Non-beating-heart donors aus ethischer Perspektive
In letzter Zeit wird die Organentnahme von Patienten nach Herzstillstand – ohne daß der Hirntod vorher bereits zweifelsfrei eingetreten ist – diskutiert (R.M.H. Wijnen et al. In: Lancet 1995, 1067-1070). Die damit verbundenen medizinischen Ziele, mehr Organe zur Rettung von Menschen für Organtransplantationen zu erhalten, sowie eine möglicherweise größere Erfolgsaussicht bei der Transplantation sind zunächst auch unter ethischen Gesichtspunkten zu begrüßen. Allerdings wird aus Zentren, in denen diesbezügliche Forschungen gemacht wurden, über eine hohe Widerspruchsrate durch die Verwandten berichtet. Bestehen die Sorgen dieser Verwandten zurecht und wie sind sie ethisch zu bewerten?
Unter drei voneinander gut zu unterscheidenden Gesichtspunkten soll eine Annäherung an die Beantwortung dieser Frage gesucht werden.
1. Die erste und grundlegende ist eine der ethischen Frage vorgelagerte medizin- anthropologische: Mit Hilfe welcher Kriterien wird der Tod eines Menschen zweifelsfrei festgestellt? Diese Frage gilt es gut zu unterscheiden von der Debatte, ob dieser Mensch noch ein Mensch in Sinne einer Person sei (vgl. W. Wolbert: Zur neueren Diskussion über den Gehirntod. In: Ethik in der Medizin 1996, 6-18). Es geht auch nicht um eine Definition des Todes. Den Tod des Menschen anthropologisch umfassend definieren zu wollen hieße ja, ihn von allen Seiten her erforschen zu können. Dies ist aber aus einsichtigen Gründen nicht möglich, da sich die „Rückseite“ des Todes, gleichsam was nach dem Tod kommt, schlechterdings menschlichen Wissensmöglichkeiten entzieht. Dennoch bedarf es einer juristischen Festlegung des Todes. Es kann also nur um Kriterien gehen, mit denen die Medizin heute unter geänderten Reanimationsmöglichkeiten den Tod des Menschen feststellt. Früher galt der irreversible Herz-Kreislaufstillstand als verläßliches und allseits akzeptiertes Kriterium. Das wurde aber seit der Havard-Stellungnahme durch den Hirntod ergänzt, da bislang als nicht reanimierbar geltende Patienten durch die Fortschritte der Medizin reanimiert werden konnten. Diese Bestimmung des Hirntodes wurde 1968 aber unter dem Aspekt der Fragestellung gefunden, wann eine Behandlung, bzw. Wiederbelebungsversuche abgebrochen werden können, weil der Mensch trotz technisch noch möglicher Maßnahmen für seinen Kreislauf hirntod ist. Erst nachträglich wurde dieses Kriterium dann auch als Voraussetzung für eine Organentnahme angewandt. Unter anthropologischem Aspekt ist dieses Kriterium nicht mit dem Verlust des Bewußtseins durch Ausfall der Großhirnrinde oder deren Teile begründbar, – nicht die Zerstörung eines Organs ist der entscheidende Gesichtspunkt – sondern die Tatsache, daß das Integrationsorgan der leib-seelischen Ganzheit eines Menschen irreversibel zerstört ist. Voraussetzung ist allerdings der Ganzhirntod: Hirnrinde und Hirnstamm. Wenn also bei einem Menschen nach diesen Kriterien der Hirntod festgestellt ist, ist der anthropologische Status dieses Wesens trotz möglicher, noch vorhandener spinaler Reflexe peripherer Art und der damit gegebenen lebensweltlichen Wahrnehmung von Bewegung ein toter Mensch. Eine Organentnahme bedeutet daher keine Tötung, denn einen toten Menschen kann man nicht mehr töten.
