Umfragen zeigen, dass die französische Bevölkerung das Thema nicht als dringlich wahrnimmt. Eine repräsentative Studie von Harris Interaktive, 2024 setzte das Thema „Lebensende" nur auf Platz 15 der politischen Prioritäten. Dennoch wird das "Sterbehilfe-Gesetz" von der Regierung mit Nachdruck vorangetrieben. Die parlamentarische Prüfung des Gesetzes begann am 9. April. Eine finale Abstimmung zur Frage, unter welchen Bedingungen Tötung auf Verlangen (Gesetzentwurf Nr. 1100), erlaubt sein soll, ist bereits für den 27. Mai 2025 geplant.
Widerstand ehemaliger Minister gegen Sterbehilfe-Entwurf
Bemerkenswert ist der Widerstand hochrangiger ehemaliger Politiker am Gesetzesentwurf, die alle noch in der Zeit Emmanuel Macrons aktiv waren: François Braun, Ex-Gesundheitsminister und Notfallmediziner, die ehemalige Gesundheitsministerin Agnès Firmin-Le Bodo – sie hatte den Gesetzentwurf ursprünglich mitgestaltet – sowie François de Rugy, Ex-Umweltminister. Nach einjähriger intensiver Arbeit legten sie ein detailliertes Gutachten mit zwölf Empfehlungen vor (Le Figaro, 6.4.2025).
Darin warnen sie vor möglichen Missbräuchen und äußern Sorge um unzureichende Schutzmaßnahmen für besonders vulnerable Patientengruppen. Sie fordern eine Stärkung der Palliativversorgung als Alternative, warnen vor einer "Normalisierung" der "Sterbehilfe" als gesellschaftlich akzeptierte Lösung und befürchten eine schleichende Ausweitung der Kriterien nach Einführung des Gesetzes. Hinsichtlich der praktischen Umsetzung und ärztlichen Haftung äußern sie schwerwiegende Bedenken.
Unzureichender Zugang zu Palliativpflege
Die Kritik beschränkt sich nicht nur auf politische Kreise. Auch seitens des Gesundheitspersonals wächst der Widerstand: Rund 21.000 Ärzte, Pflegefachkräfte und Palliativexperten haben ein Manifest unterzeichnet, in dem sie sich klar gegen die Sterbehilfe-Legalisierung positionieren.
Ein zentraler Kritikpunkt in der französischen Debatte betrifft den mangelhaften Zugang zur Palliativversorgung. Von 400.000 Menschen mit Anspruch auf Palliativpflege erhalten nur etwa die Hälfte tatsächlich Zugang zu entsprechenden Angeboten. Dieses Versorgungsdefizit wird durch die angespannte Finanzlage des französischen Gesundheitssystems noch verschärft. Frédéric Bizard, Professor für Gesundheitsökonomie (ESCP Business School), unterstreicht diese Befürchtungen. Angesichts eines Sozialdefizits von 24 Milliarden Euro in Frankreich sei es fatal, neue Rechte zu schaffen, ohne soziale Absicherung sicherzustellen. Denn in Frankreich haben von den 400.000 Menschen, die Anspruch auf Palliativversorgung haben, nur 50% Zugang dazu.
Neues Gesetz zur Palliative Care ist „illusorisch und irreführend“
Am 27. Mai soll auch über ein neues Gesetz zur Palliativ Care (Gesetzentwurf Nr. 1102) abgestimmt werden. Der Ökonom befindet die geplante Finanzierung angesichts des erwarteten Bedarfsanstiegs für unzureichend, und schätzt daher das politische Versprechen einer garantierten Palliativpflege als „illusorisch und irreführend“ ein. „Sollte nicht zuerst das solidarische Sozialschutzsystem gesichert werden, bevor ein neues Recht auf Sterbehilfe geschaffen wird?“ so Bizard (The Conversation, 02.04.2025).
Will man durch Euthanasie Geld sparen?
Die ökonomischen Motive hinter Gesetzesinitiativen und individuellen Entscheidungen bleiben im Diskurs weitgehend unbeachtet. Das französische Ethik-Institut Gènéthique wirft in der Debatte "die wirtschaftliche Frage auf, die niemand stellt": Besteht die Gefahr, dass Sterbehilfe aus Kostengründen zur Entlastung des Gesundheitssystems akzeptiert wird? (Gènéthique, 03.04.2025)
Diese Befürchtung wird durch Erfahrungen aus anderen Ländern genährt. Bereits 2017 errechneten kanadische Gesundheitsökonomen das Einsparpotenzial im Gesundheitssystem durch die Legalisierung der Tötung auf Verlangen. (Bioethik aktuell, 6.2.2017). Sozial Benachteiligte beantragen überproportional häufig „Sterbehilfe“. Eine kanadische Studie dokumentiert, dass 58% der Betroffenen aus einkommensschwachen Schichten stammen (Journal of Palliative Care, 2021).Schon 1998 hatten US-Wissenschaftler ein nationales „Einsparungspotenzial“ für das amerikanische Gesundheitssystem in der Höhe von jährlich 627 Millionen Dollar errechnet, sollte "Sterbehilfe" bei Terminalkranken legalisiert werden (vgl. NEJM 1998; 339(3): 167-172).
