Weltweit wird derzeit auf gesundheitspolitischer und ethischer Ebene diskutiert, ob der Staat eine Impfpflicht zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie verhängen darf – oder ob dieser Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Integrität und Freiheit unverhältnismäßig und daher abzulehnen ist. Die Fronten sind verhärtet, wobei die Länder derzeit unterschiedliche Wege gehen: freiwillige Impfung (Schweiz), eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen (Italien, Frankreich, ab März 2022 auch Deutschland) bis hin zu einer allgemeinen Impflicht, wobei Österreich hier derzeit noch alleine dasteht (vgl. Bioethik aktuell, 6.12.2021).
Eine Impfpflicht benötigt zu Recht einen hohen Begründungsaufwand. Einerseits berühren Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit die menschenrechtlichen Grund- und Freiheitsrechte. Andererseits hat der Staat die Verpflichtung, auf das Gemeinwohl und die öffentliche Gesundheit zu achten. Er kann legitimiert sein, als "ultima ratio" die Freiheit des einzelnen zum Wohle aller zu beschränken. Die grundsätzliche Legitimität einer staatlich verordneten Impfpflicht setzt allerdings voraus, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist und mit keiner anderen Maßnahme dasselbe Ergebnis zu erreichen ist. Gerade in diesem Punkt herrscht Uneinigkeit.
Pro COVID-19-Impflicht argumentiert der Ethiker Julian Savulescu (University of Oxford) in einem im Journal of Medical Ethics publizierten Beitrag (2021; 47:78-85). „Eine obligatorische Impfung, auch gegen COVID-19, könne ethisch gerechtfertigt werden, wenn die Gefahr für die öffentliche Gesundheit groß ist, das Vertrauen in die Sicherheit und Wirksamkeit hoch ist, der erwartete Nutzen einer obligatorischen Impfung größer ist als die Alternativen und die Strafen oder Kosten für Nicht-Einhaltung verhältnismäßig." Savulescu räumt ein, dass auch die Frage der Nutzenbewertung eine ethischen Gewichtung braucht: „Sollten wir vermeidbare Todesfälle (egal welchen Alters), verlorene Lebensjahre oder verlorenes Wohlbefinden (vielleicht gemessen an qualitätsbereinigten Lebensjahren) dazu zählen?", fragt er. Oder den Verlust an Freiheit oder Privatsphäre? Für Savulescu kann eine obligatorische Impfung jedenfalls einen deutlich geringeren Verlust an Wohlbefinden oder Freiheit bedeuten als „komplexe, ressourcenintensiven Maßnahmen“ wie etwa Lockdowns.
Nicht überzeugt von einer staatlich verordneten Impfpflicht sind dagegen die australische Philosophin Susan Pennings (Australian National University) und der Ethiker Xavier Symons (ACU’s Plunkett Centre for Ethics, Australia). In einer gemeinsamen ebenfalls im BMJ Journal of Medical Ethics (2021: 47 (10): 709-711) publizierten Replik auf Savulescu argumentieren sie, warum eine gezielte öffentliche Gesundheitsaufklärung und ein stärkeres Eingehen auf die Bedenken von Nicht-Geimpften die beste Strategie wäre, um die niedrigen Impfraten anzuheben. Eine staatlich verordnete COVID-19-Impfpflicht halten sie aus mehreren Gründen für ethisch nicht vertretbar. So sei die Sicherheit und die Effizienz der zugelassenen Vakzine nach bisherigem Wissenschaftsstand nicht ausreichend, um die Pandemie richtig zu bekämpfen. Daher könne auch keine Verpflichtung für alle abgeleitet werden, sich impfen lassen zu müssen.
Ohne soziales Vertrauen können ein auf Zwang oder Anreize basierender Ansatz außerdem nach hinten losgehen: Der Versuch, Zwang auszuüben, kann als eine Bedrohung durch "ferne und herablassende Eliten empfunden werden und die bestehenden sozialen und politischen Spaltungen verstärken, ohne dass dies zu höheren Impfraten führt", geben die Ethiker zu bedenken. Mythen und Fehlinformationen zu COVID-19-Impfstoffe sollten ausgeräumt werden. Andererseits müssten auch Unsicherheiten transparent kommuniziert werden. Diese gehe nicht auf Kosten des Vertrauens. Wenn Fachleute nicht nur offen über die Stärken, sondern auch über die Schwächen der COVID-19-Impfstoffe (z. B. dass auch Geimpfte sich infizieren, das Virus weitergeben oder daran erkranken können) informierten, würde dies das Vertrauen der Bürger eher stärken als schwächen, so die Autoren.