2. Anders allerdings stellt sich das Problem dar, wenn der Hirntod noch nicht eingetreten ist, sondern erst – wenn auch mit unweigerlicher Sicherheit – aufgrund des Aussetzens von Reanimationmaßnahmen in kurzer Zeit eintreten wird. In diesem Fall wird der Hirntod erst in Zukunft eintreten und zwar als Folge des Aussetzens der Wiederbelebungsversuche. Dürfen auch in diesem Fall Organe entnommen werden? Handelt es sich hier nicht um die Entnahme von einem Lebenden, wenn auch in der allerletzten Phase seines Sterbens? Aber Sterben gehört ja zum Leben. Unter dieser Voraussetzung würden dieselben ethischen Kriterien wie bei einer Lebendspende gelten.
Was aber, wenn man nach dem Aussetzen der Reanimation bis zum sicheren Eintreten des Gehirntodes wartet? Dann ist der Mensch nach unseren heutigen Kriterien sicher tot. Ist dieser Tod aber nicht ein vom menschlichen Tun und Lassen zu verantwortender Tod, also ethisch anders zu bewerten als wenn der Hirntod schicksalhaft bereits eingetreten wäre? Für die Beantwortung dieser Frage ist auf die bereits gefundenen und noch weiter zu differenzierenden ethischen Kriterien für die Behandlungsbegrenzung und den Behandlungsabbruch, die hier im einzelnen nicht diskutiert werden können, zu verweisen (Entscheidungshilfen zum Problem der Therapiebegrenzung, Österreichisches Pastoralinstitut [Hrsg.], Wien 1995. G. Virt: Moraltheologische Erwägungen zur Therapiebegrenzung in der modernen Medizin, in: O. König/A. Wolkinger [Hrsg.], Horizonte sittlichen Handelns [FS R. Bruch], Graz 1991 [Grazer theol. Studien Nr. 14], 353-360). Wenn also mit ethisch vertretbaren Gründen eine Reanimation abgebrochen wird und es sich nicht um eine pflichtwidrige Unterlassung handelt, dann ist die Ursache des zwingend alsbald eintretenden Hirntodes der Krankheitsverlauf und nicht eine willkürliche und daher unethische Fremdverfügung. Allerdings ist in einer solchen Situation mit größter Sorgfalt darauf zu achten, daß sich keine Mißbrauchsmöglichkeiten einschleichen durch etwas unklare Begründung oder dadurch, daß das Interesse an der Organentnahme den Behandlungsabbruch bestimmen könnte. In dem Maß, in dem es gelingt, den Menschen und den Angehörigen die Angst zu nehmen, daß vor dem eingetretenen Hirntod Organe entnommen werden oder daß eine lebenserhaltende Behandlung interessensbedingt pflichtwidrig unterlassen wurde, kann unter ethischem Aspekt eine Organentnahme von „Non-Beating-Heart Donors“ plausibel gemacht werden.
3. Die dritte, von den beiden vorangegangenen Fragen nochmals gut zu unterscheidende, ist die Frage nach der ethischen Grundlage über die Verfügung der Organe der hirntoten Menschen. Wem gehört der Leichnam? Er gehört nicht dem Arzt, er gehört aber auch nicht den Verwandten, er gehört nicht der Gesellschaft und nicht einer ihrer Institutionen (z.B. dem Krankenhaus). Aber er kann auch nicht mehr der Person gehören, die sich zu ihren Lebzeiten in diesem Leib dargestellt und verwirklicht hat. Der Leichnam gehört niemandem im Sinn von besitzrechtlichen Kategorien. Angesichts des Geheimnisses des Todes sind im Vergleich zu univok besitzrechtlichen Regelungen nur analoge Aussagen möglich. Um die Ehrfurcht, die wir dem Toten schulden gegen Mißbrauch zu schützen, können wir im finalen Sinn sagen: Der Leichnam gehört der Erde, er gehört pietätvoll begraben. Niemand hat also einen Rechtsanspruch auf die Organe eines anderen Menschen, auch nicht auf die Organe eines Toten. Organspende hingegen ist eine sinnvolle Möglichkeit und von Johannes Paul II. als Akt hoher Nächstenliebe gewürdigt worden (Evangelium Vitae Nr. 86). Aber Spende muß Spende bleiben.
