Bioethik Aktuell

Moralischer Stress und Burnout im Gesundheitsbereich: Wer hilft den Helfern?

IMABE-Symposium befasst sich mit Strategien zum besseren Umgang mit moralisch belastenden Situationen

Lesezeit: 04:13 Minuten

Wissenschaftler fordern mehr Unterstützung für das Gesundheitspersonal im Umgang mit Patienten und Bewohnern in moralisch belastenden Situationen. Moralischer Stress kann in ein Burnout führen und höhlt die berufliche Integrität aus.

© Fotolia_25531300_contrastwerkstatt

Pflegende klagen über eine „Dehumanisierung“ ihrer Arbeit in der Pandemiezeit. Das geht aus einer in Heilberufe Science (13, 59–68 (2022). https://doi.org/10.1007/s16024-022-00366-2) publizierten Studie hervor. Ihre berufliche Integrität wurde ausgehöhlt. Die moralisch belastenden Situationen („moral distress“), in denen Pflegende Bewohner nicht ihren professionellen Werten und Maßstäben entsprechend betreuen konnten, gingen mit Zweifel, Wut, Trauer, Schmerz, Müdigkeit, Frustration, Schlafstörungen und einem Gefühl von Allein- und Unverstanden-Sein einher. Wissenschaftler fordern nun mehr Unterstützung für das Gesundheitspersonal und Strategien, um mit moralisch belastenden Situationen konstruktiv und offen umzugehen.

Pflegende fühlten sich mit ethischen Entscheidungen allein gelassen

In der Hamburger Studie wurden 510 Pflegende in deutschen Altenheimen nach ihren Erfahrungen in der zweiten Pandemiewelle (Oktober 2020 bis Februar 2021) befragt. Eines der Ergebnisse war, dass sich Pflegende bei ethischen Entscheidungen allein gelassen fühlten. Sie waren angesichts der Not isolierter Heimbewohner in einem moralischen Dilemma: Jene mussten alleine sterben, ohne dass das Personal ihnen adäquat hätte beistehen können, berichten die Studienautorinnen Anke Begerow und Uta Gayds vom Department Pflege und Management der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. 

Zwischenmenschliche Interaktionen waren minimiert. Zeit- und Personalnot zwangen zu Priorisierungen, aber auch zu Rationierungen. Pflegende sahen sich gezwungen, gegen ihre berufliche Integrität zu handeln.

Pandemie verstärkte Stressfaktoren, die vorher schon bestanden

Gleichzeitig wurden die Pflegenden mit Bürokratie überfrachtet und klagten unter fehlenden Entscheidungsmöglichkeiten und unangemessener Unterstützung. Das führte auch zu Konflikten im Team. Belastend waren häufige Schuldzuweisungen und Ansprüche der Angehörigen, denen gegenüber sie plötzlich eine administrativ-amtliche Rolle einnehmen mussten.

Die Pflegewissenschaftlerinnen gehen davon aus, dass einige dieser Faktoren schon vor der Pandemie bedeutsam waren und nun verstärkt wurden. Sie fordern mehr Aufmerksamkeit für die Situation der Altenpflegenden. Zur Prävention und Bewältigung von „Moral Distress“ brauche es eine langfristige Erneuerung institutioneller Strukturen. Ethische Fallbesprechungen und Supervision können dazu beitragen, dass sowohl die Versorgungsqualität als auch die Belastungssituation für die Pflegenden so verbessert werden, dass das Erleben von „Moral Distress“ verringert werden kann. Außerdem bedarf es einer transparenten und kontinuierlichen Kommunikation zwischen Pflegenden und Führungskräften sowie einer Entlastung von pflegefremden bürokratischen Aufgaben, so die Pflegewissenschaftlerinnen.

