Bioethik aktuell: Können Sie da konkretere Zahlen bringen?
Bettina Reiter: Aus Ländern wie den USA, Großbritannien, Schweden und Finnland wissen wir, dass die Zahlen der Geschlechtsdysphorie in den letzten Jahren um 3.000 bis 4.000 Prozent angestiegen sind. In Großbritannien waren es im Jahr 2021 mehr als 5.000 Fälle. Wir haben es meines Erachtens mit einem Trans-Trend zu tun. Mittlerweile wurde ein eigener Terminus vorgeschlagen: Rapid-Onset Gender Dysphoria, kurz ROGD, also eine plötzlich im Jugendalter einsetzende Geschlechtsdysphorie. Es wurde schon einiges dazu publiziert, aber bei weitem nicht genug.
Bioethik aktuell: Wie viele Kinder und Jugendliche mit einer Geschlechtsidentitätsstörung gibt es in Österreich?
Bettina Reiter: Aus Österreich liegen uns keine genauen Daten vor, weder zur Anzahl von Kindern und Jugendlichen, bei denen die Diagnose Geschlechtsdysphorie gestellt wird, noch zu jenen, die mit Pubertätsblockern behandelt werden oder die die Behandlung wieder abbrechen. Kollegen aus den Beratungsstellen berichten aus ihrer Praxis, dass die Fallzahlen zunehmen. Gesicherte Daten haben wir von der Gesundheit Österreich GmbH lediglich zu den operativen Eingriffen bei Mädchen mit der Diagnose Geschlechtsdysphorie im Alter zwischen 12 und 25 Jahren. Bei diesen jungen Frauen wurden im Jahr 2022 in - meiner Meinung nach erschreckend vielen, nämlich - 151 Fällen gesunde Brüste entfernt. Vor sechs Jahren waren das noch viel weniger.
Bioethik aktuell: Die Zahl der Mädchen, die sich in ihrer Weiblichkeit ablehnen und einen „Männerkörper“ wollen, nimmt massiv zu. Worin sehen Sie die Ursachen?
Bettina Reiter: Drei Aspekte scheinen mir da wichtig. Zuallererst wissen wir aus der sozialpsychologischen Empirie, dass Mädchen im Jugendalter grundsätzlich anfälliger für soziale Ansteckung sind. Sie finden sich häufig in Clustern mit anderen jungen Mädchen, in sogenannten Peer Groups, zusammen und beeinflussen sich gegenseitig immens.
Hinzu kommt, dass seit rund zwölf Jahren, seit es Social Media gibt, diese neuen Medien sehr stark von Jugendlichen genutzt werden. Die Idee, einem anderen Geschlecht anzugehören, non-binary oder furry – einem Tier verbunden – zu sein, ist auf „Tumblr“ entstanden. Tumblr war die erste chatfähige Plattform, auf der sich Millionen von Kindern ausgetauscht haben. Dort sind diese Identitäten in Chats entstanden. Tumblr schuf also eine Art auf Social Media organisierter Peer Group. Inzwischen sind Video Plattformen wie TicToc oder Instagram wichtiger geworden.
Der dritte Punkt ist, dass das Alter zwischen 10 und 20 Jahren entscheidend ist, um seinen Platz in der Welt zu finden. Das berührt verschiedene Ebenen wie den Körper, die Sexualität, die sexuelle Orientierung, das Selbstgefühl und vieles mehr. Diese pubertäre Entwicklung ist für Mädchen komplexer und schwieriger als für Burschen - man denke beispielsweise an die erste Menarche. Das ist eine sehr vulnerable Zeit für Selbstzweifel und Dysphorien, die auch zu einer Ablehnung des sich zur Frau entwickelnden Körpers führen kann.
Heute wissen wir zudem durch Studien, dass viele der betroffenen Jugendlichen psychische Probleme aufweisen, darunter Depressionen, Angstzustände, ADHS-Spektrum, Suizidgedanken oder Essstörungen. Häufig beginnen diese Probleme ebenfalls in der Pubertät. Die Sache ist also komplex. Aus meiner Sicht ist Geschlechtsdysphorie oft eine Folge oder Erscheinung einer psychischen Vorerkrankung. Daher sollte diese prioritär behandelt werden.
Bioethik aktuell: Immer wieder werden Eltern von betroffenen Kindern mit dem Satz konfrontiert: „Wollen Sie lieber eine tote Tochter oder einen lebenden Sohn?“ In Ihrem neuen Dossier widmen Sie sich den Mythen und Fakten rund um Geschlechtsdysphorie und Gender Affirming Medicine.