Der Charakter der Spende kommt am deutlichsten zum Ausdruck, wenn ein Mensch zu Lebzeiten seine Bereitschaft ausdrücklich kundtut, daß er im Fall seines Todes einer Organentnahme zustimmt. Wenn der Tote aber zu Lebzeiten keine Verfügung für diesen Fall getroffen hat, dürfen dann die Angehörigen darüber verfügen oder darf gar die Bereitschaft zur postmortalen Organspende präsumiert werden, falls der Verstorbene keinen ausdrücklichen Widerspruch angemeldet hat? Rechtlich ist diese Frage in verschiedenen Ländern verschieden geregelt oder wird demnächst geregelt werden. Als ethische Minimalbedingung muß festgehalten werden, daß Widerspruch möglich ist, damit Spende Spende bleibt und tote Menschen nicht zu Organlieferanten und Ersatzteillagern gegen ihren Willen werden.
Manche Länder kennen eine Widerspruchsregelung (Organe dürfen entnommen werden, wenn kein ausdrücklicher Widerspruch angemeldet wurde), manche eine enge Zustimmungsregelung (Organe dürfen nur entnommen werden, wenn jemand zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt hat und einen Spender- ausweis bei sich trägt) und manche eine sogenannte erweiterte Zustimmungsregelung (Organe dürfen erst nach Zustimmung der Angehörigen entnommen werden, wenn zu Lebzeiten keine Verfügung getroffen worden ist). Das Votum der Angehörigen darf allerdings nicht als Verfügungsrecht verstanden werden, da keine volle Identität der Intentionen des Verstorbenen und der Angehörigen vorliegen muß und es oft auch schon Mißbrauch gegeben hat. Das Votum der Angehörigen ist nur insofern relevant, als diese glaubwürdig den Willen des Verstorbenen interpretieren können und insofern auf die Trauer der Angehörigen auch pietätvoll Rücksicht genommen werden muß.
Kann eine Widerspruchsregelung ethisch gerechtfertigt werden? Kann mitmenschliche Solidarität präsumiert werden, die in dem Fall darin besteht, daß mit den Organen eines Toten das Leben eines anderen Menschen gerettet wird?
Hier, vor dem Geheimnis des Todes und angesichts der Anonymität des Empfängers, ist auch die Rede von Nächstenliebe nur im analogen Sinn möglich, denn der Spender ist zum Zeitpunkt der Organentnahme bereits tot und zu personalen Akten nicht mehr fähig und kennt den Empfänger nicht. Es gibt aber das Instrument des Testaments, in dem ein Mensch über seinen Tod hinaus Verfügungen über sein Eigentum trifft. Nun gehört das Eigentum des Menschen gleichsam zu seiner erweiterten Leiblichkeit, mit der er als weltoffenes Wesen sein Dasein in der Welt durch freie Verfügung gestalten kann. Das Eigentum, das man daher niemandem gegen dessen Willen rechtswidrig entwenden darf, hat darüber hinaus auch eine soziale Komponente, d. h. es darf nicht derart gebraucht werden, daß damit die Lebenschancen anderer Menschen schwerst beeinträchtigt werden oder gar deren Leben bedroht wird. Deswegen hat die ganze Ethiktradition daran festgehalten, daß ein Mensch in Lebensgefahr vom Eigentum eines anderen, das dieser nicht unmittelbar benötigt, auch ohne dessen Zustimmung etwas nehmen darf. Er darf nehmen, was er zum Überleben braucht, nicht weil er ein Recht darauf hätte, sondern weil er präsumieren darf, daß der Eigentümer in dieser Extremsituation sinnvollerweise zustimmen würde. In einem solchen Fall kann die Zustimmung gleichsam angenommen werden. In Analogie zu dieser von der ganzen Ethiktradition festgehaltenen sittlichen Vertretbarkeit einer solchen Handlungsweise könnte man sich auch der Frage der Präsumtion der Organentnahme von einem Toten nähern. Eine solche Analogie kann sich aber immer nur auf einen Toten beziehen und sie bedeutet darüber hinaus keinen Widerspruch zum Geschenkscharakter des Organs. Der Einwand, daß eine solche Aneignung fremden Eigentums nur für den Notleidenden selbst und im unmittelbaren Zusammenhang zwischen Bedarf und Bedarfsdeckung sittlich erlaubt ist, verkennt die Tatsache, daß im Bereich von Organspende – Organzuteilung – Organüberbringung keine univok besitzrechtlichen, sondern nur im analogen Sinn solche Kategorien greifen! Besonders deutlich wird das bei der Verteilung der Organe über Organbanken. Auch die institutionelle Vermittlung stellt die Zulässigkeit der oben genannten Analogie nicht in Frage.
