Befürworter der Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen (EAS = Euthanasia and Assisted Suicide) vertreten die These, dass eine Legalisierung der „Sterbehilfe“ dazu führe, „harte“ Suizide zu verhindern. Gespräche und Beratung könnten Lebensjahre retten, indem verfrühte nicht-assistierte Suizide vermieden werden, so das Narrativ. Begründet wird dies damit, dass Betroffenen durch persönliche Gespräche die Gewissheit bekämen, im Notfall einen "Ausweg" (Beihilfe zur Selbsttötung) zu haben, was "suizidpräventiv" wirke. Die beiden Schweizer Sterbehilfe-Unternehmen Exit und Dignitas etwa werben damit, dass ihr Angebot „suizidpräventiv“ wirkt. Auch in der österreichischen Debatte zur Legalisierung der Beihilfe zum Suizid wurde diese These wiederholt (vgl. Wiener Zeitung, online 12.12.2020).
Eine aktuell im Journal of Ethics in Mental Health (2022: 11, 1-35, Publication Date: February 7, 2022) publizierte Studie weist in eine andere Richtung: Die These, wonach Menschen statt „harten“ Suiziden nun „weiche“, begleitete Suizide wählen, hält den Fakten nicht stand. So stieg in jenen Ländern, die EAS legalisierten, die Gesamt-Suizidrate im Vergleich zu den Nachbarländern mit restriktiveren Gesetzen an. Insbesondere Frauen sind aufgrund der Selbsttötungsangebote gefährdeter, sich frühzeitig das Leben zu nehmen, sagt Studienautor David A. Jones, Bioethiker an der St Mary's University (UK).
Jones zog für seine Analyse OECD-Suizid-Daten von 1990-2017 sowie Länderstatistiken aus vier EAS-Ländern heran: Schweiz (nur AS), Luxemburg (2009), Niederlande (2001) und Belgien (2009). Er verglich sie mit den Entwicklungen des Suizids in den jeweiligen Nachbarstaaten Österreich und Frankreich und Deutschland, in denen restriktivere Gesetze bzw. Verbote gelten.
„Die Daten aus der Schweiz, Luxemburg den Niederlanden und Belgien zeigen signifikant ein dramatischeres Muster für Frauen", schreibt Jones. Alleine in der Schweiz hat sich die Suizidrate bei Frauen (mit Hauptwohnsitz Schweiz) zwischen 1998 und 2017 verdoppelt (von 9.4 auf 18.6). Der Anstieg ist auf die assistieren Suizide zurückführen, da die Zahl der „harten“ Suizide bei Frauen sich dabei kaum verändert hat. Sie entsprach in etwa dem Niveau des benachbarten Österreich.
Insgesamt lag die Suizidrate inkl. assistierter Suizide 2017 in der Schweiz bei 22.2/100.000 EW, zwischen 2010 und 2018 hat sich die Zahl der assistieren Suizide bei Schweizern verdreifacht (vgl. Bioethik aktuell, 17.12.2020).
In Luxemburg kam es mit der Legalisierung von EAS 2009 zu einem signifikanten Anstieg der Suizide/Wunsch auf Tötung bei Frauen, während die Suizidzahlen im selben Zeitraum im benachbarten Frankreich signifikant sanken und in Deutschland kaum anstiegen. Überhaupt ging die Suizidrate bei Frauen in praktisch allen OECD-Staaten dank Präventionsmaßnahmen zurück. Einzig Belgien hatte im Jahr 2016 die höchste Rate an nicht-assistierten Suiziden bei Frauen aller EU-Länder, einschließlich der ehemaligen kommunistischen Länder.
Bereits 2017 hatten Experten einen geschlechtsspezifischen Ansatz in der Sterbehilfe-Debatte eingefordert (vgl. Bioethik aktuell, 13.11.2017). Frauen überleben häufiger ihre Partner, leben länger alleine und leiden unter Einsamkeit oder der Sorge, anderen zur Last zur fallen. Außerdem sind Frauen häufiger von Altersarmut und Depression betroffen.
Bioethiker Jones räumt ein, dass in Einzelfällen Menschen die Möglichkeit von EAS als psychologische Erleichterung empfinden können. Dies könne aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die verfügbaren und gesetzlich gebilligten Optionen der Unterstützung zum Suizid und Töten auf Wunsch (EAS) neue Anreize für Suizide setzen – mit gesamtgesellschaftlichen Folgen. Zu meinen, man könne Suizidbeihilfe anbieten und dadurch gleichzeitig wirksame Suizidprävention betreiben, entpuppt sich angesichts der Faktenlage als Illusion.