Heilen: weniger Theorie, mehr Bescheidenheit
Die „Kunst des Heilens“ ist nicht nur der Titel des gleichnamigen, im Dezember 2004 in Graz veranstalteten Weltkongresses, sondern ein gesellschaftliches und zutiefst menschliches Anliegen. Die medizinischen Fortschritte des letzten Jahrhunderts haben dabei an der Grundfrage des Heilens wenig geändert. Umso mehr stellt sich heute die Frage: Unterscheiden sich eigentlich komplementärmedizinische Ansätze, wie sie von Heilern aller Provenienz vertreten werden, von der wissenschaftlichen Medizin? Und wenn ja, wie?
Stets wird auf das unterschiedliche Weltbild, die unterschiedliche Sicht auf den Patienten hingewiesen – eine Erklärung, die zu kurz greift. Es gibt eine Vielfalt von Menschenbildern und Theoriegebäuden, nicht nur innerhalb der Alternativmedizin. Und die Einsicht, dass der Mensch in seiner Komplexität und seelischen Einmaligkeit mehr als eine körperliche Dimension hat, kann auch keine Richtung allein für sich reklamieren. Entscheidend ist jedoch oft nicht die Theorie an sich, sondern wie wir mit der Theorie umgehen.
Im Prinzip ist jede Vorstellung, die wir uns von den Lebensvorgängen machen, ein vereinfachtes theoretisches Modell. Das trifft auf das Bild, dass das Blut durch Kapillaren zirkuliert, ebenso zu wie auf die Idee, dass sich die Lebensenergie entlang von Meridianen bewegt.
Eine Theorie lässt Schlüsse zu. Auf Grund der Annahme, dass das Blut durch die engen Blutgefäße hindurch gepresst werden muss und ein hoher Blutdruck ungesund ist, lässt sich z. B. die Folgerung ableiten, dass gefäßerweiternde Mittel eine sinnvolle Therapie wären. In der wissenschaftlichen Medizin greift man diese Vermutung auf und stellt dann eine Reihe von Untersuchungen mit konkreten Fragestellungen an: Sinkt der Blutdruck wirklich, wenn das Medikament eingenommen wird? Kommt es auch wirklich zu weniger Schlaganfällen und Herzinfarkten? Leben die Betroffenen länger und – steigt ihre Lebensqualität?
Erst wenn alle diese Fragen mit einiger Wahrscheinlichkeit bejaht werden, kann die Therapie guten Gewissens angewandt und das dahinter stehende theoretische Modell bis auf weiteres beibehalten werden. Anders muss die Alternativmedizin vorgehen, wo entsprechende Untersuchungen nur in geringem Ausmaß vorhanden sind oder fehlen: Die Theorie, das Weltbild an sich müssen akzeptiert werden, und was darin schlüssig ist, muss folglich auch helfen. Die Überprüfung, ob die „Heilsversprechen“ auch halten, bleibt aus.
Die Berufung auf die „Erfahrung“ trägt wenig zur Klärung bei. Denken wir an die vielen sog. adjuvanten Krebstherapien: Mit diesen Maßnahmen – oft Chemo-, Immun- oder Hormontherapien – versucht man die Gefahr, dass sich Krebs weiter ausbreitet, zu senken. Was heißt das für den einzelnen, wenn eine solche Therapie das Risiko etwa von 40% auf 20% reduzieren kann? Wenn ein Betroffener überlebt, war er der eine unter fünf, der auf Grund der Therapie überlebt? Und wenn er die adjuvante Therapie oder irgendeine Alternativtherapie anwendet – hat er wegen dieser überlebt oder gehört er ohnehin zu den drei von fünf, die auch ohne weitere Maßnahmen gesund werden? Das persönliche Sammeln von Erfahrung – gerade auch durch uns Ärzte – gleicht dann allzu leicht dem Sammeln von Briefmarken: Man behält, was einem zusagt. Was nicht ins Konzept passt, lässt man beiseite. Nachdem jede Erkrankung – auch die schlimmste – unterschiedlich dramatische und unterschiedlich rasche Verläufe zeigen kann, gibt es auch zu jeder noch so wirkungslosen Therapie stets „positive Erfahrungen“ zu berichten.
