Bioethik Aktuell

Großbritannien: Weltweit erstmals Genscheren-Therapie für Sichelzellanämie zugelassen

Bluterkrankungen sind in Afrika weit verbreitet, die extrem teure Therapie ist dort jedoch unerschwinglich

Lesezeit: 04:15 Minuten

Fehlerhafte Gene ausschneiden, verändern und einfügen ist mittels Genomediting inzwischen Realität. Die britische Arzneimittelbehörde hat nun einem Medikament die – noch bedingte – Zulassung erteilt, das mittels Gen-Änderung Blutkrankheiten heilen soll. Allerdings könnte bald darüber ein Patentstreit entfachen und die Entwicklung verzögern.

CRISPR-Cas Genschere
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In Großbritannien ist weltweit erstmals eine auf der Genschere CRISPR/Cas9 basierende Gentherapie zugelassen worden. Die britische Arzneimittelbehörde MHRA gab grünes Licht für eine bedingte Marktzulassung des Medikaments Casgevy für Patienten ab zwölf Jahren zur Behandlung von zwei Bluterkrankungen – der Sichelzellenanämie und der Beta-Thalassämie (Spektrum der Wissenschaft, 16.11.2023). Die Behandlung kostet schätzungsweise zwei Millionen Euro pro Patient.

Gentherapie ermöglicht eigene Blutbildung, Transfusionen werden überflüssig

Die Sichelzellenanämie und die Beta-Thalassämie sind erbliche genetische Erkrankungen, die durch Fehler in den Genen für Hämoglobin verursacht werden, das von den roten Blutkörperchen für den Sauerstofftransport im Körper benötigt wird. Bei der Thalassämie soll mittels der Gentherapie erreicht werden, dass die erwachsenen Patienten selbst wieder Blut bilden können und keine Transfusionen mehr benötigen.

Aufwendiges Verfahren, das eine Chemotherapie voraussetzt

„Es ist kein Medikament von der Stange, das einfach injiziert oder in Pillenform eingenommen werden kann“, erklärt Simon Waddington, Genetiker am University College London die aufwändige Prozedur (Nature 2023: 623, 16 November 2023, 677). Der Therapie muss eine Chemotherapie vorausgehen. Stammzellen müssen dann aus dem Knochenmark entnommen werden. Das fehlerhafte Gen wird anschließend im Labor mittels Genschere so verändert, dass der Körper funktionierendes Hämoglobin produzieren kann. Schließlich werden die veränderten Zellen dem Patienten über eine Infusion wieder zugeführt.

Derzeit erst wenige Patienten in den Zulassungsstudien

Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna nannten ihre Genschere „CRISPR/Cas9“. 2020 wurden sie dafür mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Die Zulassungsstudien der Unternehmen Vertex Pharmaceuticals in Partnerschaft mit der Schweizer Firma CRISPR Therapeutics, einem von Charpentier mitbegründeten Biotech-Unternehmen, beruhen derzeit nur auf wenigen Patienten. Laut Vertex konnten jedoch vielversprechende Ergebnisse erzielt werden  (Pressemitteilung, 2.11.2023).

Afrika wird trotz der meisten Patienten am wenigsten von der Therapie profitieren

Weltweit werden jährlich rund 400.000 Neugeborene mit der Sichelzellkrankheit geboren, davon 80 Prozent in Afrika. Die Häufigkeit der genetischen Mutation ist eng mit der Verbreitung von Malaria verbunden (Science Media Center (SMC), 16.11.2023). Da die Kosten für die Genscheren-Therapie aber extrem hoch sind, drüfte die Therapie wohl den reichen Ländern mit entwickelten Gesundheitssystemen vorbehalten bleiben. Die Mehrheit der Betroffenen lebt in benachteiligten Ländern und geht damit wohl leer aus. 

