Im April 2001 legalisierte die Niederlande als weltweit erste Land "Euthanasie", wie es dort heißt, ein Jahr später trat das Gestz in Kraft. Bereits 1993 wurde ein Meldeverfahren für Fälle von Tötung auf Verlangen verpflichtend eingeführt. Knapp 25 Jahre später hat die Zahl der offiziell gemeldeten Sterbehilfe-Fälle einen neuen Höchststand erreicht: Laut dem Euthanasie-Report starben 2016 6.091 Menschen durch Tötung auf Verlangen: 17 pro Tag und rund 2.000 Personen mehr als 2012 (4.188 Personen). 75 Prozent aller Fälle von Tötung-auf-Verlangen betreffen Menschen im Alter zwischen 60 und 90 Jahren. Dazu kommen weitere rund 1.700 Todesfälle, in denen Medikamente zumindest teilweise mit Tötungsabsicht gegeben wurden. Insbesondere bekommen die sog. Lebensende-Kliniken immer mehr Zulauf: Sie bieten jenen Patienten Sterbehilfe an, deren eigene Ärzte diese abgelehnt hatten. 2016 fanden in diesen Kliniken 75 Prozent der Euthanasiefälle von Patienten mit psychischen Erkrankungen statt (vgl. Bioethik aktuell, 19.7.2017).
„Ärzte, Ethiker und Politiker melden zunehmend Zweifel am eigenen Euthanasie-System an“, sagt Bioethikerin Susanne Kummer. Gleichzeitig ist aktive Sterbehilfe zu einer normalen Option mutiert, aus dem Leben zu gehen. Freiwillig - oder eben auch nicht so freiwillig, wie an der immer höheren Zahl von Euthanasie-Fällen bei Menschen mit Demenz kritisiert wird. „Zuerst wird suggeriert, dass die Entscheidung zum Suizid ein geglückter Testfall von Autonomie ist. Und dann kippt das System stillschweigend in eine neue Form von Paternalismus, ja eklatante Fremdbestimmung“, kritisiert die IMABE-Geschäftsführerin. „Dann nämlich, wenn Menschen auch ohne freie Willensäußerung getötet werden.“ Laut offizieller Statistik geschah dies in 431 Fällen (vgl. Zentrales Statistikbüro, online, 24.5.2017).
Aus Protest gegen die hohe Zahl von Demenzpatienten, die in den Niederlanden durch aktive Sterbehilfe zu Tode kommen, ist eine für die Kontrolle dieser Methode zuständige Medizinethikerin nun zurückgetreten (vgl. Augsburger Allgemeine, online, 31.1.2018). Berna van Baarsen löste damit eine breite Debatte aus. Sie könne den „deutlichen Wandel“ in der Auslegung der Sterbehilfe-Gesetze hin zu tödlichen Injektionen für Menschen mit Altersdemenz nicht mittragen, begründete sie ihren Schritt (vgl. Medisch Contact, online, 10.1.2018). Die Zahl der jährlichen Tötungen in dieser Patientengruppe habe sich in den vergangenen fünf Jahren vervierfacht.
Van Baarsen gehörte 10 Jahre einem regionalen Kontrollkomitee an. Sie ist nicht das einzige Mitglied eines Euthanasieprüfungsausschusses, das wegen der Auslegung des Gesetzes zurücktritt. Vor drei Jahren trat auch der Ethiker Theo Boer zurück und wurde zu einem harten Kritiker des niederländischen Euthanasie-Systems. Die Niederländische Vereinigung für ein Freiwilliges Lebensende (NVVE), die seit den 1970er Jahren eine liberale Euthanasie-Gesetzesregelung zum Ziel ihrer Arbeit machte, zeigt sich besorgt darüber, dass sich Ärzte zunehmend weigern, die Todesspritze zu setzen.
„Welcher Kulturwandel passiert, wenn der Staat Tötungswünsche nur noch regelt, statt seiner Schutzpflicht für Menschen in vulnerablen Situationen wie Krankheit, Alter oder sozialer Isolation nachzukommen, lässt sich in den Niederlanden auf erschreckende Weise beobachten“, betont Kummer. „Töten ist niemals eine Therapie, Töten heißt Versagen.“
Für die Ethikerin zählt das „Sterben Lassen“-Können, das Ernstnehmen von Wünschen am Lebensende und Fragen der Therapiezieländerung (vom kurativen hin zum palliativen Ansatz) zu den Schlüsselkompetenzen von Ärzten und Pflegenden, die sie in ihre Profession einbringen müssen.