Es besteht eine große Kluft zwischen irreführenden Medienberichten, überzogenen Erwartungshaltungen und der tatsächlichen Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabisprodukten. Denn: Nach den Qualitätskriterien einer evidenzbasierten Medizin gibt es nur eine sehr eingeschränkte Evidenz für die Wirksamkeit von Cannabinoiden in der Schmerz- und Palliativmedizin. Zu diesem Ergebnis kommt eine Forschergruppe um Winfried Häuser (Klinikum Saarbrücken) in einer im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 627-34) veröffentlichten Übersichtsstudie.
Das Team erstellte aus insgesamt 750 identifizierten Studien elf systematische Übersichten (2009 bis 2017). Ihr Fazit: Es gibt keine ausreichende Evidenz für cannabisbasierte Arzneimittel (Dronabinol, Nabilon, Medizinalhanf, THC/CBD-Spray) bei Tumorschmerzen, rheumatischen und gastrointestinalen Schmerzen. Auch positive Effekte bei Appetitlosigkeit, unter der Krebspatienten und Menschen mit AIDS häufig leiden, sind nach der wissenschaftlichen Auswertung nicht erwiesen. „Eine ausreichende Quantität der Evidenz besteht nur beim neuropathischen Schmerz“, ergänzt Häuser (vgl. Pressemitteilung, online, 27.9.2017).
Die weibliche Hanfpflanze Cannabis sativa enthält etwa 500 verschiedene Komponenten, davon circa 100 Cannabinoide. Zwar ist die medizinische Wirksamkeit bei Schmerzlinderung und Entzündungen von zwei Cannabinoiden, nämlich Tetrahydrocannbinol (THC) und Cannabidiol (CBD), in Einzelfällen und durch einige klinische Studien erwiesen. Doch die Wirkeffekte auf den menschlichen Körper sind noch weitgehend unerforscht, sodass man keine reguläre Behandlung mit Cannabinoiden empfehlen könne, da die Nebenwirkungen teils erheblich sind (vgl. Bioethik aktuell, 8.5.2017).
Seit März 2017 können schwerkranke Patienten auf ärztliche Verschreibung in Deutschland auf Kassenkosten getrocknete Cannabisblüten und Cannabisextrakte in Apotheken erhalten. Zum Vergleich: In Österreich darf Cannabis nur in bereits standardisierten Medikamenten eingesetzt werden, nicht in Pflanzenform. Erlaubt sind nur synthetische Extrakte aus der Pflanze, in Medikamenten mit den Inhaltsstoffen THC und/oder CBD. Mit gutem Grund, wie Hans-Georg Kress, Leiter der Abteilung für Anästhesie und Schmerztherapie (MedUni Wien) argumentiert: „Es macht keinen Sinn, Cannabis oder Marihuana für medizinische Zwecke einfach freizugeben. Hier fehlt der Nachweis der Überlegenheit gegenüber den in Studien getesteten Cannabinoiden. Und wir sollten in unserem Gesundheitswesen, das ja sonst auch auf die Kosten schaut, nur Medikamente verwenden und zahlen, für die eine Wirksamkeit gegeben ist“, so Kress in seiner Stellungnahme zur deutschen Neuregelung (vgl. Kleine Zeitung, online, 20.1.2017).
Bereits im Juni 2017 hatte die Berliner Schmerzmedizinerin Corinna Schilling von einem Ansturm von Patienten auf Cannabispräparate auf Rezept berichtet (vgl. Deutsches Ärzteblatt, online, 1.6.2017). Die Menschen gäben an, sie litten unter chronischen Schmerzen und hofften auf eine Cannabis-Verordnung. Nach Schillings Einschätzung wurde die Gesetzesänderung von Laien teils so aufgefasst, dass es massenhaft Anwendungsgebiete für Cannabis gebe - dabei sei das in den allermeisten Fällen „überhaupt keine Therapieoption“, betonte die Ärztin, „Tor und Tür sind dem Missbrauch hier weit geöffnet.“