In Österreich bestehen klare Meldepflichten im sog. „Sterbeverfügungsregister“ – von der Meldung eines Todesfalls nach einem assistierten Suizid bis hin zur Dosierungsanordnung, Beschriftung und Abgabe des tödlichen Präparats (Bioethik aktuell, 17.12.2021). Zwei Jahre nach der Legalisierung der Beihilfe zur Selbsttötung zeigt sich allerdings, dass die Dokumentation fehlerhaft ist und zahlreiche Grauzonen entstanden sind. Darauf wiesen Fachleute bei einer vom Institut für Ethik und Recht in der Medizin veranstalteten Tagung in Wien hin.
Apothekerkammer will Beihilfe zum Suizid als Krankenkassenleistung
Die Kosten für eine orale Suspension der mehrfachen Überdosis des Natrium-Pentobarbitals liegen bei 50 Euro. Eine errichtete Sterbeverfügung gilt ein Jahr, die Suspension sei aber nur vier Wochen haltbar, erklärt die Präsidentin der Apothekerkammer, Ulrike Mursch-Edlmayer. Wenn ein Suizidaler nicht innerhalb von vier Wochen das Gift nimmt, sei er daher gezwungen, immer wieder neue Präparate zu kaufen, was für manche zu kostspielig sei. Sie tritt daher dafür ein, dass die Krankenkassen die Kosten für das tödliche Präparat übernehmen sollen.
Was mit den ausgehändigten tödlichen Präparaten schlussendlich geschieht, weiß niemand
Mursch-Edlmayer sieht in der Beihilfe zur Selbsttötung eine „wichtige Dienstleistung“ der Apotheker. Die Liste der Apotheken, die mitmachen, sei zwar nicht öffentlich, liege aber in den Notariaten auf. Bislang würden sich 400 Apotheken in ganz Österreich daran beteiligen. Nicht alle Mitarbeiter würden in diesen Apotheken mitmachen – hier gilt der Gewissensvorbehalt –, aber zumindest könne man mit einem Apotheken-Mitarbeiter pro Filiale rechnen, der die tödlichen Präparate an Dritte oder den Suizidalen selbst gegen Vorlage der Rezeptur aushändigt. Bislang seien 300 Dosen ausgegeben worden – darin enthalten auch gegen bereits abgelaufene getauschte Dosen.
Die Verabreichung der Überdosis von 15 g Natrium-Pentobarbitral kann auch intravenös erfolgen, dieses Pulver muss selbst zugemischt werden und ist länger haltbar. Was mit den tödlichen Präparatemischungen in jedem einzelnen Fall schlussendlich tatsächlich geschah, weiß de facto niemand, räumen die Fachleute ein. Die Apotheken händigen das Gift aus, haben dann aber keinerlei Kontakt mehr zu den Betroffenen.
Experten beklagen schlampige Totenbeschau und Dokumentation der Fälle
Laut dem Wiener Juristen Gerhard Aigner würden Meldungen von Todesfällen nach Sterbeverfügungen „nur zögerlich gemacht“. Er beklagt, dass die Totenbeschau in der Praxis „nicht funktioniert“. Aigner vermutet, dass die Zahl der Fälle von Selbsttötungen durch Dritte in Österreich viel höher sei als offiziell vom Gesundheitsministerium angegeben (vgl. Parlamentarische Anfrage zur Sterbeverfügung in Österreich,13385/AB XXVII, März 2023). Der Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft, Dietmar Weixler sprach bereits vor einem Jahr von einer „schlampigen Totenbeschau“ (Standard online, 23.1.2023). Die Gründe liegen teils im bürokratischen Aufwand, teils aber auch darin, dass Amtsärzte bei der Totenbeschau von anwesenden Angehörigen garnicht darauf hingewiesen werden, dass ein assistierter Suizid als Todesursache vorliegt. Bereits 2019 hatte die Volksanwaltschaft angemahnt, dass „bekannt ist, dass ein nicht-natürlicher Tod umso seltener attestiert wird, je älter die Verstorbenen sind“ (Präventive Menschenrechtskontrolle 2019).
Das Sterbeverfügungsgesetz hält Aigner für eine „Schikaneverfügung“, die es Suizidwilligen zu schwer mache, auf ihr „Recht auf Selbsttötung“ zu kommen.
Jurist fordert Strafen, wenn jemand „mit unzulässigem Druck“ andere vor einem assistierten Suizid abhält
Eine ähnliche Position vertritt der Strafrechtler Alois Birklbauer (Johannes-Kepler-Universität Linz). Seiner Ansicht nach solle es „Sanktionen gegenüber Einrichtungen“ geben, wenn diese einen „unzulässigen Druck gegen die Abhaltung eines assistierten Suizids“ ausüben würden. Wo jemand einen assistierten Suizid durchführen will, müsse sich laut Birklbauer die Rolle des Arztes wandeln: Er habe nicht mehr eine „Lebensrettungspflicht“, sondern eine „Leidensminderungspflicht“.
Offen sei die Frage, inwieweit die Selbstbestimmung über Monate hinweg einzuschätzen ist. Sie könne bei einer Person innerhalb der Ein-Jahres-Frist der Gültigkeit der Sterbeverfügung abnehmen. Sollte der Suizidwillige im Moment der Durchführung nicht mehr entscheidungsfähig sein, dann würde es sich nicht mehr um eine Mitwirkung am Suizid, sondern um eine strafbare Fremdtötung handeln.
Dürfen Einrichtungen ihren Mitarbeitern Beilhilfe zum Suizid verbieten?
Dass Einrichtungen Ärzten oder Pflegekräften die Mitwirkung an assistierten Suiziden verbiete könne, entbehre laut Birklbauer jeder Rechtsgrundlage. Dem widersprach die Arbeitsrechtlerin Michaela Windisch-Graetz (Universität Wien). Kirchliche, aber auch nicht-konfessionelle Trägerschaften seien berechtigt, Loyalität gegenüber dem Ethos ihrer Einrichtung einzufordern. Auch öffentliche Träger hätten das Recht dazu, als Arbeitgeber ihren Mitarbeitern Beihilfe zur Selbsttötung während der Dienstzeit zu verbieten.
Psychiater: „Prävention von Suiziden ist ein vorrangiger Wert“
90 Prozent aller Suizide in der EU sind mit psychischen Störungen assoziiert. Bilden die neuen „Sterbewilligen“ davon jetzt eine Subgruppe oder neue Zielgruppe? Für Christa Rados, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGP), muss die Prävention von Suiziden einen vorrangigen Wert einnehmen. Suizidalität sei behandelbar und wo die Prävention und Versorgung gewährleistet ist, würden auch die Suizidraten sinken. Thomas Kapitany, Ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums in Wien, hielt fest, dass eine „akute suizidale Einengung unweigerlich mit einer Einschränkung der freien Willensfindung“ einhergehe. In dieser psychosozialen Krise brauche es eine „helfende Beziehung“ zu den Betroffenen, die lebensbejahende Alternativen aufzeigt, so der Psychiater.