Basis, für die Familien und die Pfarrgemeinden. Unter diesem Aspekt gilt es, die christliche Bildung, die auf das Kennenlernen der Person Christi, seines Wortes und der Sakramente ausgerichtet ist, auf dem Glaubensweg der Kinder und Jugendlichen kohärent mit dem Sprechen über die moralischen Werte zu verbinden, die die Leiblichkeit, die Sexualität, die menschliche Liebe, die Fortpflanzung, die Achtung vor dem Leben in allen Augenblicken betreffen. Gleichzeitig muss mit stichhaltigen und präzisen Gründen die Missbilligung der Verhaltensweisen deutlich gemacht werden, die diesen primären Werten zuwiderlaufen. In diesem spezifischen Bereich wird das Wirken der Priester in angemessener Weise durch den Einsatz von Erziehern im Laienstand, auch Spezialisten, unterstützt werden müssen, die sich der Aufgabe verschrieben haben, die kirchlichen Realitäten mit ihrem vom Glauben erleuchteten Wissen zu leiten. Ich bitte daher den Herrn, dass er zu Ihnen, liebe Brüder und Schwestern, und zu allen, die sich der Wissenschaft, der Medizin, dem Recht und der Politik widmen, Zeugen entsende, die mit einem wahren und rechten Gewissen ausgestattet sind, um den „Glanz der Wahrheit“ zur Unterstützung des Geschenks und des Geheimnisses des Lebens zu verteidigen und zu fördern. Ich vertraue auf Ihre Hilfe, liebe Freunde, die Sie beruflich als Philosophen, Theologen, Naturwissenschaftler und Ärzte tätig sind. In einer manchmal lärmenden und gewaltsamen Gesellschaft können Sie mit Ihrer kulturellen Qualifikation durch die Lehre und durch das Beispiel dazu beitragen, in vielen Herzen die beredsame und klare Stimme des Gewissens wieder zu erwecken.
„Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden kann“ (Gaudium et spes, 16).3 Das Konzil hat weise Richtlinien angeboten, damit „die Gläubigen genau zu unterscheiden lernen zwischen den Rechten und Pflichten, die sie haben, insofern sie zur Kirche gehören, und denen, die sie als Glieder der menschlichen Gesellschaft haben“, und damit sie „sie harmonisch miteinander zu verbinden suchen und daran denken, daß sie sich auch in jeder zeitlichen Angelegenheit vom christlichen Gewissen führen lassen müssen; keine menschliche Tätigkeit, auch in weltlichen Dingen nicht, läßt sich ja der Herrschaft Gottes entziehen“ (Lumen gentium, 36).4 Aus eben diesem Grund ermahnt das Konzil die gläubigen Laien, das aufzunehmen, „was die geweihten Hirten … als Lehrer und Leiter in der Kirche festsetzen“. Und auf der anderen Seite empfiehlt es, dass „die Hirten die Würde und Verantwortung der Laien in der Kirche anerkennen und fördern. Sie sollen gern deren klugen Rat benutzen“, und sagt abschließend: „Aus diesem vertrauten Umgang zwischen Laien und Hirten kann man viel Gutes für die Kirche erwarten“ (Lumen gentium, 37).
Wenn es um den Wert des menschlichen Lebens geht, wird diese Harmonie zwischen der Funktion des Lehramtes und dem Einsatz der Laien in einzigartiger Weise wichtig: Das Leben ist das erste der von Gott empfangenen Güter und die Grundlage aller anderen. Allen und für alle auf gleiche Weise das Recht auf Leben zu garantieren ist eine Pflicht, von deren Erfüllung die Zukunft der Menschheit abhängt. Aus diesem Blickwinkel ergibt sich auch die Wichtigkeit Ihres Kongresses. Ich vertraue dessen Arbeiten und Ergebnisse der Fürsprache der Jungfrau Maria an, die in der christlichen Tradition als die wahre „Mutter aller Lebenden“ gegrüßt wird. Sie möge Ihnen beistehen und Sie leiten! Zur Besiegelung dieses Wunsches möchte ich Ihnen allen, Ihren Angehörigen und Mitarbeitern den Apostolischen Segen erteilen.
Rom, 24. Februar 2007
Referenzen
- www.vatican.va/edocs/DEU0073/_INDEX.HTM
- www.vatican.va/archive/DEU0035/_INDEX.HTM
- www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html
- www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html