Bettina Reiter: Behauptungen, wonach die Suizidrate bei geschlechtsdysphorischen Kindern sinkt, wenn sie auf den Transitionsweg geschickt werden, sind ein Mythos. Das konnte nur deshalb so zur Formel werden, weil prominente Mediziner in den USA, die die sogenannte Gender Affirming Care praktizieren, die Aufmerksamkeit einflussreicher Medien wie der New York Times auf sich ziehen konnten und diese dann eine falsche Studie zu Suizidraten hinausgetrommelt haben. Von da an verbreitete sich weltweit dieses Gerücht - denn mehr als das ist es nicht. Da es außerdem das Geschäftsmodell von Medizinern, die Gender Affirming Care anbieten, stützt, ist dieser bedrohliche Satz für Eltern zu einem erpresserischen, manipulativen Bild geworden. Es ist aber schlicht nicht wahr.
Bioethik aktuell: Die Gabe von Pubertätsblockern und eine „gender-affirmative“ Hormon- und chirurgische Therapie gilt seit fast 20 Jahren als der optimale Behandlungsweg in der Therapie von Jugendlichen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung. Was sagen Sie zu der in jüngster Zeit zunehmende Kritik an diesem Zugang?
Bettina Reiter: Die ganze Idee der sogenannten Gender Affirming Care geht auf ein Behandlungsprotokoll zurück, das auf einer einzigen Studie mit nur 55 Teilnehmern basiert. Dieses Therapie-Protokoll, das zur Blaupause für Transgender-Behandlungen in der ganzen westlichen Welt wurde, ist 2006 in den Niederlanden entstanden und wurde als „Dutch Protocol“ bekannt. Methodisch weist diese Studie gelinde gesagt erhebliche Mängel auf. Es ist eigentlich ein Rätsel, wie sich alle auf dieses Behandlungsprotokoll einlassen konnten. Allein in den USA führen derzeit 300 Zentren diese Behandlung bei jungen Menschen durch – ohne wissenschaftliche Evidenz.
Bioethik aktuell: In manchen Ländern wie Großbritannien und Schweden hat ein Umdenken in Bezug auf die Therapieansätze bei Geschlechtsdysphorie stattgefunden: heute wird dort Psychotherapie angeraten statt einer vorschnellen Hormonbehandlung.
Bettina Reiter: In Europa hat sich in den letzten Jahren eine etwas kritischere und vorsichtigere Sichtweise auf diese Behandlungen entwickelt. In Großbritannien wird Ende März die große Londoner Gender Klinik Tavistock, die den Ansatz der Gender Affirming Care verfolgt hat, geschlossen. Die Klinik sorgte seit 2006 immer wieder für Schlagzeilen, weil Mitarbeiter die Vorgehensweisen und Behandlungsmethoden kritisch in Frage stellten. 2022 wurde dazu ein vom National Health Service (NHS) angeordneter wissenschaftlicher Report veröffentlicht. Mit dem Ergebnis, die in der Klinik angebotenen Behandlungen mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen einzustellen – nach einem fast zwanzig Jahre langen Prozess. Wie man an diesem Beispiel sieht, dauert es also immer eine Zeit, bis Institution die Erkenntnisse der Wissenschaft umsetzen – vorausgesetzt, es gibt überhaupt den politischen Willen, der Wissenschaft zuzuhören.
Bioethik aktuell: Wenn Gender Affirming Care keine Behandlungserfolge nachweisen kann – wie soll man dann den Betroffenen in ihrer Not begegnen?
Bettina Reiter: Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz, dass Gender Affirming Care das Unbehagen bei den Betroffenen, Depressionen und sonstige Begleiterscheinungen mindert. Im Gegenteil: Untersuchungen zeigen, dass sich Geschlechtsdysphorie bei den meisten Kindern, wenn man sie nicht auf den affirmierenden Behandlungsweg schickt, sondern ihnen mit „Watchful Waiting“ begegnet, von selbst legt. Wir sprechen hier von einem Anteil von fast 90 Prozent. Damit ist evident, dass die Herausforderungen der Pubertät und die Miterkrankungen, den weitaus größeren Teil der Beschwerden verursachen.
„Watchful Waiting“ (Anm. ‚beobachtendes Abwarten‘) ist ein klassischer Grundsatz in der Medizin für alle Symptome und Erscheinungen, die zwar gravierend, aber nicht unmittelbar lebensbedrohlich sind. Es geht darum, ein therapeutisch-beratendes Setting anzubieten, bei dem alle Fragen, die auftauchen, gestellt werden können und einen Platz haben. Wenn man den Kindern in dieser schwierigen Zeit zur Verfügung steht, sie begleitet, aber nicht hormonell oder operativ eingreift, kann man den allermeisten den körperzerstörenden Transitionsprozess ersparen.