Auch in Österreich sind verschiedene Positionen vertreten: Der katholische Moraltheologe Josef Spindelböck (Philosophisch-Theologische Hochschule St. Pölten) hält eine "temporäre Impfpflicht", also eine von vorneherein zeitlich begrenzte, unter Umständen für möglich. Allerdings hätten viele Menschen in Österreich derzeit den Eindruck, dass die Politik eigene Versäumnisse in der koordinierten Bekämpfung der Pandemie "auf die Gruppe der Ungeimpften abzuwälzen" suche. "Diese werden als Sündenböcke ausgemacht, die es zu bestrafen gilt, wenn sie sich nicht überzeugen lassen", so Spindelböck. Er nannte eine solche Vorgangsweise "hochproblematisch", weil letztlich entsolidarisierend (vgl. Kathpress, 26.11.2021). Ulrich Körtner (Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Uni Wien) räumt der Freiwilligkeit, Informationskampagnen und Anreize, niederschwellige Impfangebote zu nutzen, den Vorrang vor Zwangsmaßnahmen ein. Sollten diese aber nicht greifen, oder – wie laut Körtner in Österreich – nicht effizient der Versuch gemacht worden sei, die Impfquote nennenswert zu erhöhen, sei eine Impfpflicht gerechtfertigt. „Wenn andere Möglichkeiten der Gefahrenabwehr nicht bestehen, ist es rechtlich, aber auch ethisch vertretbar, in Grundrechte einzugreifen, weil diese nicht absolut gelten, sondern stets gegen andere Grundrechte abzuwägen sind", so der protestantische Theologe und Ethiker (vgl. Science ORF, 24.11.2021).
Die Politologin Barbara Prainsack (Universität Wien) und der Gesundheitsökonom Thomay Czypionka (Institut für Höhere Studien, Wien) plädieren für einen Mittelweg. Eine Impfpflicht könne nur das letzte Mittel nach Ausschöpfen aller anderen, gelinderen Mittel sein. „Dies ist aus unserer Sicht noch nicht geschehen“, betont Czypionka. Die Erfahrung in anderen Ländern zeige, dass Strafen bei einer Impfpflicht nicht leicht durchzusetzen seien. Es gebe zudem keine direkte Korrelation zwischen einer Impfpflicht und hohen Durchimpfungsraten, so Czypionka mit Verweis auf Schweden und Italien (vgl. ORF online 17.11.2021). Um eine hohe Impfrate zu erreichen, sei „eine generelle Impfpflicht nicht unbedingt das Politikinstrument der Wahl“, gibt Prainsack, die auch Mitglied der Bioethikkommission ist (vgl. Wiener Zeitung, online 5.12.2021), zu bedenken. Sollte die Impfpflicht tatsächlich kommen, müsste eine verpflichtende Beratung vorgeschaltet werden. Viele Nicht-Geimpfte hätten noch „offene Fragen und keine fachkundige Beratung erhalten.“
Christoph Wenisch, Leiter der Infektionsabteilung an der Klinik Favoriten, spricht sich gegen eine Orientierung an der bis 1981 geltenden Impfpflicht für Pocken aus. Die Pocken sind ein stabiler Virus, der nur von Mensch zu Mensch und nicht über Tiere übertragbar ist und damit ausgerottet werden kann, Grippe- und Coronaviren hingegen nicht. Dies sei eine andere Art der Impfung gewesen – mit einer höheren und nachhaltigeren Wirkung. Gegen CoV müsse man dagegen immer wieder impfen, auch sei der Schutz vor einer Übertragung nicht vollständig gegeben. Im Endeffekt müsse man sich daran orientieren, wie viele Patienten in Intensiv- bzw. Normalstationen man aushalten wolle. Ziel müsse es sein, dass es von der Belastung in den Spitälern her wie die Grippe werde. Diese höhere Belastung für ein, zwei Monate im Winter halte man aus, so Wenisch nach dem runden Tisch im Bundeskanzleramt (vgl. ORF online, 30.11.2021).
Der deutsche Medizinrechter und Rechtsphilosoph Josef Franz Lindner (Universität Augsburg) hält eine Impfpflicht für alle für verfassungsrechtlich „sehr viel schwerer zu begründen als für bestimmte Gruppen“. Zweck der Impfung sei es, dass die Intensivstationen nicht überlastet werden. „Der Kreis derer, die man in eine Impfpflicht einbeziehen müsste, müsste durch eine wissenschaftliche Analyse eruiert werden. Also wie ist die Verteilung ungeimpfter COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen? Diese Daten gibt es ja. Und diese Daten müsste man dann nach Gruppen typisieren und könnte für diese eine Impfpflicht vorsehen“, so Lindner gegenüber dem Science Media Center Germany (SMC) (online 24.11.2021). Eine Impfpflicht müsste daher auf Risikogruppen abzielen, also vor allem auf jene, „die ohne Impfung typischerweise auf die Intensivstation kommen.“ Das seien vor allem Menschen 60+. Kinder und Jugendliche wären ausgenommen. „Von denen geht keine große Gefahr mit Blick auf die Intensivstationen aus. Hier gibt es also keinen tragfähigen Grund", so der Jurist.