Welche rechtliche Regelung immer gewählt wird, – es spielen hier kulturelle Traditionen eines Volkes eine Rolle, die in einem Land vorherrschen (Wenn die Autonomie vor dem Gemeinwohl rangiert, wird man eher einer Zustimmungsregelung zuneigen als dort, wo auch die Gemeinwohlfunktion des Eigentums höher eingeschätzt wird und wo man eher einer Widerspruchsregelung etwas abgewinnen kann ). In einer multikulturellen Gesellschaft muß aber auch Rücksicht auf jene Glaubensgemeinschaften genommen werden, für die eine Organentnahme von einem Toten nicht in Frage kommt. Manche buddhistische und andere Gruppen kennen sehr wohl die Möglichkeit einer Lebendspende von Organen, lehnen aber eine Organentnahme von Toten mit dem Hinweis darauf ab, daß der Leichnam den Ahnen gehört. Ein derartiger Eingriff würde die Hinterbliebenen in große Angst stürzen und ihre religiösen Gefühle verletzen.
Eine Widerspruchsregelung darf auch nicht bei der abstrakten Möglichkeit stehen bleiben, sondern muß dadurch wirksam werden, daß die Bevölkerung um diese Regelung weiß und auch tatsächlich Widerspruch anmelden kann. In Österreich gibt es seit Jahresbeginn 1995 beim ÖBIG (Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen, 1010 Wien, Stubenring 6, Tel. 51561/0) ein EDV-gestütztes Widerspruchsregister, das unter Ausschöpfung der technischen Mittel allen Menschen unserer Bevölkerung eine wirksame Willensäußerung ermöglichen soll. Jede Vorgangsweise, auch von institutioneller Seite, die einen Menschen ermutigt, sich mitten im Leben bereits mit seinem Tod auseinanderzusetzen, Gespräche in der Familie anzuregen und den Tod nicht länger zu verdrängen, ist ethisch zu begrüßen, wie etwa auch die Aufnahme von entsprechenden Sparten bei der Ausstellung von Personaldokumenten sowie jede seriöse Aufklärung. Es bedarf einer ebenso behutsamen wie effektiven Information über die gesetzliche Regelung, um die Widerspruchsmöglichkeit und die konkrete Vorgangsweise. Vor jeder Organentnahme wird in Österreich bei diesem Register, das in kürzester Zeit Auskunft ermöglicht, nachgefragt.
Wie immer eine Regelung rechtlich aussieht, klar muß bleiben, daß es keinen einklagbaren Anspruch auf die Organe eines Toten gibt. Insofern kann Organspende auch nicht als moralische Pflicht im strikten Sinne, deren Unterlassung verwerflich wäre, gelten. Wohl aber wird ein waches Gewissen sich über den derzeitigen Engpaß an Organen für eine Transplantation ernsthafte Gedanken machen und angesichts der Möglichkeit, nach dem eigenen Tod zur Lebensrettung schwerkranker Menschen beizutragen, eine für seine persönlich existierende Situation verantwortliche Entscheidung fällen.
Diese im dritten Punkt angesprochenen Probleme bringen uns in schmerzlicher Weise zu Bewußtsein, daß in unserer Gesellschaft das Anspruchsdenken derartig überhandgenommen hat, daß wir ein großes Defizit nicht nur allgemein im Ethos, sondern vor allem auch in der Ethik des Schenkens haben.
Univ.-Prof. Dr. Günter Virt
Institut für Ethik in der Medizin
Wasagasse 12/2/1
A-1090 Wien