Sollen Altersheime dazu gezwungen werden, Beihilfe zum Suizid zuzulassen? Ja, beschloss der Zürcher Kantonsrat mit 92 gegen 76 Stimmen (vgl. NZZ, 23.5.2022). Alters- und Pflegeheime in Zürich sind gesetzlich verpflichtet, externen Organisationen wie Exit oder Dignitas Zutritt zu gewähren und damit den assistierten Suizid von Altenheimbewohnern zu ermöglichen. Bisher lag es im eigenen Ermessen der jeweiligen Trägerschaft, ob sie Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, unterstützen oder nicht.
Zürich ist damit einer von vier der 26 Schweizer Kantone, der in der umstrittenen Frage der Beihilfe zum Suizid per Gesetz direkt in freie Trägerschaften eingreift (vgl. Bioethik aktuell, 4.5.2021). Exit und Dignitas reagierten erfreut über den Entscheid, dem eine emotionale Debatte unter den Kantonsräten vorausging. SVP und EVP kündigten ein Referendum gegen den Entscheid an. Sollten die nötigen Stimmen erreicht werden, könnte es noch zu einer Volksabstimmung kommen.
Der Regierungsrat hatte sich gegen die Vorlage gestellt. Die Regierungsrätin und Vorsteherin der Gesundheitsdirektion, Natalie Rickli (SVP), verwehrte sich dagegen, dass allen Alters- und Pflegeheimen per Gesetz vorgeschrieben wird, Sterbehilfe in ihren Räumen zuzulassen. Rickli, obwohl selbst Mitglied der Sterbehilfsorganisation Exit, befand eine Änderung des Gesetzes nicht für nötig, da drei von vier Einrichtungen in Zürich ohnehin schon Unterstützung beim Suizid zulassen würden. Ein Ausbau der Palliativpflege sei sinnvoller.
Der Entscheid ging auf eine von Sozialisten, Grün Liberalen und Grünen 2019 eingereichte parlamentarische Initiative „Selbstbestimmung am Lebensende auch in Alters- und Pflegeheimen“ zurück. Sie forderte ein, dass sich Institutionen nicht über das Selbstbestimmungsrecht der Bewohnenden stellen dürften. Heimbewohner sollten den Ort ihres Abschieds selbst bestimmen dürfen und im Fall eines Suizids nicht das Heim verlassen müssen. Es gehe darum, „Leiden zu verhindern“, sagte SP-Kantonsrat Thomas Marthaler (vgl. SFR, 23.5.2022). Freiheitsrechte, welche für alle gelten, dürften nicht willkürlich eingeschränkt werden.
Genau aufgrund dieser Freiheitsrechte sollte die Entscheidung den Heimen aber selbst überlassen bleiben, konterte SVP, EVP und Teile der FDP. Schließlich würden auch Institutionen aus Menschen bestehen. Pflegende und anderes Personal würden durch Suizide extrem belastenden Situationen ausgesetzt. Sie hätten ein Recht auf die Möglichkeit, „in Institutionen zu arbeiten, die das nicht anbieten“, argumentierte Hanspeter Amrein (SVP). Auch das Recht der Bewohner müsse geachtet werden, die bewusst eine Institution gewählt haben, in der kein assistierter Suizid praktiziert wird.
Selbstverständlich werde niemandem das Recht auf Sterbehilfe abgesprochen, „aber eine Lex Exit braucht es nicht“, stellte FDP-Rätin Linda Camenisch klar. Das Gesetz bedeute aus ihrer Sicht einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Unternehmenskultur der Heime und widerspreche – etwa bei religiösen Trägerschaften – der Religionsfreiheit. Zudem könne jeder Mensch frei wählen, in welchem Heim er leben wolle. Wichtig sei vor allem, dass die Heime transparent machen, wie sie mit der Frage der Sterbehilfe umgehen würden.
Die Gesundheitsdirektion hatte empfohlen, dass die Heime in ihren Leitbildern festlegen sollen, ob sie den begleiteten Suizid in ihren Räumlichkeiten zulassen oder nicht. So werde es auch in anderen Kantonen gehandhabt. Exit hat im Jahr 2020 bei insgesamt 913 Suiziden kooperiert, davon 132 (14 Prozent) in einem Heim. Dieser Anteil steigt seit Jahren leicht an.
Experten warnen schon seit Jahren davor, dass Suizidgedanken bei älteren Menschen auf Depressionen zurückzuführen sind, die weder diagnostiziert noch behandelt wurden. Ein altersfeindliches Klima fördere zudem die Idee des „altruistischen Suizids“, konstatiert die Schweizer Alterspsychiaterin Jaqueline Minder (vgl. Schweizer Archiv für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie 2015;166(03):67-77). Suizidgefährdete Menschen sind in ihrem Denken auf die suizidale Handlung hin eingeengt. Durch das gemeinsame Planen und Vorbereiten der Handlung in der Begleitung durch Sterbehelfer werde die Suizidalität der Betroffenen verstärkt, kritisiert Minder.
"Die Zahlen in der Schweiz bestätigen diese Entwicklung", sagt die Wiener Ethikerin Susanne Kummer. "Die assistierten Suizide sind in unserem Nachbarland dramatisch gestiegen und haben sich zwischen 2010 und 2018 verdreifacht", so die IMABE-Geschäftsführerin. Während die Zahl der sog. „harten“ Suizide mit rund 1.000 Fällen pro Jahr seit etlichen Jahren konstant geblieben ist , kommen inzwischen 1.176 Fälle von assistiertem Suizid (2018) bei Schweizern hinzu (vgl. Bioethik aktuell, 17.12.2020). "Hier wird deutlich wie sog. 'Sterbehilfe'-Organisationen mit ihrem Angebot de facto eine effektive Suizidprävention unterlaufen", kritisiert Kummer.
In Österreich hat der Vorsitzende der ARGE Ordensspitäler, Christian Lagger, erneut betont, dass für Ordenskrankenhäuser assistierter Suizid keine Option ist (vgl. Ingo-News, 22.4.2022). Zugleich würde alles getan, um niemand allein zu lassen und alle Menschen in ihrer letzten Lebensphase medizinisch, pflegerisch und seelsorglich zu begleiten.