In den Niederlanden sollen auch über 75-Jährige, die für ihr Alter gesund sind, aber genug vom Leben haben („Lebenssattheit“), Unterstützung beim Suizid erhalten dürfen. Der Staat solle in diesen Fällen „Barmherzigkeit“ zeigen. Dies sieht ein Gesetzesentwurf vor, den Gesundheitsministerin Edith Schippers und Justizminister Ard van der Steur derzeit ausarbeiten. Die Entscheidung zur Selbsttötung der Senioren soll freiwillig getroffen werden, entgegen der bisherigen Gesetzeslage müssen aber weder eine schwere Erkrankung noch unerträgliches Leiden vorliegen. Zertifizierte Selbsttötungsbegleiter würden den Senioren auf ihrem letzten Lebensweg zur Seite stehen. Die „Letzte-Wille-Pille“ könnten sie auf Rezept selbst in der Apotheke abholen.
Der Gesetzesvorstoß kam für viele überraschend. Erst vor wenigen Monaten hatte eine von der Regierung eigens eingesetzte Kommission einen Bericht über die bestehenden Sterbehilferegelungen erstellt. Sie kam zu dem Schluss, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Notwendigkeit für eine Erweiterung der Gesetzeslage bestünde.
Bislang wurden in den Niederlanden 90 Prozent der Tötungen auf Verlangen vom Hausarzt durchgeführt. Von 2006 bis 2015 ist die Zahl der Fälle um knapp 300 Prozent gestiegen: Im Jahr 2015 starben laut staatlicher Euthanasiekommission 5.516 Menschen durch Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Selbstmord, das sind 15 Personen pro Tag.
Vielen Abgeordneten geht der Vorschlag zu weit - auch den Sozialisten. Es sei zynisch, so Fraktionsvorsitzender Emile Roemer, dass ausgerechnet eine Gesundheitsministerin mit diesem Plan komme, die jahrelang drastische Einsparungen bei der Altenpflege durchgeführt und damit die Einsamkeit gefördert habe (vgl. Deutschlandfunk, online, 3.11.2016). Die Christdemokraten sprechen von einem „moralischen Wendepunkt“. Es gehe vielmehr darum, Einsamkeit zu bekämpfen und die Situation in den Pflegeheimen zu verbessern. Barmherzigkeit bedeute, Perspektiven zu bieten, aber doch nicht den Tod, so Fraktionsvorsitzender Kees van der Staaij.
Wenn die Entscheidung zum Suizid als „geglückter Testfall von Autonomie“ propagiert wird, wie dies derzeit geschieht, lautet die Botschaft zum „sozial verträglichen Frühableben“: „Du bist über 70. Ist es für dich nicht Zeit abzutreten? Lehn dich zurück, wir helfen dir!“, betont IMABE-Geschäftsführerin Susanne Kummer in einem Gastkommentar in der Presse (online, 27.10.2016). Ältere, kranke und vulnerable Menschen fühlten sich in unserer Leistungsgesellschaft ohnehin schon häufig als „Last“, so die Ethikerin. Der Gedanke, dass sie das alles ihren Mitmenschen ersparen könnten, auch finanziell, schwinge stillschweigend mit. Subtiler könne Druck kaum ausgeübt werden, die sogenannte Selbstbestimmung kippt in Fremdbestimmung.
Was schauerlich klingt, ist - zynisch betrachtet - in Wahrheit einfach nur konsequent, meint Kummer: Denn genau genommen stellt sich die Frage: Warum sollte die Erfüllung von Todeswünschen nur auf Schwerkranke beschränkt bleiben? Sind Gesunde nicht genauso selbstbestimmt? Wer sagt eigentlich, dass nur die Autonomie des Kranken zum Töten legitimiert, nicht aber die Autonomie des Gesunden? Die Niederlande beantworten diese Frage mit einem „brutal konsequenten Pragmatismus: der tödliche Medikamentencocktail - als Angebot für alle“. Damit sind sie laut Kummer ein „Warnbeispiel“, ebenso wie die Schweiz, wo der Sterbehilfeverein Exit mit dem Angebot des „Altersfreitods“ für Senioren seinen Markt erweitern will.
Dass das Angebot die Nachfrage schürt, zeigen die aktuellen Zahlen aus der Schweiz: Während in der Schweiz die Zahl der Suizide ohne Beihilfe gleich geblieben ist, sind die Fälle von assistierten Suiziden in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen. 742 Menschen hatten im Jahr 2014 Beihilfe zur Selbsttötung in Anspruch genommen, das sind rund 26 Prozent mehr Menschen als im Vorjahr, heißt es im Bericht des Schweizer Bundesamts für Statistik. Verglichen mit dem Jahr 2009 haben sich die Fallzahlen demnach mehr als verdoppelt, damals hatten „nur“ rund 300 Menschen assistierten Suizid beansprucht.