Die Rolle der klinischen Ethiker zur Unterstützung des Gesundheitspersonals muss gestärkt werden

Die US-Pflegewissenschaftlerin Connie M. Ulrich spricht von „endemischen Ausmaßen von moralischem Stress“ beim Gesundheitspersonal nach zwei Jahren Covid-19-Pandemie. Viele seien erschöpft oder selbst erkrankt, haben gekündigt oder denken daran, aus dem Beruf auszusteigen. In Zukunft sei es wichtig, die positive Rolle der klinischen Ethiker in Krankenhäusern zu stärken, so die Professorin für Medizinische Ethik und Gesundheitspolitik an der University of Pennsylvania School of Nursing. Sie bieten hilfreiche Beratung und Anleitung in Situationen der Ungewissheit, Not oder Meinungsverschiedenheiten. Klinische Ethiker seien jedoch oft eine „übersehene Ressource“, erläutert Ulrich (AJOB Empirical Bioethics Published online: 22 Aug 2022, https://doi.org/10.1080/23294515.2022.2110965).

Chronische Überarbeitung und Burnout gefährden die Patientensicherheit

Nicht nur in Krankenhäusern und Pflegeheimen, auch im niedergelassenen Bereich sind die Folgen der Belastungen der Pandemie spürbar: So leiden in den Vereinigten Staaten zwei Jahre nach der Pandemie sechs von zehn Hausärzten an Burnout-Symptomen, 2020 waren es noch vier von zehn. Das geht aus einer aktuellen US-Studie hervor, die in Mayo Clinic Proccedings (Published:September 13, 2022 DOI:https://doi.org/10.1016/j.mayocp.2022.09.002) erschienen ist.

Dies hat auch negative Folgen für Patienten. Denn ausgebrannte Ärzte gefährden doppelt so häufig die Patientensicherheit – allen voran durch Medikationsfehler. Das größte Risiko für ein Burnout-Syndrom bestand laut einer im British Medical Journal (2022;378:e070442 DOI: 10.1136/bmj-2022-070442) publizierten Studie bei Ärzten im Alter zwischen 31-50 Jahren, die im Krankenhaus arbeiten, insbesondere bei Notfall- und Intensivmedizinern.

IMABE-Jahressymposium 2022 widmet sich „Krisen, Emotionen und Lösungen" am Krankenbett

„Es ist wichtig, Freiräume zu schaffen, in denen Ärzte und Pflegende über ihre eigenen moralischen Nöte reflektieren können. Nur so lassen sich gemeinsam Strategien entwickeln, um die berufliche Integrität der Gesundheitsberufe abzusichern“, sagt IMABE-Direktorin Susanne Kummer im Vorfeld des kommenden IMABE-Symposiums „Krisen. Emotionen. Lösungen – Konflikte am Krankenbett“. Die interdisziplinäre Tagung mit renommierten Vortragenden findet am 11. November im Raiffeisen Forum in Wien statt.

Katja Kühlmeyer (Ludwig-Maximilians-Universität München) wird das Phänomen des moralischen Stress beleuchten, Clemens Sedmak (University of Notre Dame/Indiana, USA) geht der Frage nach, ob richtiges Handeln im Gesundheitsbereich trotz Systemzwängen und Widerstände möglich ist. Wie sich Resilienz fördern lässt, um fordernde Situationen im Klinik-und Pflegealltag zu meistern, analysiert Barbara Juen (Universität Innsbruck). Andreas Heller (Karl-Franzens-Universität) geht der Frage nach, wie ‚Selbstsorge‘ in der ‚Fürsorge‘ gelingen kann. Weitere Themenfelder der Tagung: Ethische Reflexion und Kompetenz fördern und stärken (Jürgen Wallner, Barmherzige Brüder Österreich), Emotionen als positive Ressource (Helga Kernstock-Redl, Wien), Krankheit und Sterben begegnen (Martina Kronberger-Vollnhofer, MOMO Kinderhospiz und Kinderpalliativteam) sowie Umgang mit Suizidwünschen älterer Menschen (Erwin Horst Pilgram, Albert Schweitzer Hospiz Graz).

Programm und Anmeldung zum IMABE-Symposium (hybrid). Anmeldefrist: 31.Oktober 2022

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: