In den Niederlanden ist die Tötung von schwer dementen Patienten zulässig, sofern sie zuvor eine entsprechende Patientenverfügung formuliert haben – auch gegen deren späteren Willen. Das hat der Oberste Gerichtshof der Niederlande entschieden, berichtet die FAZ (online, 21.4. 2020). „Das Urteil in den Niederlanden macht erschreckend deutlich, welcher Kulturwandel passiert, wenn der Staat Tötungswünsche nur noch regelt, statt seiner Schutzpflicht für Menschen in vulnerablen Situationen wie Krankheit, Alter oder sozialer Isolation nachzukommen“, sagt die Wiener Bioethikerin Susanne Kummer.
Im vorliegenden Fall hatten die Angehörigen einer Demenzerkrankten erklärt, wann der Zeitpunkt für ihre Tötung gekommen sei, obwohl die Patientin noch Lebenswillen bekundete. „Autonomie in der sog. ‚Sterbehilfe‘ ist nur die halbe Wahrheit. Man pocht auf Selbstbestimmung, doch diese kippt stillschweigend in eine neue Form von Paternalismus, ja in eklatante Fremdbestimmung um. Das sind Machtstrukturen, die klar benannt werden müssen.“
In den Niederlanden steigt die Zahl der Fälle von Tötung auf Verlangen bei psychiatrischer Krankheit oder Demenz weiter an: 2009 gab es 12 Fälle bei Demenzkranken, im Jahr 2017 waren es bereits 189 Fälle, bei chronischen psychiatrischen Patienten stieg die Zahl von 0 auf 83. 2018 hatten 144 Menschen schon bei beginnender Demenz den Antrag auf Tötung gestellt, insgesamt wurden 6.126 Menschen auf eigenen Wunsch getötet. Das sind 17 Personen pro Tag.
Diese Entwicklung ist in den Niederlanden auf Kritik gestoßen: 2017 hatten bereits mehr als 200 niederländische Ärzte öffentlich gegen „Euthanasie“ bei fortgeschrittener Demenz protestiert. Aus Protest gegen die steigende Zahl von Demenzpatienten, die inzwischen durch aktive Sterbehilfe zu Tode kommen, sind auch mehrere prominente Medizinethiker des „Euthanasieprüfungsausschusses“ zurückgetreten (vgl. S. Kummer, Niederlande: Proteste gegen die immer laxer gehandhabten Euthanasie-Regeln mehren sich, in: Imago Hominis (2018); 25(2): 082-085).
Anlass für den aktuellen höchstrichterlichen Spruch war das Verfahren um den Fall einer 74-jährigen Frau, die 2012 schriftlich erklärt hatte, dass sie im Fall unerträglichen Leidens sterben wolle, „wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist“. Kurz darauf erkrankte sie schwer an Alzheimer. Sie äußerte mehrmals den Wunsch zu sterben, erklärte aber, der richtige Zeitpunkt sei noch nicht gekommen. Nach der Einschätzung zweier Ärzte, dass die Voraussetzungen für eine „aktive Sterbehilfe“ erfüllt seien, beschloss die Familie der Frau, dass diese getötet werden solle. Diese hatte sich zu ihrem Tötungswunsch jedoch zuletzt wirr und widersprüchlich geäußert. Ohne ihr Wissen verabreichte eine Ärztin ihr ein tödliches Medikament, zuvor hatte sie ihr ein Beruhigungsmittel in den Kaffee gemischt. Die Patientin wachte auf und wehrte sich, wurde von ihren Angehörigen aber festgehalten, bis sie starb.
Die Staatsanwaltschaft hatte der Ärztin Mord vorgeworfen und verwies unter anderem auf das fehlende abermalige Gespräch mit der Patientin. Ein Gericht in Den Haag sprach die Ärztin jedoch frei. Ein weiteres Gespräch sei unnötig gewesen, weil die Patientin sich nicht mehr kohärent habe äußern können. Es hätte ihre Unruhe noch verstärkt. Insgesamt habe die Ärztin die Sterbehilfe „so angenehm wie möglich“ durchgeführt. Alle Sorgfaltspflichten, die das Gesetz vorschreibt, seien eingehalten worden (vgl. Süddeutsche Zeitung, online, 21.4.2020). Eine Patientenverfügung, auch wenn sie mehrere Jahre zurückliegt, reicht demnach als Grundlage für „Tötung auf Verlangen“ bei demenzkranke Patienten aus. Dieses Urteil wurde nun durch die höchstrichterliche Entscheidung bestätigt. Es war der erste Strafprozess zur aktiven Sterbehilfe nach deren Legalisierung in den Niederlanden 2002.