Sich auf den Standpunkt zurückzuziehen, dass ohnehin „jeder Patient selbst herausfinden werde, was ihm hilft“, ist wiederum blanker Zynismus. Ebenso könnte man den BSE-Skandal unter den Tisch kehren mit dem Hinweis, der mündige Konsument werde schon selbst beurteilen können, welches Rindfleisch verseucht ist und welches nicht. Die wissenschaftliche Medizin hat vielfach gezeigt, dass auch bestens Etabliertes, für das Vernunft und Erfahrung zu sprechen schienen, letztlich unwirksam oder gar schädlich war.
Der aktuelle Stand der Alternativmedizin erinnert sehr an die Situation der wissenschaftlichen Medizin vor einigen Jahrzehnten. Damals dachte man, dass anerkannte Autoritäten, ungetrübtes Selbstvertrauen, öffentliche Zustimmung und politisches Wohlwollen als Rechtfertigung für das medizinische Tun ausreichen würden. Jedes neue Gerät wurde enthusiastisch aufgenommen, jede noch etwas radikalere Operation und jedes noch etwas spezifischere Medikament als Erfolg gefeiert. Der entscheidenden Frage – nämlich ob es den Patientinnen und Patienten mit einer bestimmten medizinischen Maßnahme tatsächlich besser geht als ohne dieselbe, glaubte man ausweichen zu können.
Es war ein einschneidender kultureller und gesellschaftlicher Entwicklungsprozess, der letztlich die wissenschaftliche Medizin dazu gebracht hat, sich dieser zentralen Frage zu stellen. Die Motivation zu dieser selbstkritischen Hinterfragung ist nur zu einem Teil aus der Medizin selbst gekommen – großteils dagegen von der Gesellschaft als Ganzes, die ihr Recht auf Transparenz und Offenlegung eingefordert hat. Manche Götter sind dadurch vom Olymp gestürzt, manche Theorie zerstört worden, die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten bescheidener geworden. Es gibt damit zwar keine Garantie gegen Fehler. Der grundlegende Prozess jedoch, jede Theorie erst an der konkreten und systematischen Beobachtung unserer Patienten zu überprüfen, lässt im Lauf der Jahre Unwirksames oder Schädliches erkennen, gleichzeitig aber auch Neues, Wertvolles entdecken, gerade auch dann, wenn es der herrschenden Theorie zuwider läuft.
Somit hat sich gerade jene Medizin, die an den Universitäten gelehrt wird und fälschlich als „Schul“-Medizin bezeichnet wird, als erste vom „Schul“-Denken befreit und das In-Frage-Stellen der Lehrmeinung zum klärenden Prinzip erhoben.
Dieses vorurteilsfreie Hinterfragen bezieht sich nicht auf ein bestimmtes Menschenbild oder ein Paradigma. Es geht einfach um die – von jedem medizinisch Tätigen – suggerierte Botschaft, dass es den Patienten mit einer bestimmten Therapie wahrscheinlich besser gehen werde als ohne diese. Vergleicht man 10, 100 oder 1000 derart behandelte Patienten, und die Heilung tritt nicht häufiger ein als bei den anders oder gar nicht behandelten, dann kann man getrost sagen: Die Maßnahme trägt nichts zur Genesung bei, die Selbstheilungskräfte der Natur haben – wie Gott sei Dank sehr oft – ohne unser Zutun gewirkt.
Es gibt mittlerweile durchaus Vertreter alternativmedizinischer Richtungen, die das Fehlen entsprechender systematischer Untersuchungen als Mangel empfinden und etwas dagegen unternehmen. Allerdings besteht von Seiten der Öffentlichkeit kein Druck in diese Richtung. Auch von politischer Seite sind keine Ambitionen erkennbar, entsprechende Forschungen in gleicher Weise wie für die wissenschaftliche Medizin gesetzlich vorzuschreiben. Damit wird eine Chance vertan, Unwirksames als solches zu entlarven, während tatsächlich Wirksames erkannt, nachhaltig weiterentwickelt und zum allgemeinen Nutzen gelehrt und verbreitet werden könnte.
Hätte man bei der wissenschaftlichen Medizin keinen Druck von außen ausgeübt – wir würden auf die kritische Reflexion noch immer warten. Bis die mündige Gesellschaft auch die verschiedenen komplementärmedizinischen Richtungen mit diesen Fragen konfrontiert und konkrete Antworten einfordert – bis dahin werden wohl noch viele medizinische Heilslehren im guten Glauben über den Ladentisch wandern.
Univ.-Prof. Dr. Josef Smolle
Univ.-Klinik für Dermatologie und Venerologie
Medizinische Universität Graz
Auenbruggerplatz 8, A-8036 Graz
Josef.Smolle(at)meduni-graz.at