Österreich war international in den Schlagzeilen, als Mitte Jänner der Nationalrat das Impfpflichtgesetz beschloss (vgl. Bioethik aktuell, 21.1.2022) . Nun sieht es nach einer Kehrtwende in der Coronapolitik aus: Wird die Impfpflicht angesichts der milderen Omikron-Verläufe vorerst ausgesetzt? Oder nur auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt? Eine von der Regierung eingesetzte vierköpfige Expertenkommission soll bis spätestens 8. März eine Empfehlung abgeben – und damit rechtzeitig vor dem Stichtag 15. März. Ab diesem Datum sollten laut Gesetz Ungeimpfte auch mit Strafen belegt werden können – oder eben nicht (vgl. Standard online, 18.2.2022).
Die Positionen zu einer allgemeinen Impflicht klaffen auseinander (vgl. Bioethik online, 6.12.2021). Welche Kriterien müssen bei einer ethischen Beurteilung berücksichtigt werden? In ihrem Beitrag Allgemeine SARS-CoV-2-Impfpflicht: Strukturierte ethische Analyse, publiziert im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl 2022; 119(7): A-263 / B-219), stellen sich die beiden deutschen Medizinethiker Georg Marckmann (Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin und Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der LMU München) und Jens Schildmann (Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, MedUniversität Halle/Saale) dieser Frage.
Ihr Fazit: Die größte Herausforderung für eine ethische Bewertung der allgemeinen Impfpflicht in dieser Pandemie bestehe darin, dass die empirischen Grundlagen in Bezug auf die Effektivität dieser Maßnahme und ihre Schadenspotenziale ein "hohes Maß an Unsicherheit aufweisen". Letztlich brauche es einen breiten gesellschaftlichen Diskurs für eine angemessene Abwägung zwischen "gesundheitlichen Risiken und Freiheitseinschränkungen". Darüber hinaus müsse man bewerten, wie man mit der "unvermeidlichen Unsicherheit hinsichtlich der empirischen Fakten" umgehen soll, so die Autoren
Die Frage einer allgemeinen Impfpflicht berühre zentrale Grundrechte wie die Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und körperliche Unversehrtheit. Grundrechte hätten die "wichtige Funktion, das Individuum vor ungerechtfertigten Eingriffen des Staates zu schützen". So wäre etwa eine "ganz allgemeine Förderung des gesundheitlichen Wohls vieler Menschen per se“ kein ausreichender Grund für einen derartigen Eingriff. Umgekehrt könne die Einschränkung von Grundrechten unter bestimmten Bedingungen ethisch vertretbar sein, so die Ethiker.
Um dies ethisch zu begründen, müssten jedoch Anforderungen erfüllt sein. Die Begründung lebe von empirischen und normativen Voraussetzungen, die klar strukturiert, nachvollziehbar und schrittweise überprüft werden müssten.
Grundsätzlich, so die beiden Autoren, komme eine Impfpflicht ethisch nur dann infrage, wenn damit ein erheblicher Nutzen für die öffentliche Gesundheit erzielt wird, der nicht mit weniger eingreifenden Maßnahmen erreicht werden könne. Als Beispiele nenne sie die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitswesens, vieler Todesfälle oder die Eliminierung eines gefährlichen Erregers.
Allerdings: Die ethische Vertretbarkeit der Zielsetzung hänge wesentlich von empirischen Informationen über die zu erwartenden direkten und indirekten Schäden ab. Ausverhandelt werden müsse außerdem, welche gesundheitlichen Schäden (noch) als ethisch akzeptabel gelten.
Dann gehen die Autoren konkrete auf vier Punkte ein. So könnten die Zielsetzung (1), eine zukünftige Sars-CoV-2-Infektionswellen zu verhindern, eine allgemeine Impfpflicht nur dann begründen, wenn sicher wäre, dass künftige Infektionswellen tatsächlich zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen. Eben dies lasse sich jedoch aufgrund der Veränderung des Virus nicht sicher vorhersagen.
Offen ist die Frage der Effektivität (2): Die Zahl der schweren Verläufe einer Infektion kann nachweislich durch eine Mehrfach-Impfung gesenkt und somit Hospitalisierung vermieden werden. Wissenschaftlich nicht geklärt sei, wie hoch die Impfquote dafür sein muss und ob diese auch effektiv durch eine allgemeine Impflicht erreicht werden kann. Trotz Impflicht würden sich viele Menschen nicht impfen lassen.
Was die Bewertung der Schadenspotenziale (3) und alternative Handlungsoptionen (4) anlangt, sehen die Autoren kaum Schadenspotenziale im Impfstoff selbst, da es nur sehr selten zu schwerwiegenderen Komplikationen komme. Allerdings müssten auch soziale Spannungen oder überhaupt die Abnahme der Impfbereitschaft als negative Folge der Impfpflicht berücksichtig werden. Alternative Handlungsoptionen könnten verbesserte Informationskampagnen, Anreizsysteme und zielgruppenspezifische proaktive Impfangebote sein, so die Autoren. Ein ethisches Grundsatzurteil Pro/Contra Corona-Impfpflicht nehmen Marckmann und Schildmann nicht ein. Angesichts der von ihnen genannten Unsicherheiten lässt sich jedoch ein tendenzieller Vorbehalt erkennen.