Bioethik aktuell: Aber sind die Betroffenen nicht glücklich darüber, dass sie ihren Körper ihren Vorstellungen und Gefühlen anpassen können?
Bettina Reiter: Es zählt zu den weit verbreiteten Mythen, wonach es „nur ein Prozent Regret“ gebe. Diese Aussage stammt aus einer wissenschaftlichen Arbeit, die sich mit der Zufriedenheit von Transgender-Personen, die sich plastisch-chirurgischen Eingriffen unterzogen hatten, befasste. Die Studie beschränkte sich jedoch auf den Zeitraum bis maximal sechs Monate nach den Eingriffen. Typischerweise lässt sich ein „Regret“ (Anm. ‚Bereuen‘) aber erst vier bis sieben Jahre nach einem Eingriff feststellen. Zudem gibt es enorm hohe Abbruchraten bei den Studienteilnehmern und folglich nur wenige aufschlussreiche Rückmeldungen.
Bioethik aktuell: In den österreichischen Behandlungsempfehlungen heißt es, die Wirkung der Pubertätsblocker könne jederzeit rückgängig gemacht werden. Stimmt das so?
Bettina Reiter: Pubertätsblocker sind weder für die Behandlung von Geschlechtsdysphorie noch die Behandlung von Kindern zugelassen. Es handelt sich also um eine experimentelle, Off-Label-Behandlung. Die Pubertätsblockade hat eine Reihe von Wirkungen, aber auch Nebenwirkungen. Beide sind nicht gut untersucht. Die schlimmste bekannte Nebenwirkung ist, dass die intellektuelle Entwicklung des Kindes, messbar anhand des Intelligenzquotienten (IQ), gestoppt wird oder sogar rückläufig verläuft. Es braucht hier aber noch mehr Untersuchungen. Weitere mögliche Nebenwirkungen sind beispielsweise Osteoporose oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wenn die Pubertätsblocker vor dem Einsetzen der Pubertät gegeben werden, führt das außerdem zur Unfruchtbarkeit.
Wir wissen auch aus Studien, dass die Gabe von Pubertätsblockern fast immer zu weiteren Transgender-Behandlungen, wie gegengeschlechtlicher Hormonbehandlung, führt. Es ist also keine Nachdenkphase, die man dem Kind gewährt, sondern eine Autobahn, von der man kaum mehr abfahren kann, mit allen vorher erwähnten Wirkungen und Nebenwirkungen.
Bioethik aktuell: Heißt das, dass die österreichischen Behandlungsempfehlungen nicht auf dem Stand der Wissenschaft sind?
Bettina Reiter: Die Empfehlungen sind ganz sicher nicht mehr auf dem Stand der Wissenschaft. Sie stammen aus dem Jahr 2017. Sie berufen sich auf die „Standards of Care Vs. 7“ der WPATH sowie das bereits erwähnte Dutch Protocol und sie beruhen auf einem Konsens von jenen Behandlern, die alle Gender Affirming Care anwenden. In den Empfehlungen ist außerdem von der Welle von jungen Mädchen, die von Geschlechtsdysphorie betroffen sind, noch keine Rede. Es wird so getan, als ginge es um das klassische Transsexuellenproblem.
Bioethik aktuell: In den österreichischen Behandlungsempfehlungen wird der Leidensdruck von Betroffenen als nicht pathologisch definiert, andererseits wird eine medizinische, von der Krankenkassa bezahlte Behandlung eingefordert. Wie ordnen Sie das ein?
Bettina Reiter: Das ist ein Widerspruch. Er beruht auf der Annahme, dass das, was wir Geschlechtsdysphorie nennen, ein Normalzustand des Menschen sei – also keine Krankheit, kein Beschwerdebild. Damit wird automatisch eine dualistische Auffassung vom Menschen – hier Körper, da Geist bzw. Seele – vermittelt. Es wird dann der Anspruch erhoben, dass sich unser Körper den Vorstellungen unseres Geistes über uns selbst unterordnen soll. Das ist eine ideologische Sicht auf den Menschen.
Ich komme aus der Psychoanalyse. Sigmund Freud prägte den Ausspruch: die Anatomie ist dein Schicksal. Folgt man dieser Sicht auf den Menschen, können wir aus unserem Körper nicht nur nicht aussteigen. Es ist ein Teil unserer Lebensaufgabe, uns mit ihm anzufreunden, klar zu kommen und eine Perspektive mit uns, so wie wir sind, zu entwickeln.
Das Gespräch führte Bioethik aktuell-Redakteurin Antonia Busch-Holewik.