Erbitterter Patentstreit zwischen Wissenschaftlerteams flammt neu auf

Beobachter rechnen außerdem damit, dass der seit 10 Jahren schwelende Patentstreit zwischen dem Team Charpentier&Doudna und ihren Konkurrenten an der Universität Berkley die Entwicklung verzögern könnte (MIT Technological Review, 1.12.2023). Denn nicht nur die Nobelpreisträgerinnen, auch die Gruppe des Molekularbiologen Feng Zhang am Broad-Institut des MIT und der Universität Harvard hatten das Patent auf CRISPR/Cas9 beansprucht (Journal of Biotechnology, 19.11. 2023, https://doi.org/10.1016/j.jbiotec.2023.11.003). Das US-Patentamt gab 2022 überraschend Feng Zhang Recht. Für Wissenschaftler an Universitäten oder anderen Forschungseinrichtungen bleibt das Urteil ohne Bedeutung, denn sie können CRISPR/Cas9 ohne Lizenzgebühren nutzen. Doch wenn die Forschungsergebnisse kommerziell verwendet werden, werden Lizenzgebühren fällig. Experten schätzen die Einnahmen aus dem Patent auf bis zu zehn Milliarden US-Dollar.

Ob nun Vertex Lizenzgebühren an die Firma Editas zahlen wird – ein von Zhang mitgegründetes Biotechnologieunternehmen in Cambridge, Massachusetts, das zuvor die exklusiven Rechte an den Broad-Patenten für CRISPR im Bereich der Behandlung von Menschen, einschließlich Sichelzellentherapien, erworben hat –, ist noch offen.

Risiken: Genschere kann auch andere DNA-Abschnitte verändern

Das Augenmerk der Arzneimittelbehörden richtet sich nun vor allem auf die Frage, ob durch die CRISPR-Technik unbeabsichtigt schädliche Mutationsprozesse in anderen Genabschnitte ausgelöst werden. Dies ist grundsätzlich möglich. „Wir können nicht zu 100% sicherstellen, dass durch die Genschere nicht auch andere DNA-Abschnitte verändert werden“, stellt Selim Corbacioglu, Leiter der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation, Universitätsklinikum Regensburg gegenüber dem SMC (16.11.2023) klar. Die Genschere ist zwar ein sehr präzises Tool, aber längst kein völlig fehlerfreies. „Selbst, wenn nur einzelne Zellen versehentlich so verändert werden, dass sie einen Wachstumsvorteil gegenüber anderen Stammzellen haben, könnte das im schlimmsten Fall zur Entwicklung einer Leukämie führen“, erläutert Joachim Kunz, Klinik für pädiatrische Onkologie, Hämatologie und Immunologie, Universitätsklinikum Heidelberg.

Vorteile: Keine Gefahren von Immunreaktionen

Vorteil der CRISPR-Therapie ist, dass es, anders als bei der Stammzelltransplantation, weder eine Immunreaktion des Körpers noch eine Immunreaktion der Spende gibt, da es sich um eine autologe Zellspende handelt. In den aktuellen Studien der Hersteller benötigte ein Großteil der Probanden mit ß-Thalassämie am Ende des Studienzeitraums keine Bluttransfusionen mehr beziehungsweise hatten Sichelzellpatienten auch keine Schmerzkrisen mehr. Allerdings sei der Nachbeobachtungszeitraum mit 4 Jahren vergleichsweise kurz, berichtet Medscape (20.11.2023). „Wir wissen einfach noch nicht, ob die Patienten womöglich nach einigen Jahren plötzlich doch wieder Transfusionen benötigten oder Schmerzkrisen bekommen, weil die Zellen verschwunden sind“, erklärt Corbacioglu.

Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat für die Sichelzellanämie ebenfalls eine baldige Entscheidung (8. Dezember) angekündigt. Über den Einsatz der Therapie gegen die Beta-Thalassämie soll im Frühjahr 2024 entschieden werden. 

Institut für Medizinische
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