Fachliche Expertise wird nur einseitig eingebunden
Kritiker befürchten, dass in Systemen mit unzureichender Palliativversorgung der Anreiz für ärmere Bürger erhöht sein könnte, den Tod auf Wunsch als vermeintlichen Ausweg aus Krankheit und Leid zu wählen. Besonders problematisch erscheint in diesem Zusammenhang die selektive Einbindung von Expertise. Die parlamentarische Behandlung umfasst einen Text zur Legalisierung von „Sterbehilfe“ und einen zur Verbesserung der Palliativpflege. Es wird jedoch nur letzterer mit relevanten medizinischen Fachgesellschaften diskutiert. Die gleiche Expertise wird in der Debatte zur aktiven Sterbehilfe nicht eingebunden. Stattdessen wiederholen sich die Anhörungen von Befürwortern der Legalisierung.
Gewissensfreiheit ist nicht für alle involvierten Berufsgruppen abgesichert
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Gewissensfreiheit für beteiligte Berufsgruppen. Der aktuelle Gesetzentwurf sieht eine Gewissensklausel für Ärzte und Pflegepersonal vor, ignoriert jedoch die Rolle der Apotheker. Der französische Apothekerverband (FSPF) äußert diesbezüglich große Besorgnis und fordert ausdrücklich, das Recht auf Gewissensverweigerung auch für ihre Berufsgruppe gesetzlich zu verankern. Andernfalls könne für Apotheker eine ethisch unzumutbare Handlung, die bisher als strafbar galt, zur beruflichen Pflicht werden. (Gènéthique, 08.04.2025)
Großbritanniens „Terminally Ill Adults Bill“: Ähnliche Kontroversen
In Großbritannien verläuft die Debatte ähnlich kontrovers. Hier wird die „Terminally Ill Adults (End of Life) Bill“ im Parlament beraten, die Beihilfe zum Suizid legalisieren soll. (Bioethik aktuell, 19.11.2024) Nach der Zustimmung in zweiter Lesung im November 2024 befindet sich der Gesetzentwurf in der Ausschussphase. Die finale Abstimmung ist für den 16. Mai 2025 geplant.
Umstrittene Besetzung des Parlamentskomitees
Die Zusammensetzung des vom Labour-Premierminister Kim Leadbeater berufenen parlamentarischen Komitees steht unter massiver Kritik. Nach Recherchen von Right to Life UK wurden gezielt Abgeordnete ausgewählt, die den Gesetzentwurf unterstützen, während kritische Stimmen systematisch ausgeschlossen wurden, , berichtet Right to Life UK (Right to Life, 22.01.2025).
Fehlende medizinische Gegenstimmen
Besonders auffällig: Sämtliche medizinisch qualifizierten Mitglieder des Komitees zählen nachweislich zu den Befürwortern der Gesetzesinitiative. Gleichzeitig wurden ausgewiesene Fachleute wie Ben Spencer, ein anerkannter Experte für Entscheidungsfähigkeit, und Rachael Maskell, Leiterin der überparteilichen Parlamentsgruppen „Ageing and Older People“ und „Dying Well“, trotz ausdrücklichen Interesses und einschlägiger Fachkenntnis nicht berücksichtigt.
„Offensichtlich einseitige“ Auswahl wird kritisiert
Catherine Robinson, Sprecherin für Right to Life UK, kritisiert: „Die Auswahl der Abgeordneten zur Prüfung des Gesetzentwurfs ist nicht einmal subtil unausgewogen – sie ist offensichtlich einseitig.“ Dahinter stehe eine klare Strategie, eine kritische Auseinandersetzung mit den Risiken des Gesetzes für vulnerable Menschen zu vermeiden.
Schutzmaßnahmen für Vulnerable werden abgelehnt
Die Konsequenzen dieser einseitigen Besetzung zeigen sich bereits in den ersten Entscheidungen des Komitees: Fast alle vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen für besonders gefährdete Gruppen wurden mehrheitlich abgelehnt. Der britische Journalist Dan Hitchens dokumentierte, dass Anträge zum Schutz von Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen oder kognitiven Einschränkungen konsequent überstimmt wurden ((X, Hitchens, 06.03.2025).
Fehlende Sicherheitsstandards im britischen Gesetzesentwurf
Auch Vorschläge für strengere Dokumentationspflichten, verpflichtende medizinische Zweitmeinungen oder angemessene Wartezeiten nach einer terminalen Diagnose fanden keine Mehrheit. Dies verschärft die Sorge von Kritikern, dass der Gesetzentwurf ohne ausreichende Schutzmaßnahmen in Kraft treten könnte.
Entscheidende Monate für die "Sterbehilfe"-Gesetzgebung in Europa
Die kommenden Wochen werden zeigen, ob die kritischen Stimmen aus Medizin, Pflege und Ethik in den Gesetzgebungsprozessen in Frankreich und Großbritannien Gehör finden. Zentrale Fragen zur Palliativversorgung, zum Schutz vulnerabler Gruppen und zu möglichen wirtschaftlichen Interessen bleiben weitgehend unbeantwortet. In beiden Ländern stehen die endgültigen Abstimmungen unmittelbar bevor – im Mai 2025 werden die Parlamente in Paris und London über Gesetzesvorlagen entscheiden.