58 Prozent von 6.800 befragten US-Amerikaner wären mit einer vorgeburtlichen Selektion einverstanden und hätten dabei keine moralischen Bedenken, wenn diese sicher sei und sich dadurch das Bildungsniveau ihres zukünftigen Kindes steigern ließe. Wenn Kinder unter die Top-100-Universitäten gelangen könnten, würden 28 Prozent der 6.800 Befragten US-Amerikaner auch einer genetischen Manipulation von Embryonen zustimmen. Das geht aus einer Umfrage des Policy Forums hervor, die nun in Science (2023; DOI: science.org/doi/10.1126/science.ade1083) publiziert wurde. Die Bereitschaft für eine Selektion von weniger intelligenten Embryonen stieg weiter, wenn die Befragten annahmen, dass 90 Prozent der anderen Probanden so einem Verfahren zustimmen würden. Besonders hoch war das Einverständnis bei den unter 35jährigen und bei Akademikern, die mindestens einen Bachelorabschluss hatten. Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dieses Verfahren zu benutzen, lag bei 43 Prozent.
Hypothetisches Szenario: Mit IVF und Embryo-Screening zu einem Top-Platz an der Uni
Die Autoren – Ökonomen rund um die Bioethikerin Michelle M. Mayer (Geisinger Health System/ Pennsylvania) – stellten ein hypothetisches Szenario vor: Nach einer künstlichen Befruchtung und vor der Implantation in den Mutterleib könne ein Embryo durch einen Test auf polygenetische Risiken (PGT-P) untersucht werden – nicht nur im Hinblick auf ausgewählte genetische Erkrankungen, sondern auch auf den Phänotyp, also das spätere Erscheinungsbild und die Fähigkeiten des Kindes. Das Verfahren, so die Annahme, sei sicher und kostenlos, die Befruchtung werde mit In-vitro-Fertilisation durchgeführt. Die Screening-Methode könne die Wahrscheinlichkeit für das Kind, auf einem der Top-100 Colleges genommen zu werden, von drei auf fünf Prozent erhöhen.
Kritik am Studiendesign: Zentrale ethische Bedenken wurden ausgeklammert
Deutsche und österreichische Forscher kritisieren das Studiendesign (SciencemediaCenter, 9.2.2022): Weder die Unsicherheit der Daten noch die möglichen Risiken durch das Testen und das IVF-Verfahren seien im Fragedesign thematisiert worden. „Mit einer solchen Idealisierung werden zentrale ethische Bedenken gegenüber derartigen Versuchen ausgeklammert“, kritisiert Robert Ranisch, Leiter der Forschungsstelle ‚Ethik der Genom-Editierung‘ am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen, die Erhebung. Zudem dürfe man nicht vergessen, dass „derartige Versprechen der Reproduktionsmedizin häufig zulasten der Wunscheltern und insbesondere der Frau gehen. Gerade in intimen und sensiblen Bereichen wie der Familienplanung, könnten Machbarkeitszwänge einen enormen Druck aufbauen“, so Ranisch.
Science-Fiction: Können polygene Tests von Embryonen überhaupt Bildungschancen erhöhen?
Ingrid Metzler, Post-Doc am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Wien, kritisiert, dass die Umfrage „auf sehr unwahrscheinlichen Annahmen“ beruhe. Es wird unhinterfragt als Tatsache hingestellt, dass polygenes Testen von Embryonen in der Lage sei, die Bildungschancen von Jugendlichen zu erhöhen und mit keinen Risiken und Kosten in Verbindung stünde. Gegenstand der Umfrage sind Meinungen und Einstellungen zu „fiktiven Zukunftsszenarien“. Auch wenn diese nicht irrelevant sind, sollte ihre Bedeutung aber auch nicht überschätzt werden, so Metzler.
Die Versorgung rund um die Geburt ist für Kindergesundheit wichtiger als eine bloß wahrscheinliche genetische Diagnostik
„Wer hat die Entscheidungsmacht über die Entwicklung der Tests? Wer entscheidet, welche Krankheiten und Merkmale getestet und gegebenenfalls verworfen werden sollen? Wie suggestiv ist die Annahme einer Kontinuität von Bildungs-Verbesserung und genetischem Enhancement? Welche Marktinteressen gibt es?“ Hille Haker, Professorin für theologische Ethik an der Loyola University Chicago, stellt grundsätzliche Fragen angesichts der wachsenden Industrie von genetischen Test für Embryonen. Gleichzeitig würden viele Ressourcen für die Forschung und Entwicklung gebunden, die für andere Felder innerhalb der Reproduktionsmedizin dann nicht zur Verfügung stehen. So sei in den USA die Kinder- und Müttersterblichkeit in den letzten Jahren angestiegen, sie treffe vor allem ethnische Minderheiten. „Die pränatale und perinatale Versorgung ist aber für die gesundheitliche Entwicklung eines Kindes unter Umständen wichtiger als die genetische Diagnostik, die auf Wahrscheinlichkeiten beruht“, betont Haker.
Europäische Gesellschaft für Humangenetik lehnt PRS-Methode als „unbewiesene, unethische“ Praxis ab
Die Verwendung des sogenannten polygenetischen Risikoscores (PRS) beim Embryoscreening (PGT-P) ist höchst umstritten, sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus ethischen Gründen (Bioethik aktuell, 11.2.2022). So bezeichnet die Europäische Gesellschaft für Humangenetik die PRS-Methode als „unbewiesene, unethische“ Praxis (https://doi.org/10.1038/s41431-021-01000-x, Springer Nature, 17.12.2021) und schlug vor, sie zu verbieten, bis Richtlinien für den Einsatz der Technologien entwickelt werden können.