Die Deutsche Bundesärztekammer (BÄK) zieht eine Änderung des Berufsrechts bei der ärztlichen Beihilfe zu Selbsttötungen in Betracht. „Wir können nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine Norm aufrechterhalten, die dem Arzt jede Form von Unterstützung untersagt. Die Berufsordnung kann so nicht bleiben“, sagt BÄK-Präsident Klaus Reinhardt im Spiegel (online, 25.9.2020) .
In Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht Ende Februar das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe gekippt. Nun sollen auch Ärzte zur Verfügung stehen, Suizidwilligen entsprechende tödliche Substanzen zur Verfügung zu stellen. Dies widerspricht jedoch dem §16 ("Beistand für Sterbende") der Musterberufsordnung für Ärzte, die zuletzt 2011 verschärft wurde (vgl. Dtsch Arztebl 2011; 108(23): A-1288 / B-1074 / C-1074). Dort heißt es: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Im Mai 2021 soll der kommende Deutsche Ärztetag über eine erneute Änderung abstimmen. Denkbar sei eine Streichung des letzten Satzes, so die BÄK. Für die tatsächliche Änderung des Berufsrechts sind in Deutschland jedoch am Ende die einzelnen Landesärztekammern zuständig. Diese müssten jede für sich eine Änderung beschließen.
"Die Entwicklung zeigen: Wenn ein Staat erlaubt, dass Ärzte die Hand zum Suizid zu reichen, wird das Arzt-Patienten-Verhältnis nachhaltig zerstört", warnt die Wiener Ethikerin Susanne Kummer. Das zeigen die Entwicklungen in den Niederlanden. Dort bieten Hausärzte und professionelle Firmen in Alters- und Pflegeheimen inzwischen "Sterbehilfe" an - auch für psychische kranke Menschen und Kinder. "Das Angebot erzeugt Druck." Aus Angst, auch gegen ihren Willen getötet zu werden, weichen Senioren zum Teil ins - noch sichere - Deutschland in entsprechende Einrichtungen aus (vgl. dtBVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, Rn 257).
Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Palliativgesellschaft, sieht den Wegfall des § 217 StGB kritisch, berichtet Medscape (online, 15.9.2020). Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte der DGP geschrieben, seiner Ansicht nach müsse im Falle des assistierten Suizids Freiwilligkeit, Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches gewährleistet werden. Aber wie?
„Da gibt es keine einfache Lösung“, so Radbruch, etwa bei der Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches. Patienten mit plötzlichen Querschnittslähmungen könnten sich rasch den Tod wünschen, aber nach einiger Zeit der Gewöhnung an die Behinderung doch wieder Lebensmut fassen. Außerdem müsse laut dem deutschen Verfassungsgerichtshof jedes Motiv für einen Suizid gelten. Die Suizidbeihilfe ist gemäß dem Urteil an keine Kriterien wie schwere Krankheit oder eine bestimmte Todesnähe gebunden, ein Mensch müsse nicht begründen, warum er Suizidbeihilfe wünscht. Laut Radbruch "gehört der ärztlich assistierte Suizid nicht zu den ärztlichen Aufgaben. Aber zu ihnen gehört, sich respektvoll mit den Todeswünschen von Patienten auseinanderzusetzen."
Die generelle Ambivalenz eines Selbsttötungswunsches sowie die Tötungshilfe bei psychisch Kranken ist in Belgien weiterhin ein großes Thema, obwohl schon seit 2002 Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid erlaubt sind. Anfang 2020 wurden drei belgische Ärzte freigesprochen, die einer Autistin kurz nach der Diagnose Sterbehilfe gewährt hatten. Dabei war die 38-Jährige noch nicht in Behandlung und hatte zu dem Zeitpunkt Liebeskummer. Was heißt "unerträgliches psychisches Leiden"? Wie soll das beurteilt werden? Und: Sind diese Patienten wirklich alle „austherapiert“? In Belgien hat sich die Zahl der Fälle von 260 (2003) auf 2.655 (2019) mehr als verzehnfacht. Belgien erlaubt auch Euthanasie für Kinder. Die Zahl der getöteten psychisch kranken Patienten lag zuletzt bei knapp 50 pro Jahr. Hinzu kommen hunderte Betroffene, die körperliche und geistige Leiden als Grund für ihren Wunsch nach aktiver Sterbehilfe angeben, berichtet Ö1 (Reportage 1.10.2020/SWR 10.9.2020).
Ariane Bazan, Professorin für Klinische Psychologie und Psychopathologie an der Université Libre in Brüssel, kritisiert diese Entwicklung. Nur jene Therapeuten, die daran glauben, dass sie ihrem Patienten helfen können, seien selbst glaubwürdig. Sterbehilfe habe da keinen Platz, denn: "Was ein Patient wissen möchte, ist: Gibt es jemanden, der mich erträgt? Das will er wissen. Wenn es jemanden gibt, der mich erträgt, dann kann ich mich vielleicht auch selbst ertragen. Dann ertrage ich vielleicht auch mein Leben."