Klar, rational, sachlich, frei gewählt und selbstbestimmt: Das ist das Bild des assistierten Suizids, das die Mainstream-Debatte rund um die Legalisierung des assistierten Suizids beherrscht. Eine Gruppe von schweizerischen, österreichischen und deutschen Psychiatern, Psychologen und Psychotherapeuten hinterfragt nun kritisch diese postulierte freie Verantwortlichkeit.
In dem im Psychosozial-Verlag erschienenen Sonderdruck Assistierter Suizid und Autonomie – ein Widerspruch? (psychosozial 45. Jg. (2022) Heft III (Nr. 169) gehen die Experten der Frage nach, was Autonomie im Kontext einer Lebenskrise und beim assistierten Suizid bedeutet. Sie kommen zu dem Schluss, dass „das Zulassen des assistierten Suizids auf einem Konstrukt von Autonomie basiert, das den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu suizidalen Krisen nicht standhält“. Co-Autoren sind u.a. Thomas Kapitany (Österreichische Gesellschaft für Suizidprävention), Christa Rados (LKH Villach), Thomas Niederkronthaler (MedUni Wien) und Ute Lewitzka (Universitätsklinikum Carl Gustav Carus/Dresden) und Raimund Klesse (Chur).
Autonomie ist nicht isoliert, sondern relational
Der Haupteinwand gegen die Autonomie als Letztbegründung eines Suizids sei die unzutreffende Vorstellung von einer alleinigen autonomen Entscheidung. Es werde dabei vernachlässigt, dass sich „Autonomie nur in Bezug auf und mit Hilfe anderer Menschen realisieren lasst“.
Die Forscher weisen darauf hin, dass der Rechtsbegriff der Autonomie, wie er sich in Entscheidungen in Medizin und Recht wiederfindet (BVerfG, 2020; VfGH, 2020), die Tatsache verdrängt, dass der Einzelne ohne die Gemeinschaft überhaupt nicht sein kann. „Die Autonomie des Individuums ist stets eine relationale und relative, um die lebenslang gerungen und die nie vollständig erreicht wird.“ Suizid und suizidale Krise sind in zwischenmenschliche Bezüge eingebettet, die das Geschehen demnach mitbestimmen.
Sie lehnen zudem den Begriff des Bilanzsuizids ab. Dass eine Selbsttötung eine bloß rationale Entscheidung nach Abwägung der negativen Lebensumstände - etwa bei älteren Menschen - sein kann, sei ebenfalls ein Konstrukt. Durch den Begriff Bilanzsuizid werden die tieferliegenden Gründe wie Angst, zur Last fallen, Einsamkeit u.a. nicht aufgedeckt. Außerdem werde in einer Krise vor einem Suizid nicht bloß mit rationalen nachvollziehbaren und bewussten, sondern auch mit unbewussten Motiven agiert. Der Freispruch eines Exit-Arztes am 9. Dezember 2021 vor dem Schweizer Bundesgericht bleibe daher unverständlich. Einer gesunden alten Frau wurde Pentobarbital verschrieben, der „Bilanzsuizid“ wurde als Begründung akzeptiert.
Die Macht des Unbewussten und die Lebensgeschichte beeinflussen
Die Autoren kritisieren Sterbehilfeorganisationen wie auch die Gesetzgebung zum sog. „selbstbestimmten Sterben“ in den Niederlanden, Belgien und anderen Staaten. Wo von rein rationalen Entscheidungen gesprochen wird, ignoriere man die längst aus der Tiefenpsychologie bekannte Bedeutung des Unbewussten, „jenem entscheidenden Teil der Conditio humana“. Beispiele erläutern, dass die Psychodynamik der Suizidalität wesentlich von der Lebensgeschichte des Betroffenen, seinen Verlusten, Kränkungen und Scham und „damit verbundener unbewusster Dynamik sowie der ebenso unbewussten Sehnsucht nach einem Zustand von Ruhe und Frieden charakterisiert ist.“
In suizidalen Krisen werde das seelische Gleichgewicht entweder aus eigener Kraft oder durch die Unterstützung von Mitmenschen wiedererlangt. Krisen können sich aber auch zuspitzen, wenn jemand in seiner Persönlichkeitsentwicklung schwierigen Situationen ausgewichen ist: aus Angst vor einem Versagen oder der Vorstellung, alles perfekt im Griff haben zu müssen Auch das Gefühl, dass das Nichtkönnen oder Etwas-lernen-Müssen Schwäche bedeutet.
Suizidwünsche sind ambivalent und Ausdruck einer akuten Notlage
Anhand von Fallbeispielen zeigen die Autoren, wie Menschen in einer Belastungssituation suizidal werden können – mit verstehbaren Gefühlen und Befürchtungen in ihrer Lebensgeschichte. Als Diagnose wird hier der Begriff „präsuizidales Syndrom“ genutzt. Diskutiert werden auch Fälle von älteren Frauen, die zu den für den assistierten Suizid gefährdetsten Bevölkerungsgruppe gehören.
Die Autoren gehen auch auf Therapiemöglichkeiten bei suizidalen Entwicklungen ein, deren Hauptsymptome oft einer schweren Depression entsprechen, die - wie im Fall älterer Menschen - zu selten behandelt werden. Studien zeigen, dass Suizidwünsche aus einer Notlage entstehen und ambivalent sind. Bei einer Veränderung der Situation erstarkt in den allermeisten Fällen der Lebenswille wieder. So würden nach einem „missglückten“ Suizidversuch zwar etwa 30% einen weiteren Suizidversuch unternehmen, aber nur ca. 5–10% durch Suizid sterben. Bei einer Beihilfe zur Selbsttötung kommt es zu einer Einengung, Suizidprävention wird boykottiert: Hier stimmen Dritte dem Selbsttötungswunsch zu, stellen das Tötungsmittel zur Verfügung und erleichtern noch dazu dessen Zuführung. Das widerspreche völlig der Suizidforschung, die übereinstimmend zeigt, dass die Verfügbarkeit des Suizidmittels der Hauptrisikofaktor des Suizids ist, betonen die Autoren.
Gesellschaftliche und faktenbasierte Neubesinnung ist nötig
"Die Umsetzung von Suizidwünschen zu ermöglichen, anstatt mitzuhelfen, das Leben als Grundlage freier Entscheidungen zu erhalten, ist wissenschaftlich nicht begründbar und ethisch unhaltbar", folgern die Suizidforscher. Sie fordern, dass die Forschungsergebnisse zur Suizidprävention sowie zu assistiertem Suizid und Autonomie von Rechtsprechung, Politik, Ethik und Medien vermehrt beachtet und bekannt gemacht werden. „Eine entsprechende gesellschaftliche Neubesinnung ist dringend notwendig.“